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KRIEG/1804: Europagespitzter Ukrainekrieg ... (SB)



"An­ge­sichts die­ser dra­ma­ti­schen Lage soll­ten wir nicht auf die Trump-Ad­mi­nis­tra­ti­on war­ten, son­dern die Ukrai­ne jetzt deut­lich stär­ker mi­li­tä­risch, hu­ma­ni­tär und fi­nan­zi­ell un­ter­stüt­zen. Nur so kön­nen wir als EU ge­mein­sam Putin mit Stär­ke ent­ge­gen­tre­ten."
Anton Hof­rei­ter (kriegs­trei­ben­der Vor­sit­zen­der des Eu­ro­pa­aus­schus­ses) [1]

Deutsch­land führt aber­mals Krieg gegen Russ­land. Wenn­gleich Ge­schwin­dig­keit und Aus­maß der Es­ka­la­ti­on noch um­strit­ten sind, herrscht doch weit­hin Ei­nig­keit dar­über, dass Putin be­siegt wer­den müsse. Dazu be­darf es eines mas­si­ven west­li­chen Bünd­nis­ses, des­sen in­ne­ren Kon­flik­te die Bun­des­re­pu­blik umso mehr dazu ver­an­las­sen, auch mi­li­tä­risch eine Füh­rungs­rol­le an­zu­stre­ben.

Wäh­rend die er­hoff­te Beute des Raub­zugs gen Osten vor­erst noch in den Ster­nen steht, zeich­net sich der Er­trag an der Hei­mat­front längst in aller Deut­lich­keit ab. An­ge­sichts wirt­schaft­li­cher Ein­brü­che und so­zia­ler Ver­wer­fun­gen nicht aus­zu­schlie­ßen­de Wi­der­stän­de wer­den für nach­ran­gig er­klärt und ge­bro­chen, gilt es doch mit ver­ein­ten Kräf­ten auf­zu­rüs­ten und die Rei­hen gegen den äu­ße­ren Feind zu schlie­ßen, des­sen Dä­mo­ni­sie­rung kei­nen Wi­der­spruch dul­det.

So mün­det das Schei­tern an den welt­weit her­ein­bre­chen­den Ka­ta­stro­phen in Ge­stalt dra­ma­ti­scher Kli­ma­ver­än­de­run­gen, es­ka­lie­ren­der öko­no­mi­scher Kri­sen und ent­ufern­der so­zia­ler Ver­hee­run­gen in den Ver­nich­tungs­krieg, als sei das Zün­deln am Wel­ten­brand ein un­ab­weis­li­cher Be­frei­ungs- und Er­lö­sungs­akt, der

alle Hemm­nis­se zer­trüm­mert und aus der Asche neues Leben und Glück sprie­ßen lässt.

Stilisierte Graphik: Rote Blumen und Grün sprießen inmitten zahlreicher schwarzer Grabkreuze - © 2024 by Schattenblick

... aus der Asche neues Leben und Glück ...
Gra­phik: © 2024 by Schat­ten­blick

Wer ist mein Bru­der, wer meine Schwes­ter?

Wer sich dem Herr­schafts­den­ken ver­schreibt, im Her­zen des eu­ra­si­schen Kon­ti­nents ein gro­ßes Schach­brett zu fan­ta­sie­ren, auf dem die er­bit­tert ri­va­li­sie­ren­den Welt­mäch­te im Streit um den End­sieg ihre fi­na­len Züge aus­füh­ren, schert sich nicht um ein paar hun­dert­tau­sen­de nie­der­ge­met­zel­te, ver­stüm­mel­te, ver­elen­de­te, trau­ma­ti­sier­te Bau­ern­op­fer mehr - so­lan­ge es nur das Fu­ß­volk der Ukrai­ner oder Rus­sen trifft. All die gro­ßen und klei­nen Kriegs­trei­ber, die tag­täg­lich die Waf­fen­ge­walt be­schwö­ren, um die Ge­gen­sei­te ver­nich­tend nie­der­zu­wer­fen, den­ken nicht im Traum daran, sel­ber im Schüt­zen­gra­ben zu ver­re­cken. Viel an­ge­neh­mer lässt es sich da doch an, als selbst­er­nann­te Rüs­tungs­ex­per­ten, Feld­her­ren oder Glo­bal­stra­te­gen mit schwel­len­dem Kamm Ver­nich­tungs­fan­ta­si­en aus­zu­le­ben und auf va­ter­lands­lo­se Ge­sel­len ein­zu­prü­geln. Nichts zählt so sehr, als sich um die ei­ge­nen Far­ben und Fah­nen zu scha­ren, schar­fen Bli­ckes nach drü­ben zu star­ren und allen Zwei­feln und Skru­peln zu ent­sa­gen.

