Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KULTUR/1058: Corona-Pandemie - Prognosen zweifelhaft ... (SB)



Die täglich erneuerte Zahl der insgesamt in der Bundesrepublik mit COVID-19 Infizierten und an der Viruserkrankung Gestorbenen begleitet die in Quarantäne lebende Bevölkerung inzwischen wie der Wetterbericht. An die Stelle der Frage, ob man den geplanten Ausflug noch durchführen oder lieber zu Hause bleiben wollte, schießen Mutmaßungen über den Status der Pandemie und ihrer schwerwiegenden Auswirkungen auf das Arbeits- wie Privatleben ins Kraut. Die Daten des Robert-Koch-Institutes bilden die Grundlage für politische Entscheidungen, die umstrittener nicht sein könnten, weil sich zwischen dem quantitativen Seuchenparameter und der individuellen Lebenswirklichkeit Welten subjektiver Deutung und interessengeleiteter Forderungen auftun.

Schon die Qualität der Daten wird in Frage gestellt, weil ihre Erwirtschaftung auf empirisch lückenhaften und methodisch widersprüchlichen Grundlagen erfolgt. So liegt die Zahl der Infizierten aufgrund der spezifischen Eigenschaft des SARS-CoV-2-Erregers, schon im vorsymptomatischen Stadium übertragbar zu sein, weitgehend im Dunkeln. Wo, wie in den Niederlanden, versucht wurde, die Zahl tatsächlich Infizierter anhand einer repräsentativen Erhebung näherungsweise zu ermitteln, läßt das Ergebnis die Case-Fatality-Rate sinken, weil die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur damit weit größer gewordenen Menge der häufig asymptomatisch bleibenden Infizieren nicht mehr so sehr ins Gewicht fällt wie zuvor. Andererseits wecken Berichte aus mehreren Ländern, laut denen viele der zu Hause an COVID-19 gestorbenen Menschen gar nicht in den amtlichen Statistiken zur Zahl der Opfer der Pandemie auftauchen, den Verdacht, daß die Case-Fatality-Rate doch höher als angegeben sein könnte.

Der Versuch der Bundesregierung, den nun nicht mehr anhand der Tage, innerhalb derer sich die Menge der Infizierten verdoppelt, sondern der Reproduktionsrate, mit der bemessen wird, wie viele weitere Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt, eruierten Verlauf der Pandemie daraufhin zu evaluieren, inwiefern Quarantänemaßnahmen wieder aufgehoben werden können, steht auf wissenschaftlich wackligen Füßen. Auch zur Pathologie von COVID-19 gibt es neben gesicherten Erkenntnisse zahlreiche Mutmaßungen, die sich auf Fälle stützen, bei denen es zu von der Regel des Befalls der Atemorgane abweichenden Symptomenkomplexen wie gastrointestinale oder neurologische Krankheitssymptome, Multiorganversagen oder andere atypische Verlaufsformen gekommen ist.

Fast jeden Tag machen neue Erkenntnisse die Runde durch Fachpublikationen und Medien, das gilt auch für Notfallmaßnahmen wie die invasive Beatmung. Während einige ÄrztInnen ein Anwachsen der Chance befürchten, daß intubierte PatientInnen die Intensivstation nicht mehr lebendig verlassen, bekräftigen andere die Unabdinglichkeit dieser intensivmedizinischen Rettungsmaßnahme. Gleiches gilt für präventive Mittel wie das Tragen einer Atemschutzmaske, die Gabe bestimmter Vitamine oder das Befolgen besonderer diätetischer Richtlinien. Kurz gesagt, die Verwirrung ist groß und nimmt nicht etwa ab, sondern steigt mit der Zunahme gemachter und zum Teil widersprüchlicher Erkenntnisse weiter an.

Was sich angesichts der über drei Monate währenden Berichterstattung über den neuen Coronavirus, die offizielle Erklärung des Vorliegens einer Pandemie durch die WHO am 11. März und die seitdem erfolgte Ausbreitung über alle Kontinente herauskristallisiert, ist, daß die anfangs häufig zu vernehmenden Vergleiche zur alljährlich auftretenden Influenza mehr als leichtfertig waren. Auch diese birgt die Gefahr einer pandemischen Eskalation in sich und löst daher seit Jahren Warnungen aus, die in mehreren Ländern zu allerdings meist in der Schublade gelandeten staatlichen Notfallplänen für Pandemien geführt haben. SARS-CoV-2 weist jedoch so viele Eigenarten auf, die ihn sowohl vom ersten, 2002 und 2003 aufgetretenen SARS-CoV-Erreger und dem bis heute virulenten MERS-Erreger unterscheiden, daß das ganze Ausmaß vorhandenen Nichtwissens allen Anlaß zur Sorge gibt. Diese Leerstellen umfassend ausgeleuchtet hat zum Beispiel der Schweizer Mediziner Paul Robert Vogt, der über jahrelange Kontakte nach China verfügt und in Wuhan eine von vier Gastprofessuren im Land ausübt, in einem vielbeachteten Interview [1].

