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KRIEG/1736: Rüstung - wir müssen uns entscheiden ... (SB)



Ich verstehe, dass es für eine Regierung schwerer ist, Geld für die Verteidigung auszugeben anstelle für Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Aber wir erhöhen unsere Verteidigungsausgaben nicht, um Präsident Trump zu gefallen, sondern aus unserem eigenen europäischen Interesse.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg [1]

Von heute an übernimmt Deutschland erstmals seit knapp sieben Jahren wieder für einen Monat den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat in New York. Am Mittwoch begehen die 29 Mitgliedstaaten der NATO in Washington den 70. Geburtstag des nordatlantischen Militärbündnisses. Außenminister Heiko Maas und der gesamten Bundesregierung dürfte dennoch nicht nach feiern zumute sein, wird der wohlgefüllte Becher hiesiger Führungsambitionen doch durch einen dicken Wermutstropfen wachsender Kritik am vielzitierten deutschen Sonderweg vergällt. Vorbei die Zeiten, in denen Berliner Regierungspolitik jegliche Schelte gelassen abwettern und die Neider belehren konnte, erst einmal ihr eigenes Haus aufzuräumen, fleißig zu arbeiten und sparsam zu wirtschaften. Die Doppelgleisigkeit, im Zuge des angestrebten Aufstiegs zu umfassender machtpolitischer Eigenständigkeit einerseits den militärischen Schutz der Verbündeten in Anspruch zu nehmen, während man sie andererseits ökonomisch über den Tisch zieht, ist an ihre Grenzen gestoßen.

So kritisierte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, die niedrigen deutschen Verteidigungsausgaben. Man werde das 2-Prozent-Ziel "erklärtermaßen nicht erreichen" und wolle es nicht einmal mehr. "Wir unterschätzen, welchen Frust unsere 1,5-Prozent-Ansage in Washington und Brüssel auslöst", warnte er. Die Bundesregierung müsse sich fragen, wie hoch die Verteidigungsausgaben wären, gäbe es die NATO nicht: "Ich sage es mal grob überschlagen: sicher locker das Doppelte. Dann wären wir nicht bei 1,5 Prozent, dann wären wir bei 3 oder 3,5 Prozent. Weil wir sonst völlig blind, taub und wehrlos wären", so Ischinger. [2]

Die Eckwerte für den Bundeshaushalt 2020 sehen zwar mehr Geld für Verteidigung vor, allerdings weniger als von Ursula von der Leyen gefordert. Dies rief unter anderem US-Botschafter Richard Grenell auf den Plan, der das als "inakzeptabel" kritisierte, worauf sich mehrere deutsche Politiker eine Einmischung in interne Angelegenheiten verbaten. Das Thema werde "nicht verschwinden", erklärte der US-Spitzendiplomat Michael J. Murphy bei einem Briefing mit den Botschaftern der NATO-Partner in Washington. Spätestens bis zum Treffen der Staats- und Regierungschefs des Bündnisses Ende des Jahres in London erwarte Washington weitere konkrete Zusagen.

Der eingangs zitierte NATO-Generalsekretär Stoltenberg geht davon aus, "dass die Deutschen ihre Versprechen einhalten". Er sehe, daß im aktuellen Budgetentwurf der Verteidigungsetat weiter erhöht werden solle. Wenig Verständnis haben auch die Osteuropäer für die deutsche Haushaltsplanung. "Das scheint mir unfair, um ehrlich zu sein", sagte die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid. Estland mit seiner erfolgreichen, aber sehr kleinen Wirtschaft gebe längst mehr als zwei Prozent für seine Verteidigung aus. Man wolle von den Deutschen nur Gegenseitigkeit. "Die Deutschen sollten sich stärker dem Osten zuwenden und Verantwortung übernehmen", forderte Kaljulaid. [3]

Diese Mahnungen sind Wasser auf die Mühlen deutscher Ambitionen, die militärische Aufrüstung massiv voranzutreiben, lassen sie sich doch als Bündnisverpflichtungen und eine Frage der Zuverlässigkeit deklarieren. Das gilt um so mehr für die Alleingänge der US-Regierung unter Donald Trump, der den Europäern und insbesondere den Deutschen geradezu eine Steilvorlage liefert, nun erst recht Kriegskapazitäten auszubauen, wie sie ohnehin aus eigenständigem Interesse angestrebt werden. Der Pferdefuß in dieser Gemengelage ist jedoch die Geschwindigkeit des Kurswechsels, die Unwuchten hervorruft, die in den notwendigen Fristen kaum einzudämmen sind.

Der avisierte Aufstieg Deutschlands zum neuen Hegemon Europas und in dessen Umfeld gründet im ersten Schritt auf der Stärke einer exportgetriebenen Starkwährungsökonomie, die im Gegensatz zu anderen großen Industrieländern immer noch einen industriellen Anteil an der Wertschöpfung von fast 25 Prozent aufweist. Neben hohen technologischen Standards einer in beträchtlichem Maße mittelständisch geprägten Industrie sorgte vor allem die Agendapolitik, die den größten Niedriglohnsektor Europas erzwang, für die Voraussetzungen überlegener Exportstärke. Diese schuf ständig steigende Überschüsse und beflügelte das BIP, was es der Bundesregierung erlaubte, mit ihrer schwarzen Null als Zuchtmeister die Eurozone zu administrieren. Die Gewerkschaften wurden eingebunden und unterstützen im Standortbündnis das Exportmodell, was ernstzunehmende Arbeitskämpfe weitgehend verhindert hat. Diese Friedhofsruhe ist eine zentrale Komponente der befriedeten Klassengesellschaft, deren Wohlstandsversprechen sich am Elend jener bemißt, die gezwungen sind, die deutschen Teller zu füllen.