Ich kenne kein Oben und Unten, keine Aus­beu­ter und Aus­ge­beu­te­ten, keine Ver­fü­gungs­ge­walt und Un­ter­wor­fe­nen mehr, son­dern nur noch Deutsch­land, wird ein mo­no­li­thisch ima­gi­nier­ter Staat zum Zweck der Krieg­füh­rung na­tio­na­lis­tisch auf­ge­la­den. Und da an­de­re Na­tio­nal­staa­ten das zwangs­läu­fig ih­rer­seits prak­ti­zie­ren, heißt es plötz­lich, dass Russ­land die Ukrai­ne an­ge­grif­fen habe, wes­halb der Wes­ten nicht ta­ten­los zu­schau­en dürfe, als seien es Land­stri­che oder Him­mels­rich­tun­gen, die in Ra­se­rei ver­fal­len und ein­an­der an die Gur­gel gehen. Warum spricht man nicht bes­ser von zwei kon­kur­rie­ren­den olig­ar­chi­schen Re­gi­men, von bei­der­sei­ti­gen im­pe­ria­lis­ti­schen Ex­pan­si­ons­ge­lüs­ten, von Raub­zü­gen um Bo­den­schät­ze und mensch­li­che Ar­beits­kraft und vie­len wei­te­ren auf­schluss­rei­chen Denk­an­sät­zen mehr, die dazu bei­tra­gen könn­ten, diese Ge­menge­la­ge mit der Sto­ß­rich­tung zu ent­wir­ren, wie der Krieg auf schnellst­mög­li­che Weise mit einem Waf­fen­still­stand ge­bremst und nach­fol­gen­den Frie­dens­ver­hand­lun­gen der Weg ge­eb­net wer­den könn­te?

Dies würde wo­mög­lich sogar die Ah­nung be­flü­geln, dass die Opfer auf bei­den Sei­ten der Front ein­an­der in ihrem Lei­den und Ster­ben viel nä­her­ste­hen als ihren je­wei­li­gen Her­ren mit und ohne Uni­form. Dass der Feind in den Rei­hen und Rän­gen viel­ge­stal­ti­ger Nutz­nie­ßer sol­cher Feld­zü­ge aus­zu­ma­chen ist, die sich hier wie dort Hände rei­bend am zer­mal­men­den Werk der Um­wäl­zung er­göt­zen, von der sie zu pro­fi­tie­ren hof­fen. Dass es also in Krieg oder Frie­den zu-

meist die­sel­ben sind, die für an­de­re schuf­ten und dabei drauf­ge­hen. Dass mit­hin der Frie­den nur eine Fort­set­zung des Krie­ges ist, des­sen of­fe­ne Waf­fen­ge­walt in an­de­re Welt­re­gio­nen aus­ge­la­gert wird. Und mehr noch: Dass der Schmerz nie­mals endet, so­lan­ge man meint, ihn zu lin­dern, indem man dem an­de­ren Schmer­zen zu­fügt.

Legt den Her­ren des Blut­flus­ses das Hand­werk!

