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KRIEG/1586: Massakerlogik (SB)




Ein weiteres Massaker an einer US-Schule, wie bei ähnlichen Schießereien gelegen in einem wohlhabenden Vorort, begangen von einem jungen Mann mit weitgehend unauffälliger Biografie, vielleicht ein wenig zu unauffällig, wie nun räsoniert wird. Das nachträgliche Profiling füllt die Kommentare einer Medienwelt, deren Autoren als unfaßbar erscheint, daß weiße Mittelstandskids zu Greueltaten wie diesen fähig sind. Doch was mit dem Anschlag zweier Jugendlicher 1999 an der Columbine High School in Littleton, Colorado, nicht begann, aber in der Größenordnung der Opferzahl eine neue Dimension des Schreckens erreichte, ragt vor allem deshalb aus der Bilanz von rund 30.000 schußwaffenbedingten Toten in den USA jährlich hervor, weil die üblichen selbstevidenten Stigmatisierungen für Gewaltverbrechen - im Ghetto aufgewachsen, schwarz oder hispanisch, Vorstrafenregister im Bereich Gewaltkriminalität, alleinerziehende Mutter oder von anderen sozialen Defiziten in der Familiengeschichte betroffen - in diesen Fällen nicht angeführt werden kann.

Es ist den Tätern kaum anzulasten, daß sie in einer Gesellschaft leben, für die Gewalt insbesondere, wenn Schußwaffen daran beteiligt sind, ein Lebenselixier zu sein scheint. Im US-amerikanischen Kino Marke Hollywood Blockbuster sind großkalibrige Angriffswaffen nicht bloße Requisite einer zwischen Menschen erzählten Geschichte, sie sind handlungstragende Akteure, die in minutenlangen Feuergefechten die Bühne beherrschen und die beteiligten Schauspieler zur Staffage einer Dramatik deklassieren, die in den Geräuschen einschlagender Hochgeschwindigkeitsgeschosse einen aus sich selbst heraus generierten Unterhaltungswert schaffen. Perfektioniert in der Optik des Schützen sind Ego Shooter Games lediglich die konsequente Fortsetzung eines Kinos, das nicht nur mit Gewalt kokettiert, sondern HighTech-Waffen als Ausweis der industriellen Leistungsfähigkeit derjenigen Gesellschaften feiert, die sie hervorbringen.

Damit soll keine Kausalkette angelegt werden, die beim Verbot von Ego Shootern oder der Zensur militaristischer Unterhaltung endet, verläuft sich diese doch im Sand einer symptomatischen Befriedung, die dem Menschen im Kern abspricht, sich von Gewalt als Ausdruck selbstgewählten Scheiterns emanzipieren zu können. Die Frage ist vielmehr, wieso die Logik der Eskalation, die die National Rifle Alliance (NRA) mit dem Argument, alles wäre viel weniger gefährlich, wenn nur jeder eine Schußwaffe dabei hätte, lediglich auf die Spitze treibt, so gut verfängt, daß es noch kein US-Präsident gewagt hat, wirklich restriktive Waffengesetze durchzusetzen. Auch damit wird am Symptom auf einer allerdings durchaus wirksamen Ebene laboriert, doch verrät der politische Willen zur Bewaffnung mehr, als die Dominanz des Lobbyinteresses der NRA auf den ersten Blick preisgibt.

Zum einen kann eine militaristische Gesellschaft wie die der Vereinigten Staaten nicht darauf verzichten, ihre Bürger frühzeitig mit Schußwaffen vertraut zu machen, wenn sie auch in Zukunft der stärkste Gewaltakteur der Welt sein will. Zum andern basiert der Liberalismus der Waffenlobby auf dem ehernen Recht einer privaten Eigentumsordnung, die in "Stand Your Ground"-Gesetzen das Erschießen unbewaffneter Eindringlinge als legalen Akt der Selbstverteidigung würdigt. Zum Dritten ist die Logik der Stärke, die in der neoliberalen Marktwirtschaft zum Credo individueller Selbstverwirklichung erhoben wurde, nicht ohne die sozialdarwinistische Verachtung der Schwäche zu haben.

