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KRIEG/1687: Lügen haben kurze Beine - Wachsender Widerstand gegen die Abschiebung nach Afghanistan (SB)



Ist dieser Zynismus zu überbieten? Wie aus Kreisen der Bundesregierung verlautete, habe die deutsche Botschaft in Kabul eine wichtige logistische Rolle beim Empfang rückgeführter Personen vor Ort. Die dortigen Mitarbeiter hätten so kurz nach dem Anschlag mit mindestens 80 Toten und 300 Verletzten nun Wichtigeres zu tun, als solche organisatorischen Maßnahmen vorzubereiten. In den nächsten paar Tagen werde es daher keine Sammelrückführung nach Afghanistan geben. Der ursprünglich für diesen Mittwoch geplante Flug zur Abschiebung abgelehnter afghanischer Asylbewerber werde wegen des schweren Anschlags verschoben. Es bleibe aber richtig, Ausreisepflichten durchzusetzen. Dieser Grundsatz gelte auch für Afghanistan, insbesondere bei Straftätern, und dieser Weg werde konsequent weiter beschritten.

Armin Schuster, Obmann der Union im Innenausschuß des Bundestags, begrüßte den Abbruch des geplanten Abschiebungsflugs. Diese Entscheidung liege auf der Hand. Die für die Abschiebung in Afghanistan zuständigen deutschen Beamten hätten derzeit ganz andere Prioritäten. An den im vergangenen Oktober zwischen der Bundesregierung und Afghanistan vereinbarten Sammelrückführungen abgelehnter Asylbewerber mit Chartermaschinen will Schuster aber festhalten: "Unsere grundsätzliche Haltung bleibt unverändert." [1]

Wie er im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [2] näher ausführte, sei man sich im Auswärtigen Amt der Verantwortung bewußt und nehme permanent Lagebewertungen zur Sicherheit in Afghanistan vor. Solange man angesichts der Gefährdungslage die deutschen Beamten und Soldaten nicht abziehe, spreche man jetzt von einer Verschiebung, nicht aber einem kompletten Stopp der Abschiebungen. Auf den Einwand der Moderatorin, daß Menschenrechtsorganisationen immer wieder den fehlenden Schutz rückgeführter Flüchtlinge kritisierten, verstieg sich der CDU-Politiker zu der dreisten Behauptung, dagegen spreche die Praxis. Man liefere keineswegs Menschen nach Afghanistan ab, um sie dort sich selbst zu überlassen. Es sei ja genau die Aufgabe der deutschen Beamten, "dass diese abgeschobenen Menschen in Regionen in Afghanistan kommen, wo sie sicher sind, die wir auch als sicher beurteilen. Und da wir das jetzt nachhaltig schon länger machen und dort auch keine negativen Erfahrungen sammeln, sehe ich im Moment noch keinen Anlass, da etwas zu ändern."

Auf die Nachfrage, ob sich diese Aussage auch auf die Region Kabul beziehe, die demnach weiterhin als sicher gewertet werde, wich Schuster aus und schwadronierte, daß es auch in europäischen Großstädten sehr heftige Anschläge gebe. Dies sei eine Form des Terrorismus, den man nicht nur in Ländern wie Afghanistan erlebe und der eines internationalen Bekämpfungsansatzes bedürfe. Deswegen sei er im übrigen stets ein Kritiker "des doch sehr schnellen Abzugs aus Afghanistan" gewesen.

Bislang hat die Bundesrepublik in fünf Sammelflügen 106 abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben. Die Abschiebungen sind umstritten, weil es entgegen anderslautenden Behauptungen der Regierungskoalition dort keine sicheren Orte mehr gibt. Nach übereinstimmender Einschätzung internationaler Hilfsorganisationen gilt das ganze Land als Kriegsgebiet, da sich der Konflikt zwischen Regierungs- und Besatzungstruppen auf der einen und den Taliban, Al Kaida und dem IS, die teils untereinander verfeindet sind, auf der Gegenseite massiv verschärft und es vielerorts zu kaum vorhersehbaren Gefechten und Anschlägen kommt.

Der jüngste Anschlag nahe der nun verwüsteten deutschen Botschaft in Kabul war einer der schwersten seit Jahren. Im angeblich sicheren Masar-i-Sharif in Nordafghanistan wurde erst vergangenen November das deutsche Generalkonsulat durch einen Angriff zerstört, und Ende April töteten Taliban in der afghanischen Partnerkaserne der Bundeswehr 140 junge Soldaten, es war ein stundenlanges Massaker. Die Provinz Kundus, Schwerpunkt deutscher Entwicklungshilfe, ist so gefährlich, daß dort niemand mehr deren Resultate ernsthaft überprüfen kann. Die afghanische Armee ist fast überall in der Defensive. Selbst wenn es ihr gelingt, die Taliban in einer Provinz zurückzudrängen, kommen diese andernorts wieder. Allein im vergangenen Jahr mußten mehr als 600.000 Menschen ihre Häuser verlassen, in 31 von 34 Provinzen fanden Kämpfe statt. Die Zahl der Kriegsflüchtlinge in Afghanistan beträgt jetzt mehr als zwei Millionen. [3]

Aus Deutschland zwangsrückgeführte Afghanen sind akut bedroht und stehen vor dem Nichts. Die angebliche Unterstützung bei der Wiedereingliederung erweist sich Farce. Weder entlegene Regionen noch die Hauptstadt sind sicher, war doch der aktuelle Anschlag bereits der fünfte große Anschlag in Kabul seit Jahresbeginn, von vielen kleineren Zwischenfällen ganz abgesehen. Dennoch schiebt Deutschland nach Afghanistan ab. Die Bundesrepublik und die EU haben weitere Finanzhilfen für das Regime in Kabul, das ohne diese Gelder nicht überlebensfähig wäre, mit der Rücknahme von Abgeschobenen verknüpft.

