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KRIEG/1442: Rasmussen klärt auf ... Taliban sind keine Afghanen (SB)



Der Einsatz in Afghanistan sei unterschätzt worden, behauptet NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen unter Verweis auf die Zahl der getöteten Soldaten. "Nach neun Jahren internationalen Engagements ist es auf schmerzvolle Weise deutlich geworden, dass der Preis, den wir zahlen müssen, viel höher ist als erwartet", meint der ehemalige dänische Regierungschef gegenüber dem Hamburger Abendblatt (19.07.2020). Ihm geht es nicht darum, die Bilanz einer Fehleinschätzung zu ziehen und kritisch zu fragen, wie ein so großes und gutausgestattetes Militärbündnis derartig falsch in seiner Planung liegen kann. Aus den Fehlern der Vergangenheit, über deren Zustandekommen man vornehm schweigt, wird die Lektion gezogen, in Zukunft so weiterzumachen und dabei einen höheren Blutzoll einzukalkulieren. Schließlich heiligt der Zweck die Mittel, trügen die militärischen Aktionen der NATO doch "dazu bei, die Taliban sowohl politisch als auch militärisch zu schwächen".

Offensichtlich handelt es sich bei diesen nicht um Afghanen. Für Rasmussen wird die Kabuler Konferenz ein "Meilenstein sein in dem Prozess, durch den die Afghanen endlich Herr im eigenen Haus werden". Als die USA und ihre Coalition of the willing das Land eroberten, regierten die meist aus dem paschtunischen Teil der Bevölkerung stammenden Taliban über neun Zehntel des Territoriums Afghanistans. Ihr Sturz war in der Logik des NATO-Chefs die Vertreibung einer fremden Besatzungsmacht zur Etablierung der rechtmäßigen Herrrschaft einer Gruppe der Bevölkerung, die zufälligerweise mit den Eroberern verbündet ist.

Im Grunde genommen haben sich die Aggressoren und die NATO in einen komplizierten inneren Konflikt eingemischt, indem sie sich der ethnischen Minderheiten der Tadschiken, Usbeken und Hazaras bedienten, die als Nordallianz im Bürgerkrieg mit der Bevölkerungsmehrheit der Paschtunen stand. Letztere mögen eine orthodoxere Form des Islam und eine konservativere Moral als die Nordallianz vertreten, in ihren patriarchalischen Strukturen und undemokratischen Praktiken schenken sich die Konfliktparteien nichts. Unter der paschtunischen Landbevölkerung bevorzugen nicht wenige Menschen die Taliban, weil diese ihrer Ansicht nach mehr Rechtssicherheit gewähren, während die urbane Bevölkerung Kabuls schon deshalb die Regierung unterstützt, weil diese den Geldstrom der Besatzungsmächte garantiert.

Wem auch immer man aus westlicher Sicht den Vorzug geben möchte, es sind letztlich die strategischen Interessen westlicher Regierungen, die darüber entscheiden, auf welcher Seite die NATO in diesem Konflikt steht. So läßt Rasmussen durchblicken, daß die Übergabe von mehr Verantwortung an die Regierung in Kabul keineswegs bedeute, daß sie künftig über souveräne Handlungsgewalt verfügen wird. Die NATO müsse mit ihr "eine Übereinkunft über eine langfristige Zusammenarbeit treffen", damit das Land nicht noch einmal Terroristen Unterschlupf biete. Wer dabei das Sagen hat, darüber gibt der paternalistische Charakter dieser Bedingung hinreichend Auskunft.

Mit der Aussicht auf eine lediglich formelle Beendigung der Okkupation des Landes ist die weitere Anwesenheit von NATO-Truppen zur Sicherung der von den USA und der EU etablierten Herrschaftsstrukturen vorprogrammiert. Wieso ein Militärbündnis, das in seiner anfänglichen Analyse versagt hat und den in der heterogenen afghanischen Gesellschaft angesiedelten Konflikt nicht angemessen zu würdigen weiß, in Zukunft besser dazu geeignet sein soll, das Land zu befrieden, erklärt Rasmussen nicht. Das teilte zu viel über die strategischen Absichten der USA und EU mit.

19. Juli 2010