Spre­chen wir also von den Toten, Ver­wun­de­ten, Ver­elen­de­ten die­ses Krie­ges, nicht zu­letzt auch von denen, die ihn auf die eine oder an­de­re Weise flie­hen, um nicht nach we­ni­gen Tagen oder Wo­chen an der Front in ir­gend­ei­nem Erd­loch oder Trüm­mer­feld zer­fetzt aus­zu­blu­ten. Es dürf­te selbst nach Kriegs­en­de wohl noch Jahre dau­ern, bis be­last­ba­re Op­fer­zah­len vor­lie­gen und dies nicht nur des­halb, weil die Ver­schleie­rung der ei­ge­nen und die Über­hö­hung der feind­li­chen Ver­lus­te in­te­gra­ler Be­stand­teil der bei­der­sei­ti­gen Kriegs­pro­pa­gan­da ist. Träte das mons­trö­se Aus­maß der Gräu­el so­fort und für alle fass­bar zu Tage, könn­te dies dazu füh­ren, dass die Be­für­wor­tung des fort­ge­setz­ten Ge­met­zels in den Kel­ler sackt und der Ruf nach sei­nem un­ver­züg­li­chen Ende nicht mehr zum Schwei­gen ge­bracht wer­den kann.

Laut einem Be­richt des Eco­no­mist vom 26. No­vem­ber 2024, der sich auf Ge­heim­dienst­quel­len be­ruft, könn­ten seit Be­ginn der rus­si­schen In­va­si­on im Fe­bru­ar 2022 auf ukrai­ni­scher Seite zwi­schen 60.000 und

100.000 Sol­da­ten ge­fal­len sein. Das wären mehr als 0,5 Pro­zent der männ­li­chen Be­völ­ke­rung im wehr­fä­hi­gen Alter. Wei­te­re 400.000 Sol­da­ten könn­ten zu schwer ver­letzt sein, um wei­ter­zu­kämp­fen. Auf rus­si­scher Seite sind die Zah­len of­fen­bar noch dras­ti­scher. Der Eco­no­mist be­zif­fer­te die Ge­samt­zahl der ge­fal­le­nen, ver­wun­de­ten und ge­fan­ge­nen rus­si­schen Sol­da­ten bis Mitte Juni 2024 auf 462.000 bis 728.000. [2]

Das Wall Street Jour­nal schätzt, dass sich 44.000 Ukrai­ner im wehr­fä­hi­gen Alter heim­lich in an­de­re Län­der ab­ge­setzt haben. Die Kyiv Post be­rich­tet, dass seit Kriegs­be­ginn rund 60.000 An­kla­gen wegen Fah­nen­flucht er­ho­ben wor­den sind. Tau­sen­de wei­te­re dürf­ten sich der Fest­nah­me ent­zo­gen haben. Die Eu­ra­si­an Re­view be­schreibt die Lage an der Front auf ukrai­ni­scher Seite als de­sas­trös und ver­zwei­felt. Es fehle an Waf­fen und Mu­ni­ti­on, vor allem aber an not­wen­di­ger Ver­stär­kung, wes­halb die Sol­da­ten so er­schöpft und de­mo­ra­li­siert seien, dass sie in wach­sen­der Zahl de­ser­tier­ten. [3]

In gro­ßer Sorge, dass dem vor­ge­scho­be­nen Schlacht­op­fer im Stell­ver­tre­ter­krieg ein exis­ten­zi­el­les Re­kru­tie­rungs­pro­blem drohe, schlägt die schei­den­de US-Re­gie­rung von Prä­si­dent Joe Biden zy­nisch vor, die Ukrai­ne solle das Alter der Wehr­pflicht von 25 auf 18 Jahre sen­ken. Da nicht mehr ge­nü­gend Sol­da­ten mo­bi­li­siert und aus­ge­bil­det wür­den, um Ver­lus­te zu er­set­zen und mit Russ­lands wach­sen­der Trup­pen­stär­ke Schritt zu hal­ten, sei dies ein prak­ti­ka­bler An­satz, die

der­zeit etwa 160.000 feh­len­den Sol­da­ten zu kom­pen­sie­ren. Die ukrai­ni­sche Re­gie­rung weist die­ses An­sin­nen je­doch zu­rück, zumal sie das Wehr­pflicht­al­ter be­reits ein­mal von 27 auf 25 Jahre her­ab­ge­setzt hat. [4]