Den großen Wissenslücken zur Entstehung, Epidemiologie und Pathologie von SARS-CoV-2 wird der durch das tägliche Zahlenritual suggerierte Kontrollanspruch ebensowenig gerecht wie das Aufbieten eines vermeintlich alternativlosen ökonomischen Sachzwanges, laut dem unter allen Umständen wieder Normalität Einzug halten soll, um nicht den Niedergang des Standortes Deutschland zu riskieren. Das Abwägen zwischen Infektionsschutz und Akkumulationszwang bricht mit allen unterstellten Prinzipien der Humanität, wobei es wenig Unterschied macht, ob dies mit dem ethisch durchsichtig ummäntelten Primat eines als Konstante vorausgesetzten Mangels an medizinischer Versorgung [2] geschieht oder in aller Offenheit, wie anfangs im United Kingdom geschehen, das neoliberale Prinzip der "schöpferischen Zerstörung" in Form einer systematischen Durchseuchung der Bevölkerung geltend gemacht wird [3]. Die Definitionshoheit kapitalistischer Verwertungslogik ist für sich genommen nichts Neues, betrifft aber nun nicht mehr nur weit entfernt lebende Menschen im Globalen Süden oder das ignorierte Subproletariat in der EU, sondern auch die im globalen Vergleich materiell privilegierte Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung.

Diese wird in erster Linie mit der Verlautbarung adressiert, schon in kurzer Zeit könne das Leben weitergehen wie zuvor, nur daß einige Maßnahmen zur weiteren Verbreitung von COVID-19 beachtet werden müssen. Bemessen an der in den meisten Fällen noch nicht mit SARS-CoV-2 in Berührung gekommenen Bevölkerung befindet sich die Pandemie insgesamt im Frühstadium, und das Auftreten einer 2. Welle stürmisch ansteigender Infektionsraten ist nicht nur ein Schreckgespenst, mit dem die Fortdauer undemokratischer und entrechtender Maßnahmen begründet werden soll. So kann dem Kanzleramtschef und Mediziner Helge Braun kaum widersprochen werden, wenn er das geforderte Erreichen einer Herdenimmunität als völlige Überforderung des Gesundheitssystems kritisiert, müßten doch jeden Tag 73.000 Personen mit dem Coronavirus infiziert werden, um in 18 Monaten nur die Hälfte der Bundesbevölkerung zu immunisieren [4]. Wie sehr auch immer die Kritik der Bundeskanzlerin an den Ausstiegsszenarien der Quarantäne dem weitgehenden Versagen der Bundesregierung in der Frühphase der Coronapandemie [5] geschuldet sein mag, so wirkt sie doch rücksichtsvoller gegenüber vorerkrankten und älteren Menschen als das, was die FürsprecherInnen des Erreichens einer Herdenimmunität in Anspruch nehmen, wenn sie auf diese Weise das Leben Zehntausender gefährden.

Eine aus angemessener Sorge um das Leben und begründeter Kritik an der suggestiven Prognosesicherheit des herrschenden Krisenmanagements hervortretende Besinnung wäre auch deshalb zu begrüßen, weil sie die Möglichkeit des Nachdenkens über fundamentale Gesellschaftsveränderungen zumindest nicht aktiv negiert. Befeuert durch die einmal mehr im Namen der Krisenbewältigung anstehende Umverteilungsorgie von unten nach oben, mit der Merkels Wort von der "Öffnungsdiskussionsorgie" zutreffend dechiffriert ist, solidarisch mit den weltweit aufflammenden Streiks in Betrieben, in denen ArbeiterInnen unter akuter Ansteckungsgefahr die große Maschine am Laufen halten sollen, wie den Aufständen in den Gefängnissen und anderen Zwangsinstitutionen, deren Insassen der Pandemie auf beengtem Raum ausgesetzt sind, ist es an der Zeit, das verordnete Innehalten in produktive Streitbarkeit zu verwandeln.

Weniger aus der notgedrungenen Vermeidung künftiger Katastrophen als in Antizipation der Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung zum Entwurf einer ökosozialistischen Gesellschaft zu gelangen, in der das Leben vernichtender Verbrauch und tödliche soziale Ungleichheit beendet werden, ist ein zwar utopisches, der Wucht aktueller gesellschaftlicher Erschütterungen aber durchaus angemessenes Vorhaben. Die Überwindung der massiven sozialen Verwerfungen, die mit der Pandemie in den führenden Staaten des kapitalistischen Weltsystems seit dem letzten Weltkrieg nie gekannte Ausmaße erreichen werden, und die Verhinderung von Kriegen, die im Blitz atomarer Vernichtungsarsenale jedes Nachdenken über Klima- oder Pandemiekrise obsolet machen könnten, rücken das Errichten einer Welt, in der die aktive Bekämpfung jeder Form von Zwang, Gewalt und Herrschaft zum Leitmotiv wird, in die Reichweite möglicher Zukünfte.


Fußnoten:

[1] https://www.mittellaendische.ch/2020/04/07/covid-19-eine-zwischenbilanz-oder-eine-analyse-der-moral-der-medizinischen-fakten-sowie-der-aktuellen-und-zuk%C3%BCnftigen-politischen-entscheidungen/

[2] https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche.694.de.html?dram:article_id=474488

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1052.html

[4] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/sw/COVID-19?s=&p=1&n=1&nid=112102

[5] https://www.heise.de/tp/features/Corona-Die-unertraegliche-Inkompetenz-des-Jens-Spahn-4705173.html

21. April 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang