Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1757: Erdogan - offensive Strategie ... (SB)



"Unsere Soldaten sind jetzt dabei, schrittweise dorthin zu gehen." Aufgabe der türkischen Soldaten in Libyen sei "Koordination" und die Einrichtung eines "Einsatzzentrums".
Recep Tayyip Erdogan im Fernsehsender CNN Turk [1]

Wann immer seine Gegner hofften, Recep Tayyip Erdogan habe den Bogen endgültig überspannt und sehe dem Anfang vom Ende seines Regimes ins Auge, war er längst dabei, den nächsten aufzuspannen. Indem er sich und seiner Politik im Zuge des Aufstiegs an die despotische Macht jeden Rückweg abgeschnitten hat, da er es niemals dazu kommen lassen darf, für seine Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden, setzt er unentwegt auf den nächsten Ausfall nach vorn. In einer Verschmelzung von aggressivem Instinkt und machtpolitischem Kalkül positioniert er sich in halsbrecherischer Manier mitten in der Gemengelage rivalisierender Groß- und Regionalmächte, heizt Konflikte an und reizt die Karte der Intervention und des Krieges aus. Dabei bedient er sich der eskalierenden Verwerfungen im Konglomerat internationaler Beziehungen, deren Grenzverläufe zunehmend verschwimmen und in einen Flächenbrand unablässiger Waffengänge unter Beteiligung regulärer Streitkräfte, militärischer Dienstleister sowie einer Vielzahl irregulärer Milizen übergehen.

Ohne die Repression im Inneren auch nur im geringsten zu lockern, kontert der türkische Präsident die anwachsenden Krisen im eigenen Land mit der Beschwörung nationaler Ehre und Geltung, indem er neoosmanische Expansionspläne vorantreibt, sich mit den Nachbarn anlegt, die Kurdinnen und Kurden niederzumachen trachtet und seine Landsleute hinter dem Banner des Feldzugs vereint. Hatten der ökonomische Niedergang, der dramatische Verfall der Lebensverhältnisse und der Aufschwung der Opposition bei den Kommunalwahlen das Regime erschüttert, so macht diese Bedrängnis den Machthaber um so gefährlicher in Verfolgung brachialer externer Übergriffe.

Wie alle Großmachtambitionen ist auch Erdogans Streben natürlich nicht pure Ideologie, sondern gründet zugleich auf konkreten Erwägungen, angrenzende Territorien zu okkupieren und sich regionaler Ressourcen zu bemächtigen. Was die Kapitalverwertung unter den Bedingungen der türkischen Ökonomie nicht mehr hergibt, so daß die paternalistische Staatsführung strauchelt, soll durch Raubzüge einverleibt werden, um das Vehikel des aufstrebenden Schwellenlandes mit neuem Treibstoff zu versorgen. Daß sich die Türkei am Krieg in Syrien und nun auch in Libyen nicht nur mit verbündeten islamistischen Milizen, sondern auch eigenen Truppen beteiligt, folgt Erdogans Logik, gerade dort seinen Vorteil zu suchen, wo die Kriegsmaschinen längst wüten, stärkere Mächte aufeinanderprallen und er die widersprüchlichen Bestrebungen womöglich gegeneinander ausspielen kann. Auf den Schlachtfeldern systematisch zerstörter Staaten sucht der türkische Feldherr sein Glück, weshalb er die destabilisierende und Konflikte verschärfende Wirkung seines Eingreifens keineswegs scheut, sondern im Gegenteil gezielt herbeiführt.

Der nun gezogene libysche Trumpf verdankt sich verschiedenen Komponenten, insbesondere aber dem Kampf um die ergiebigen Öl- und Gasfelder im östlichen Mittelmeer. Die Türkei erhebt Anspruch auf Vorkommen im Meeresgebiet vor der Republik Nordzypern, die jedoch nur von Ankara anerkannt wird, weshalb der von der EU als Gesamtstaat anerkannte Südteil der Insel wie auch Brüssel dieses Ansinnen zurückweisen. Griechenland, Zypern und Israel haben sich auf die jeweiligen Nutzungsrechte und zudem gemeinsam mit Italien auf den Bau der Eastmed-Pipeline geeinigt, durch die künftig Erdgas aus diesen Fördergebieten nach Europa geliefert werden soll. Israel hat jüngst das auf rund 605 Milliarden Kubikmeter geschätzt Leviathan-Vorkommen angestochen, dessen Gas vorerst vor allem nach Ägypten geliefert wird, ehe es später durch die geplante Unterwasserpipeline auf den europäischen Markt strömen soll. Ägypten beansprucht mit dem auf 850 Milliarden Kubikmeter geschätzten Gasfeld Zhor das größte Vorkommen im Mittelmeer. Wird es einmal angezapft, könnte das Land schnell wieder vom Gasimporteur zum Gasexporteur werden und seine seit 2011 brachliegenden LNG-Exportterminals wieder in Betrieb nehmen. [2]