Im Mas­sen­schlach­ten sind sich die bei­der­sei­ti­gen Pro­du­zen­ten mensch­li­chen Ka­no­nen­fut­ters zwangs­läu­fig be­wusst, wie rasch der Nach­schub ver­sie­gen könn­te, soll­te die Sie­ges­ge­wiss­heit und Zu­stim­mung in der Be­völ­ke­rung in an­wach­sen­des Auf­be­geh­ren gegen das Op­fern ei­ge­nen Flei­sches und Blu­tes um­schla­gen. Des­halb hat die Füh­rung in Mos­kau eine all­ge­mei­ne Mo­bi­li­sie­rung ver­mie­den und greift auf Re­kru­tie­run­gen in öst­li­chen Lan­des­tei­len, Straf­ge­fan­ge­ne, Schuld­ner, aus­län­di­sche Söld­ner oder zu­letzt nord­ko­rea­ni­sche Sol­da­ten zu­rück. In der Ukrai­ne macht man re­gel­recht Jagd auf mut­ma­ß­li­che Drü­cke­ber­ger, um sie an Ort und Stel­le der Zwangs­re­kru­tie­rung zu­zu­füh­ren, hütet sich aber an­ge­sichts dra­ma­tisch sin­ken­den Zu­spruchs zu einem Kampf bis zum kaum noch vor­stell­ba­ren Sieg davor, die Schrau­be der Wehr­pflicht noch enger zu zie­hen, zumal der dra­ma­ti­sche Be­völ­ke­rungs­schwund längst zu einem Man­gel an Ar­beits­kräf­ten ge­führt hat.

Leid­tra­gend ist auch die Zi­vil­be­völ­ke­rung ins­be­son­de­re in der Ukrai­ne, deren In­fra­struk­tur mit jedem wei­te­ren Kriegs­tag der­art ver­wüs­tet wird, dass die mut­ma­ß­li­chen Kos­ten des Wie­der­auf­baus in as­tro­no­mi­sche Sphä­ren an­wach­sen. Der drit­te Kriegs­win­ter ver­läuft für Mil­lio­nen Men­schen ka­ta­stro­phal, die

Dun­kel­heit und Kälte aus­ge­setzt sind. Die durch­schnitt­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren lie­gen von De­zem­ber bis März zwi­schen zwei und minus fünf Grad, kön­nen aber bis unter minus 20 Grad fal­len. Nach mas­si­ven rus­si­schen Luft­an­grif­fen sind in­zwi­schen über das ganze Land ver­teilt eine Mil­li­on Men­schen von der Strom­ver­sor­gung und zu­meist auch der Fern­wär­me ab­ge­schnit­ten. In­zwi­schen wur­den 65 Pro­zent der ukrai­ni­schen En­er­gie­pro­duk­ti­on zer­stört, der Strom­ver­brauch von Pri­vat­haus­hal­ten sank um 20 und in der In­dus­trie sogar um 50 Pro­zent. Wenn­gleich die Ukrai­ne in­zwi­schen an das eu­ro­päi­sche Strom­netz an­ge­schlos­sen wor­den ist und die Ver­bün­de­ten in­zwi­schen rund zwei Mil­li­ar­den Euro für das En­er­gie­netz bei­ge­steu­ert haben, ver­bleibt ein be­trächt­li­ches De­fi­zit bei der Strom­erzeu­gung. [5]

Wie viele Men­schen sol­len noch ster­ben, wie sehr soll das Land noch ver­wüs­tet wer­den, bevor den fern des ent­setz­li­chen Schlacht­ge­tüm­mels thro­nen­den Her­ren und Ein­peit­schern des Blut­flus­ses das Hand­werk ge­legt wird?