Daß die Bundesrepublik nach Auffassung ihrer Verbündeten immer noch viel zu wenig fürs Militär ausgibt, resultiert aus der deutschen Geschichte, nicht zuletzt aber der Notwendigkeit, trotz allen Sozialabbaus einen relativ erträglichen Lebensstandard zu gewährleisten, der im Verbund mit dem Sanktionsregime Hartz IV die Lohnabhängigen und Ausgegrenzten duldsam und verfügbar hält. Aufrüstung und Kriegsführung müssen hierzulande sukzessive schmackhaft gemacht und durchgesetzt werden, wie das seit Jahren praktiziert wird, doch angesichts rasanter Verwerfungen in der weltweiten Raub- und Verwertungsstruktur nicht in dem Maße Schritt halten kann, wie es in den wichtigsten strategischen Entwürfen als vermeintlich reibungsloser Prozeß einer Wachablösung vorgedacht war.

Das wegweisenden Strategiepapier "Neue Macht. Neue Verantwortung" (2013) und das "Weißbuch" (2016) sahen vor, daß die US-Amerikaner sukzessive aus dem Nahen Osten abziehen, um sich voll und ganz der Einkesselung Chinas zu widmen, während die Deutschen nachrücken und den Druck auf Rußland und dessen Verbündete erhöhen. War das übermächtige Waffenarsenal der USA und deren Bereitschaft, unablässig Krieg in aller Welt zu führen, der Schutzschirm aufschließender deutscher Ambitionen, so sollte die Bundesrepublik Zug um Zug aus diesem Schatten heraustreten und den Sprung zur eigenständigen Militärmacht machen. Zugleich sollte der Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion vorangetrieben und sogar eine europäische atomare Abschreckung organisiert werden.

Indessen forderte die US-Regierung schon in der Amtszeit Obamas, daß die Deutschen ihren Wehretat deutlich erhöhen müßten. Die NATO-Staaten haben 2002 vereinbart, entsprechende Haushaltsmittel bis 2024 auf 2 Prozent des Inlandsprodukts anzuheben. Die Bundesrepublik gibt derzeit rund 1,3 des BIP für Rüstung aus und will bis 2024 zumindest 1,5 Prozent erreichen, worauf der Anstieg fortgesetzt werden soll. Aktuell gibt London in Relation zum BIP doppelt und Washington dreimal soviel für seine in Stellung gebrachte und exekutierte Kriegsführung aus. Unter Trump steuern die USA sehr viel abrupter und brachialer um als erwartet, was die deutsche Aufrüstung vor Anforderungen stellt, welche die aktuellen Potentiale der Bundesrepublik überfordern.

Wenn Ursula von der Leyen die Zusagen an die Allianz einhalten will und gar nicht genug Geld für die Truppe herausschlagen kann, aber Olaf Scholz ihr die Etaterhöhung kürzt, zeugt das nicht von fundamentalen friedenspolitischen Unterschieden ihrer beider Parteien. Von gewissen wahltaktischen Manövern einmal abgesehen, kommt in dieser Kontroverse vielmehr die Widerspruchslage zum Ausdruck, daß die Bundesregierung militärische Muskeln spielen lassen möchte, die sie sich um ihrer ökonomischen Stärke willen noch nicht leisten kann. So hat die Kriegsministerin in einem Interview mit Spiegel Online denn auch größte Mühe, eine nachvollziehbare Erklärung zu liefern, wie die vorgehaltenen Zielmarken erreicht werden sollen.

Die seit 2014 eingeleitete Trendwende müsse weitergehen, die 1,5 Prozent bis 2024 seien "ehrgeizig, aber erreichbar". Da die Quote jedoch 2020 nur minimal auf 1,37 Prozent steigt, bräuchte die Bundeswehr in vier Jahren noch einmal die gleichen starken Etatsteigerungen wie in den letzten sechs Jahren, was nicht gerade realistisch klinge, wird die Ministerin gefragt. Darauf weiß sie nur zu erwidern, daß deutsche Finanzminister bei der Mittelfristplanung traditionell sehr konservativ vorgingen. Im Ergebnis habe jedoch seit ihrem Amtsbeginn zwischen der mittelfristigen Finanzplanung und den dann realen Budgets ein über die Jahre aufaddiertes Plus von 30 Milliarden, also stets eine deutliche Steigerung gelegen. So müsse es auch in den kommenden Jahren sein. Sie werde um jeden Euro kämpfen, denn die Truppe brauche das Geld dringend für die Modernisierung, die ja auch parteiübergreifend eingefordert werde. Gemeinsam werde man bis zum Herbst, wenn der Haushalt final aufgestellt wird, an einem Strang ziehen. [4]

Bei diesem Strang, das liegt auf der Hand, kann es sich nur um eine Würgeschlinge am Hals jener Teile der Bevölkerung handeln, die am dringendsten auf ein Mindestmaß an existenzsichernden Einkünften und Sozialleistungen angewiesen sind. Woher wenn nicht aus dem Etat für Arbeit und Soziales soll der Löwenanteil jener Umschichtung abgezogen werden, der für die angestrebte milliardenschwere Aufblähung der Kriegskasse erforderlich wäre!


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/ausland/nato-jens-stoltenberg-fordert-mehr-geld-fuer-verteidigung-a-1260298.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/verteidigungsausgaben-wolfgang-ischinger-kritisiert-bundesregierung-a-1260585.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/nato-jens-stoltenberg-fordert-mehr-geld-fuer-verteidigung-a-1260298.html

[4] www.spiegel.de/politik/deutschland/ursula-von-der-leyen-will-nato-zusagen-einhalten-a-1260264.html

1. April 2019


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