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KRIEG/1678: Abschiebung - deutsche Kriegsführung gegen Flüchtlinge (SB)



Afghanistan ist zweifelsfrei ein Kriegsgebiet und die Abschiebung asylsuchender Menschen dorthin demzufolge ein Akt deutscher Kriegsführung gegen Flüchtlinge. Die Bundesrepublik ist tonangebend in der vorgelagerten Flüchtlingsabwehr, in deren Rahmen die Regierungen anderer Länder gekauft, genötigt oder erpreßt werden, die Flucht nach Europa zu verhindern und aus Deutschland abgeschobene Flüchtlinge aufzunehmen. Auf Grundlage einer im Oktober geschlossenen Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik und Afghanistan wurde Mitte Dezember eine erste Sammelabschiebung durchgeführt, der nun eine zweite folgte. Dabei wurden 26 junge Männer von Frankfurt/Main nach Kabul geflogen, einer der Passagiere war krank und durfte vorerst den Rückflug antreten.

Begleitet und bewacht wurden die Afghanen von einem monströsen Überaufgebot, das die skrupellose Machtdemonstration der Maßnahme nur um so krasser illuminiert: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums waren "79 speziell für Rückführungen qualifizierte Polizeibeamten der Bundespolizei, ein Dolmetscher sowie Ärzte, drei Personen der Anti-Folter-Kommission und ein Frontexbeamter" an Bord. Bei der Ankunft der Chartermaschine warteten am Flughafen Vertreter der deutschen Botschaft, der afghanischen Polizei und mehrerer Ministerien. Vertreter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) boten den Ankömmlingen angeblich Unterkünfte sowie Transport zu ihrem Zielort an. [1]

Abgeschobene Flüchtlinge bekommen keine Unterstützung und haben oftmals nicht einmal die Möglichkeit, vor dem Flug Verwandte anzurufen. Mehrere der Afghanen sagten, sie seien am frühen Morgen festgenommen und zum Flughafen gebracht worden, wobei sie jeweils nur ein kleines Gepäckstück oder einen Rucksack mit ihren Habseligkeiten mitnehmen durften. [2] Wie schon beim ersten Abschiebeflug waren auch diesmal mehrere junge Männer betroffen, die in Deutschland teilweise jahrelang Arbeit gehabt hatten. Badam Haidari (31) hatte fast sechs Jahre in Würzburg Vollzeit gearbeitet, Arasch Alokosai (21) hatte in Nürnberg einen Ausbildungsvertrag als Karosseriebauer in der Tasche, seine Freundin sei im dritten Monat schwanger. Mehrere Passagiere riefen, daß sie sich bald wieder auf den Weg nach Deutschland machen würden.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière verteidigt die Aktion als richtig und notwendig, "um unser Asylsystem funktionsfähig zu halten". Wie er wider besseren Wissens behauptet, stehe "einer Intensivierung der Rückführung die allgemeine Bewertung der Sicherheitslage in Afghanistan nicht entgegen". Seit dem Anschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember stehe "die Abschiebepraxis in unserem Land insgesamt auf den Prüfstand". Rückführungsmaßnahmen müßten "in Zukunft deutlich konsequenter" durchgesetzt und fortgeführt werden. [3]

Diese absurde Bewertung der Situation in Afghanistan steht in eklatantem Widerspruch zur Einschätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), das im Dezember 2016 auf Anfrage des Bundesinnenministeriums betont hatte, daß sich die Sicherheitslage innerhalb der vergangenen Monate "noch einmal deutlich verschlechtert" habe. Das gesamte Staatsgebiet Afghanistans sei von einem "innerstaatlichen bewaffneten Konflikt" im Sinne des europäischen Flüchtlingsrechtes betroffen. Eine Unterscheidung zwischen "sicheren" und "unsicheren" Gebieten nahm das UNHCR aufgrund der sich ständig ändernden Lage nicht vor.

Pro Asyl bezeichnete die Abschiebung als Tabubruch: "Erstmals werden mit Billigung von christdemokratischen, sozialdemokratischen und grünen Landespolitikern Schutzsuchende in einer Sammelabschiebung in ein Kriegs- und Krisengebiet abgeschoben - wider alle Fakten, wider besseres Wissen." Dem Bundesinnenminister und den abschiebenden Bundesländern wirft die Organisation vor, die Lageeinschätzung des UNHCR zu ignorieren. Die "Etikettierung junger, alleinstehender Männer" oder "Straftäter" verurteilt Pro Asyl scharf. Damit solle eine Hemmschwelle gesenkt und mehr gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen werden. Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, sprach von einem "russischen Roulette auf dem Rücken der Flüchtlinge". Angesichts der dramatisch verschlechterten Situation in Afghanistan müßten Ablehnungen aus den Jahren 2015 und 2016 noch einmal überprüft werden, forderte er. [4]