Daß es auch anders gehen kann, dokumentiert ein aktueller Vorfall an einer Nürnberger Berufsschule. Als die Polizei morgens zu Schulbeginn anrückte, um einen 20 Jahre alten Afghanen in Gewahrsam zu nehmen und einer Abschiebung zuzuführen, solidarisierten sich zahlreiche Menschen mit ihm. Nach Angaben eines Polizeisprechers habe sich der junge Mann zunächst "kooperativ" gezeigt und sei widerstandslos zum Streifenwagen geleitet worden. Danach formierte sich jedoch ein spontaner Widerstand von zunächst etwa 20 Berufsschülern, die sich auf die Straße setzten und zu verhindern suchten, daß der Streifenwagen losfahren konnte. Die Situation drohte über mehrere Stunden zu eskalieren, nachdem sich immer mehr Berufsschüler und auch Passanten mit dem 20jährigen solidarisierten, bis schließlich bis zu 300 Personen an dem Protest teilgenommen haben sollen.

Es sei eine unglaublich beeindruckende Situation gewesen, berichtete Alexander Thal, der Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats. Er sei vor der Schule angekommen, als der afghanische Schüler im Polizeiauto saß und seine Mitschüler den Wagen blockierten, um ihn vom Losfahren abzuhalten: "Als sie keinen Platz gemacht haben, kam recht schnell die Bereitschaftspolizei in Kampfmontur", so Thal. Die Polizei habe Pfefferspray und Stöcke eingesetzt, sogar Hunde auf die Demonstranten gehetzt. Nach Angaben der Polizei seien die Beamten "mit Fahrrädern und Flaschen beworfen" worden. Neun Beamte seien verletzt worden, einer habe bei dem Einsatz einen Zahn verloren. Drei Demonstranten seien kurzzeitig festgenommen worden.

Erst danach konnte der 20jährige Afghane von der Polizei weggefahren werden. Die Proteste verebbten jedoch keineswegs, denn noch am Vormittag setzte sich ein Demonstrationszug zum Ausländeramt in Bewegung. Der junge Mann hatte nach ursprünglicher Planung der Behörden nach der überfallartigen Festnahme noch am Mittwoch vom Frankfurter Flughafen aus nach Afghanistan abgeschoben werden sollen. Wegen des Anschlags in Kabul war die Sammelabschiebung im Laufe des Tages aber ohnehin gestoppt worden. Die Regierung von Mittelfranken setzte die Abschiebung am Nachmittag außer Vollzug. [4] Nach einer Vernehmung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sollte der 20jährige auf freien Fuß kommen. Seitens der Polizei hieß es, gegen den Afghanen "werden derzeit strafrechtliche Verstöße geprüft". [5]

Der junge Mann lebt seit vier Jahren in Deutschland und hatte nach Angaben des Bayerischen Flüchtlingsrats einen Ausbildungsplatz in Aussicht. Ein Berufsschullehrer sagte dem Bayerischen Rundfunk, der Afghane sei gut integriert und "ein fleißiger Schüler". Die in Nürnberg regierende SPD kritisierte das Vorgehen als völlig inakzeptabel. Es könne nicht angehen, daß man Schüler aus Klassenzimmern heraushole. "Andernfalls werden sie aus Angst erst gar nicht in den Unterricht gehen. Das wäre fatal für unsere Integrationsbemühungen", so der Vorsitzende der Nürnberger SPD, Thorsten Brehm.

Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat sprach von einer "wahnsinnigen Eskalationsstufe". Auch die Arbeiterwohlfahrt und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) übten scharfe Kritik. Die GEW sprach von einem "unglaublichen Vorgehen und untragbaren Zustand". Es sei "menschenverachtend", wie das bayerische Innenministerium agiere. Auch Matthias Weigl, Koordinator des Landesschülerrats, nannte "den Eingriff in den Schulalltag ein sehr falsches Signal". Aus Anlaß des Vorfalls in Nürnberg wurde für Donnerstag eine Kundgebung vor dem bayerischen Kultusministerium in München geplant. Mehrere Initiativen haben dazu aufgerufen, gegen Abschiebung von Menschen in Ausbildung und Arbeit nach Afghanistan zu demonstrieren. Ein Beispiel, das auf die eine oder andere Weise Schule machen und der Abschiebepraxis als solcher in die Parade fahren könnte.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/ausland/article165110677/Abgelehnte-werden-nach-Kabul-Anschlag-nicht-abgeschoben.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/cdu-innenpolitiker-schuster-wir-haben-auch-in-europaeischen.694.de.html

[3] http://www.tagesschau.de/ausland/kabul-anschlag-kommentar-101.html

[4] http://www.sueddeutsche.de/bayern/franken-geplante-abschiebung-loest-tumulte-an-nuernberger-berufsschule-aus-1.3529011

[5] http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/nuernberg-300-jugendliche-protestieren-gegen-abschiebung-eines-mitschuelers-a-1150127.html

31. Mai 2017


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