Deut­sche Mi­li­ta­ri­sie­rung ent­fes­selt

Wenn­gleich in hass­trie­fen­dem Furor das Ge­gen­teil be­haup­tet und Putin samt dem Rus­sen an sich zum Zweck sei­ner not­wen­di­gen Ver­nich­tung ent­mensch­licht wird, lässt sich nicht un­ter­schla­gen, wie dank­bar ihm die so lange aus­ge­brems­ten deut­schen Mi­li­ta­ris­ten für seine Steil­vor­la­ge sein müs­sen. Was über

Jahr­zehn­te nur müh­se­lig an­ge­scho­ben wer­den konn­te und immer wie­der zäh­ne­knir­schend an­ge­bremst wer­den muss­te, da bei über­stürz­tem Stie­fel­ge­tram­pel im Gleich­schritt Vol­kes Unmut droh­te, hat nun freie Bahn, da seit dem rus­si­schen Ein­marsch in die Ukrai­ne alle Dämme ge­bro­chen sind. Als habe es nie zwei Welt­krie­ge unter ma­ß­geb­lich deut­scher Ent­fes­se­lung mit den be­kann­ten Fol­gen ge­ge­ben, wird der drit­te bil­li­gend bis vor­an­trei­bend in Kauf ge­nom­men, wenn aber­mals der End­sieg zu lo­cken scheint. Nun heißt es auf­rüs­ten, kriegs­tüch­tig wer­den und an­sons­ten das Pa­zi­fis­ten­maul hal­ten.

Olaf Scholz mit der Zei­ten­wen­de, dem 100 Mil­lio­nen-Euro-Son­der­ver­mö­gen für die Bun­des­wehr und der Sta­tio­nie­rung von Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten schrei­tet vor­erst voran, indem er gleich­zei­tig be­schleu­nigt und bremst. Das klingt ab­surd und wird ihm er­bost zur Last ge­legt, er­weist sich aber in­so­fern als lo­gisch, wenn man denn gegen Russ­land Krieg führt und dabei vor­gibt, man habe damit nichts zu tun, so dass Deutsch­land des­we­gen nicht im Ge­gen­zug selbst an­ge­grif­fen wird. Man könn­te wohl von einer Form bau­ern­schlau­er Di­plo­ma­tie spre­chen, dem Feind zu si­gna­li­sie­ren, dass na­tür­lich beide Be­scheid wis­sen, aber Ge­sicht wah­rend Un­wis­sen­heit über die wah­ren Ab­sich­ten vor­täu­schen kön­nen. Des­halb ist er aber­mals SPD-Front­mann ge­wor­den und nicht Boris Pis­to­ri­us, den merk­wür­di­ger­wei­se viele hoch schät­zen, ob­wohl er un­ver­hoh­len be­haup­tet, dass der Krieg un­wei­ger­lich auch zu uns kommt, wes­halb wir uns zügig

dar­auf vor­be­rei­ten soll­ten. "Wir müs­sen bis 2029 kriegs­tüch­tig sein", for­dert der alte und wohl auch künf­ti­ge Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter.

Warum aus­ge­rech­net 2029? Weil das Ora­kel ge­spro­chen und pro­phe­zeit hat, dass der Russe dann so weit sein werde, ein­zel­ne NATO-Staa­ten an­zu­grei­fen. So be­stä­tigt der Prä­si­dent des Bun­des­nach­rich­ten­diens­tes, Bruno Kahl, dass der­zeit zwar noch keine Hin­wei­se zu kon­kre­ten Kriegs­ab­sich­ten Russ­lands vor­lä­gen. Wenn aber im Kreml sol­che Pläne über­hand­näh­men, so des Schlapp­hu­ts Zir­kel­schluss, wach­se in den kom­men­den Jah­ren das Ri­si­ko einer mi­li­tä­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung. Mos­kau werde vor einem mög­li­chen Kriegs­be­ginn ver­su­chen, die NATO zu spal­ten, indem es etwa ein­zel­ne Mit­glieds­län­der auf seine Seite ziehe. Putin werde rote Li­ni­en des Wes­tens aus­tes­ten und wei­ter es­ka­lie­ren. [6] Wie gut, dass es ge­hei­me Quel­len gibt, wel­che die Ruhe als Vor­bo­te des kom­men­den Sturms zu deu­ten wis­sen und prä­ven­ti­ve Kon­se­quen­zen an­mah­nen!