Eine Sprecherin der Hilfsorganisation Afghan Refugee Movement kritisierte Abschiebungen nach Afghanistan als inakzeptabel, weil in dem Land Krieg herrsche. Diese Auffassung teilt auch Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt (SPD), der eine Rückkehr "in Sicherheit und Würde" für nicht gewährleistet erachtet. Die katholische und evangelische Kirche kritisieren die zweite Sammelabschiebung nach Afghanistan scharf. "Kein Mensch darf in eine Region zurückgeschickt werden, in der sein Leben durch Krieg und Gewalt bedroht ist", erklärten der Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Hamburgs Erzbischof Stefan Heße, sowie der Vorsitzende der Kammer für Migration und Integration der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Rekowski. Die Sicherheit müsse Vorrang gegenüber migrationspolitischen Erwägungen haben. Beide Kirchen akzeptierten, daß Menschen ohne Bleibeperspektive in ihre Heimat zurückgeführt würden. Abschiebungen in lebensgefährliche Gebiete seien jedoch inakzeptabel. [5]

Daß die Bundesregierung mit ihrer Flüchtlingspolitik keineswegs allein steht, dokumentiert eine gemeinsame Erklärung der Grünen aus zehn Landesregierungen. Sie haben sich darauf verständigt, Abschiebungen nach Afghanistan nicht zu blockieren, sondern mitzutragen. Dabei ziehen sie sich auf die Ausflucht zurück, daß die Einschätzung der Sicherheitslage allein der Bundesregierung obliege und die Länder verpflichtet seien, Rückführungen zu vollziehen. Diese Darstellung ist irreführend, da der Vollzug von Abschiebungen in die unmittelbare Kompetenz der Landesbehörden fällt, die Abschiebungen aus humanitären Gründen oder grundsätzlichen Sicherheitserwägungen stoppen können. Dennoch wollen die Länder-Grünen "freiwillige Ausreisen" forcieren. "Wo die freiwillige Ausreise scheitert, müssen jedoch auch zwangsweise Rückführungen per Abschiebung erfolgen", verlangen sie weiter. Gleichzeitig wolle man sich dafür einsetzen, "dass vorrangig Straftäter und Gefährder abgeschoben werden".

Dabei sind "freiwillige Ausreisen" lediglich eine besonders perfide Methode, Deportationen durchzusetzen, da den Flüchtlingen andernfalls angedroht wird, sie zwangsweise abzuschieben, ihnen die Kosten für die Deportation aufzubürden und sie mit einem Wiedereinreiseverbot zu belegen. Zudem kam eine Recherche von ProAsyl zu dem Schluß, daß es sich nur bei einem Bruchteil der vor einem Monat in Richtung Kabul Abgeschobenen um tatsächlich verurteilte Straftäter handelte. Von einer besonderen Einzelfallprüfung, auf die die Bundesländer und die Grünen regelmäßig verweisen, könne "angesichts der uns vorliegenden Fälle aus dem Dezember bisher jedenfalls keine Rede sein kann". Vielmehr sei die Mehrzahl der Abgeschobenen seit mehreren Jahren in Deutschland und auf dem Weg in eine Berufsausbildung oder in Arbeit gewesen und habe Familie gehabt.

Weit davon entfernt, sich für Menschenrechte und Flüchtlingsschutz einzusetzen, machen die Grünen den Weg für eine Abschiebepraxis frei, die das Leben Tausender Flüchtlinge akut bedroht. "Das ist ein verantwortungsvolles und tragfähiges Papier, auf das sich die große Mehrheit der Grünen in den Landesregierungen geeinigt hat", kommentiert Volker Ratzmann als Bevollmächtigter des Landes Baden-Württemberg die Übereinkunft. Um ihre Kollaboration zu kaschieren, wollen die Grünen Kosmetik betreiben. In ihrer Erklärung fordern sie das Bundesinnenministerium auf, "die unwürdige öffentliche Darstellung von 'Sammelabschiebungen'" zu unterlassen, weil dadurch "der falsche Eindruck von undifferenzierten Massenabschiebungen erweckt werden" könne.

Klartext redet der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, der von einer "guten Nachricht" spricht: "Ja zu Abschiebungen nach Afghanistan. Wir stehen für das Asylrecht. Nun sind letztes Jahr 100.000 Afghanen zu uns gekommen, die kein Asyl erhalten. Also müssen sie zurück. Sonst können wir die Menschen, die Asyl erhalten können, nicht aufnehmen." Die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan kommentiert er zynisch mit einem Verweis auf die USA, die auch nicht sicherer seien: "Dort sterben nicht weniger Menschen durch Waffengewalt." [6] Auf dem Marsch in die vielzitierte Mitte der Gesellschaft sind für eine Partei des gutsituierten Bürgertums elementarste humanitäre Grundsätze offenbar ein Ballast, den man leichterdings über Bord wirft.


Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/ausland/sammelabschiebung-nach-afghanistan-26-maenner-erreichen-kabul-25-bleiben_id_6540771.html

[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article161459054/Dutzende-Asylbewerber-abgeschoben-einer-kommt-zurueck.html

[3] http://www.dw.com/de/heim-in-die-fremde/a-37242331

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan-abschiebungen-101.html

[5] http://www.ndr.de/nachrichten/Drei-Afghanen-aus-Hamburg-abgeschoben,abschiebung728.html

[6] https://www.wsws.org/de/articles/2017/01/23/grue-j23.html

24. Januar 2017


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