Von all dem ist die Türkei bislang ausgeschlossen, die jedoch über die jüngst eröffnete Pipeline Turkish Stream mit russischem Erdgas versorgt wird, das über diesen Weg künftig auch EU-Länder versorgen könnte. Dagegen zieht die US-Regierung zu Felde, die nicht nur teueres Fracking-Gas nach Europa liefert, sondern im Zweifelsfall auch Lieferungen aus Gasfeldern unter dem Mittelmeer für die NATO-Verbündeten favorisiert, weil diese sonst angeblich abhängig von Moskau werden könnten. Um ihre Ansprüche im Mittelmeer zu untermauern, hat die Türkei am 27. November ein Abkommen mit dem in Tripolis residierenden Ministerpräsidenten Fajis al-Sarradsch geschlossen. Darin erhebt Ankara Anspruch auf große Teile des östlichen Mittelmeers als exklusive Wirtschaftszone (EEZ), darunter Gewässer vor Zypern, der griechischen Insel Kreta und Ägypten, sowie Öl- und Erdgasvorkommen vor den Küsten im Wert von Hunderten Milliarden Dollar. Die zwischen der Türkei und Tripolis vereinbarte exklusive Wirtschaftszone quer über das Mittelmeer durchkreuzt die Ansprüche Griechenlands, Israels und Zyperns und würde die Verlegung der geplanten Eastmed-Pipeline von Zypern nach Kreta unmöglich machen.

Die libysche Regierung ist in zwei rivalisierende Fraktionen gespalten, die gegeneinander Krieg führen. Dies ist ein Resultat des Angriffs der NATO im Jahr 2011, der mit massiven Luftschlägen und unter Einsatz von islamistischen Milizen als Hilfstruppen am Boden geführt wurde. Die imperialistische Intervention führte zum Sturz und der Ermordung Gaddafis, forderte Zehntausende Todesopfer, zerstörte die Infrastruktur des Landes und verwandelte die reichste Nation Afrikas mit dem besten Sozialsystem des Kontinents in einen sogenannten gescheiterten Staat, in dem seither ununterbrochen Bürgerkrieg herrscht.

Die von al-Sarradsch geführte Nationale Einheitsregierung (GNA) wird zwar von den Vereinten Nationen als "legitime" Regierung Libyens anerkannt, kontrolliert jedoch kaum mehr als das Gebiet um die belagerte Hauptstadt Tripolis. Für ihre Verteidigung ist sie von einer Ansammlung islamistischer und regionaler Milizen abhängig. Sie wird nicht nur von der Türkei, sondern auch von Katar und Italien unterstützt. Angegriffen wird sie von General Chalifa Haftars Libysch-Nationaler Armee, die mit einer rivalisierenden Regierung in der östlichen Hafenstadt Tobruk verbündet ist. Haftar, ein ehemaliger General Gaddafis, der in die USA übergelaufen ist und lange Jahre mit der CIA zusammengearbeitet hat, wird von Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Rußland und Frankreich unterstützt. Washington steht zwar formell hinter der GNA, doch Präsident Donald Trump hat Haftar vor einiger Zeit für seine "bedeutende Rolle im Kampf gegen Terrorismus und die Sicherung der libyschen Ölvorkommen" gelobt, Erdogan andererseits kürzlich vor einer Eskalation gewarnt. [3]

Ein zweites zwischen der Türkei und Tripolis geschlossenes Abkommen betrifft die militärische Zusammenarbeit, wovon Erdogan nun Gebrauch macht. Die GNA hat offenbar um Unterstützung ersucht, das Parlament in Ankara mit der Mehrheit von AKP und MHP einer Truppenentsendung zugestimmt. Damit ist die Türkei der erste ausländische Staat, der in Libyen offiziell mit Angehörigen seiner regulären Streitkräfte vertreten wäre. Grundsätzlich sind Auslandseinsätze ihrer Soldaten für die Türkei nichts Neues. Gegenwärtig sind türkische Soldaten in elf Ländern stationiert, darunter Afghanistan, Somalia, Katar, Irak, Aserbaidschan, Syrien, die sogenannte Türkische Republik Nordzypern, Albanien, Libanon, Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Einige dieser Einsätze finden im Rahmen internationaler Bündnisse und Mandate statt, andere nur aufgrund bilateraler Vereinbarungen. Der größte türkische Militärstützpunkt liegt in Katar, der zweitgrößte in Somalia. In internationalen Medien kursieren seit November Einschätzungen, die Türkei strebe auch in Libyen die Errichtung eines dauerhaften Stützpunkts an. [4]

In welchem Maße Erdogan mit seinem militärischen Übergriff nach Libyen und der türkischen Intervention in den dortigen Kämpfen den Krieg gegen die eigene Bevölkerung an der Heimatfront in der internationalen Wahrnehmung zum Verschwinden gebracht hat, unterstreicht die aus in den deutschen Konzernmedien verschwundene Berichterstattung darüber. Polizei und Armee sind im Südosten des Landes in heftige und verlustreiche Auseinandersetzungen mit der PKK verwickelt, worüber in den türkischen Medien grundsätzlich nicht berichtet wird.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-libyen-truppen-103.html

[2] www.heise.de/tp/features/Libyen-Stellvertreterkrieg-um-das-Mittelmeer-4627701.html

[3] www.wsws.org/de/articles/2019/12/30/turk-d30.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/369864.nordafrika-freibrief-vom-parlament.html

6. Januar 2020


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang