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KRIEG/1541: NATO-Schutzverantwortung selektiv - Wurde Muammar al Gaddafi gefoltert und geschändet? (SB)



Gerüchte über die Umstände, die zum Tod des libyschen Machthabers Muammar al Gaddafi führten, bestanden schon lange. Jetzt hat seine Tochter Aischa einen Anwalt eingeschaltet, der den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) aufforderte, die Todesumstände aufzuklären. Demnach sollen Gaddafi und sein Sohn Motassim auf grausame Weise umgebracht worden sein. Beklagt wird außerdem die Schändung und Zurschaustellung der Leichen.

Die Frage, wie Gaddafi ums Leben kam, ist insofern nicht nur für seine Familie wichtig, als daß sich daraus weitere Rückschlüsse auf die Motivation der Milizen ziehen lassen. Sollte Gaddafi tatsächlich gepfählt worden sein, wie es unter anderem der Publizist Peter Scholl-Latour kolportiert, dann paßte das zu Berichten von Menschenrechtsorganisationen, nach denen die von der NATO unterstützten ostlibyschen Warlords Jagd auf Schwarzafrikaner gemacht, im großen Umfang gefoltert, vergewaltigt und gemordet haben.

NATO und Warlords, das läßt sich nur zusammendenken, auch wenn die Propagandisten des westlichen Militärpakts nicht müde werden, etwas anderes zu behaupten. Nach aktuellem Stand der Erkenntnis haben NATO-Kampfjets den Konvoi Gaddafis beschossen und aufgehalten, woraufhin die Bengasi-Milizionäre den libyschen Machthaber gefangennahmen und töteten - Folter und/oder Schändung inklusive.

Die transatlantische Kriegsallianz erklärt, sie hätte gemäß UN-Resolution 1973 erfolgreich eine Flugverbotszone gesichert und die Zivilbevölkerung geschützt. Da aber im Zuge der Luftangriffe mehrere zehntausend Menschen ums Leben gekommen sind, muß die angebliche Bedrohung des Volkes durch die Gaddafi-Regierung kräftig überhöht werden. So wird der Eindruck zu erwecken versucht, es handele sich bei den vielen Toten um einen akzeptablen Preis für eine unverzichtbare Schutzverantwortung (responsibility to protect) gegenüber der Bevölkerung. Tatsächlich fanden die Luftangriffe der Gaddafi-Kampfjets auf friedliche Demonstranten, die ein zentrales Element für die Inanspruchnahme dieses Interventionsvorwands waren, nur in der Phantasie der Umstürzler, der NATO-Krieger und der kriegslüsternen Claquere in der westlichen Konzernpresse statt.

Der Libyenkrieg entlarvt das Konzept des humanitären Interventionismus als das, was dessen Opfer bis aufs Blut zu spüren bekommen: Es handelt sich um einen anderen Begriff für Angriffskrieg. Der unterscheidet sich nicht von anderen Angriffskriegen.

Es steht noch längst nicht fest, daß der IStGH die Ermittlungen in dem von dem Anwalt Nick Kaufman vorgebrachten Schreiben aufnimmt. Viele Versuche, beispielsweise Anklagen gegen prominente westliche Kriegspolitiker wie Tony Blair oder George W. Bush zu initiieren, werden vom IStGH und anderen Gerichten, an denen Weltrecht exerziert wird, abschlägig beschieden. Aber selbst wenn Ermittlungen aufgenommen werden sollten und eines Tages offiziell bestätigt würde, daß Gaddafi gefoltert oder geschändet wurde, würde das die Bellizisten, die ihn stürzen sehen wollten, nicht zur Einsicht in ihren Irrtum bringen. Wohl aber besäßen Kriegsgegner beim nächsten Mal, bei dem erneut über die Durchsetzung einer Flugverbotszone verhandelt wird, für ihre ablehnende Haltung ein weiteres Argument.

Sollte jemals hinter dem Konzept der Schutzverantwortung der Wunsch und die Absicht gestanden haben, die Schwachen vor den Starken zu schützen, so hat sich das Verhältnis heute ins Gegenteil verkehrt. Schutzverantwortung ist eine Waffe in der Hand des Stärkeren, ein Mittel, um seine hegemonialen Ambitionen durchzusetzen. Am konkreten Beispiel bedeutet das: Der schlagkräftigste Militärpakt der Welt und seine Verbündeten okkupieren Aufstandsbewegungen im arabischen Raum oder initiieren sie und haben, wenn sich die unaufhörlich unter Druck gesetzten Regierungen gewaltsam gegen die Angriffe zur Wehr setzen, einen Vorwand zum erzwungenen Regime Change geschaffen.

Gaddafi wurde gestürzt, weil er trotz seiner seit einigen Jahren durch die Beteiligung Libyens am Folterflugsystem der CIA und den Aufbau von Flüchtlingslagern in der Wüste verbesserten Beziehungen zu europäischen Regierungen eine relativ eigenständige Politik verfolgt hatte. Als maßgeblicher Initiator und Förderer der Afrikanischen Union (AU) bemühte er sich, die Optionen der afrikanischen Regierungen im Haifischbecken Weltmarkt zu verbessern und Alternativen zu den noch aus der Kolonialzeit stammenden Verbindungen nach Europa zu entwickeln. Zwar war es Gaddafi zu keiner Zeit gelungen, die Führungsposition in der AU einzunehmen, doch die Hunderte von Millionen Dollar, die er diversifiziert in afrikanische Entwicklungsprojekte gesteckt hat, zeigten tendenziell emanzipatorische Wirkung.

Die allgemeinen Lebensverhältnisse waren im Gaddafi-Libyen relativ gut. Nun ist das Land Spielball fremder Einflüsse. Die Gelder, die der Revolutionsführer für zukünftige Generationen im Ausland angelegt hat, wurden eingefroren und werden nur teilweise wieder freigegeben. Libyen, bzw. das, was von ihm übriggeblieben ist, tanzt nach der Pfeife anderer Mächte. Darüber hinaus zeichnen sich starke innere Verwerfungslinien ab. Eine ähnliche Balkanisierung erfährt seit einigen Jahren Libyens Nachbar Sudan, dessen erdölreicher Süden abgespalten wurde. In Ländern wie Tunesien, Ägypten und Syrien drohen oder herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. All diese Nationen werden geschwächt oder zerschlagen, was umgekehrt zur Profilierung stabilerer Regime, hinter denen mächtige Verbündete stehen, die an den Fäden ziehen, beiträgt.

15. Dezember 2011