Je weniger menschliche Eigenschaften sozial verwertbar werden, die nicht den Kriterien materiellen Wohlstands, physischer Schönheit und Fitness genügen, desto mehr wird der sprichwörtliche Loser zur letzten Adresse, an der die nach Erfolg und Anerkennung strebenden Akteure des Rattenrennens ihren Müll abladen. Was derzeit als durch Mobbing bedingte Suizide mehrerer Schüler die Niederländer umtreibt, erhält im ultimativen Vernichtungsakt all dessen, an dem der Täter gescheitert ist, seine aggressive Variante. Doch sozialpsychologische Deutungen reichen nicht hin, wenn man einen gesellschaftlichen Konflikt in Betracht zieht, der in den USA selbst Millionen Menschen zu einem Leben in materiellem Elend und dementsprechender Ohnmacht verurteilt. Die von neoliberalen Ideologen propagierte kreative Zerstörung meint eben nicht nur das Einreißen verläßlicher Strukturen gesellschaftlicher Reproduktion, die sich beim Erwirtschaften der verlangten Profitrate nicht bewährt haben. Sie nimmt "Kollateralschäden" aller Art nicht nur in Kauf, sondern entwickelt sie systematisch zur Peitsche des Mangels, der konstitutiven Voraussetzung kostengünstiger Verwertung durch Arbeit.

Die Gun Culture hat als kulturelle Eigenart der Frontier-Ideologie US-amerikanischen Pioniergeistes längst ausgedient, sie ist das Attribut eines imperialistischen Lifestyles bedenkenlosen Verbrauchs und aggressiver Zerstörung, der nicht umsonst in der ganzen Welt Bewunderung hervorruft. Eine Kultur, die mit der Glorifizierung expansiven Unternehmertums das Risiko sozialer Katastrophen zur Bedingung erfolgreicher Konkurrenz erhebt, taucht selbst die Stunde der Trauer in den Glamour einer popkulturell gefärbten Emphase. Wenn anschließend der Ruf nach Rache ganze Bevölkerungen ins Elend stürzt, dann markiert das den zivilisatorischen Entwicklungsstand mit einem Primat der Stärke, der über alles geht. Niemand will sich jenseits humanitärer Bekenntnisse und einer Menschenrechtsrhetorik, die mit dem Laden der Bordgeschütze und dem Aufmunitionieren der Bomber Hand in Hand geht, wirklich mit Schwäche als einer menschlichen Position auseinandersetzen. Dabei kann der Machtfrage nicht ausgewichen werden, will man nicht selbst zum Betriebsstoff der großen Maschine werden.

Und so stehen Politiker, Honoratioren und Journalisten einmal mehr fassungslos vor einer Bluttat, die in der durch Hunger, Armut und Krieg erzeugten Not millionenfacher Alltag ist. Die lautstark beklagte Sinnlosigkeit dieser Gewalt findet im gerechten Krieg gegen angebliche Bösewichte, mit denen noch vor kurzem bestes Einvernehmen herrschte, in einem Ressourcenverbrauch, dem die vollen Tanks der Panzer wichtiger sind als die leeren Mägen der Armen, und der Ausbeutung zugunsten einer Kapitalakkumulation, die keinen Stein auf dem andern läßt, wenn seine Zertrümmerung noch irgendeine Investitionschance bietet, ihr sinnvolles Pendant. Die Tränen der Eltern, deren Kinder durch NATO-Bomben zerfetzt, im Mittelmeer bei der Flucht nach EU-Land elendiglich ertrunken, durch armutsbedingten Hunger an Auszehrung gestorben oder an vermeidbaren Krankheiten verreckt sind, bleiben stumm, weil sie niemand hören will.

Fußnoten:

KULTUR/0781: Columbine und folgende ... Faszinosum des Unbegreiflichen (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0781.html

KRIEG/1570: "Sinnlose Gewalt" ... Aufruf zu herrschender Ordnung (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1570.html

16. Dezember 2012