Dazu muss die Ge­sell­schaft in einem Maße um­ge­krem­pelt wer­den wie seit Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik nicht mehr. Die sünd­haft teure Auf­rüs­tung kann nur zu Las­ten des So­zi­al­staa­tes fi­nan­ziert wer­den, des­sen Abbau ri­go­ros vor­an­ge­trie­ben wird. Das 2-Pro­zent-Ziel der NATO, näm­lich die­sen An­teil am BIP in die Waf­fen­ge­walt zu in­ves­tie­ren, wird nicht län­ger als ferne Ziel­vor­ga­be, son­dern selbst­ver­ständ­li­che Un­ter­gren­ze deut­scher Stär­ke ge­han­delt. Auch gilt es

zu be­den­ken, dass die Bun­des­re­pu­blik be­reits bei NATO-Ma­nö­vern Dreh­schei­be für zehn­tau­sen­de Sol­da­ten ist, die samt enor­mem Kriegs­ma­te­ri­al nach Osten trans­por­tiert wer­den. Ein im De­tail ge­hei­mer "Ope­ra­ti­ons­plan Deutsch­land" aus dem Ter­ri­to­ria­len Füh­rungs­kom­man­do der Bun­des­wehr lis­tet bei­spiels­wei­se alle Bau­wer­ke und In­fra­struk­tur­ein­rich­tun­gen auf, die für das Mi­li­tär be­son­ders schüt­zens­wert sind, und ent­hält kon­kre­te Pla­nun­gen, wie im Nor­mal-, Span­nungs- oder Ver­tei­di­gungs­fall vor­ge­gan­gen wer­den soll. Des Wei­te­ren stel­len Bun­des­wehr und Zi­vil­be­hör­den in mehr­tä­gi­gen Stress­tests ihre ge­mein­sa­men Füh­rungs­struk­tu­ren auf den Prüf­stand, um das pro­kla­mier­te Vor­feld des Kriegs­falls zu be­ackern. [7]

Das Bun­des­amt für Be­völ­ke­rungs­schutz und Ka­ta­stro­phen­hil­fe (BKK) steu­ert einen Bun­ker­schutz­plan für Deutsch­land bei, in dem es zu­nächst prüft, wel­che öf­fent­li­chen Ge­bäu­de im Be­darfs­fall zu Schutz­räu­men um­ge­baut wer­den könn­ten. Zudem soll eine spe­zi­el­le Handy-App ent­wi­ckelt wer­den, mit der die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Ent­fer­nung zum nächs­ten Bun­ker er­mit­teln kön­nen. Auch soll die Be­völ­ke­rung er­mun­tert wer­den, selbst Schutz­räu­me ein­zu­rich­ten. Bei­spiel­haft fer­ner das baye­ri­sche Bun­des­wehr­ge­setz, das Uni­ver­si­tä­ten die Zu­sam­men­ar­beit mit dem Mi­li­tär vor­schreibt, Zi­vil­klau­seln un­ter­sagt und ver­fügt, dass sich Schu­len für Ju­gend­of­fi­zie­re und mi­li­tä­ri­sche Kar­rie­re­be­ra­ter öff­nen müs­sen. Ent­spre­chen­de Vor­stö­ße gibt es auch auf Bun­des­ebe­ne.

Pis­to­ri­us dringt auf eine zü­gi­ge Um­set­zung der Wehr­dienst­re­form, um wie­der eine Wehr­erfas­sung und eine Wehr­über­wa­chung ein­zu­füh­ren. Schlie­ß­lich wolle man wis­sen, wer mo­bi­li­siert wer­den könn­te, wenn mor­gen der Ver­tei­di­gungs­fall ein­trä­te. Auch habe man nur sehr ein­ge­schränk­te In­for­ma­tio­nen über die 800.000 bis 900.000 Män­ner und Frau­en, die Wehr­dienst ge­leis­tet haben. Kern­be­stand­teil des Vor­ha­bens ist, dass junge Män­ner wie­der auf ihre Eig­nung zum Wehr­dienst hin er­fasst wer­den sol­len, um mehr Per­so­nal für die Bun­des­wehr re­kru­tie­ren zu kön­nen. CDU-Chef Fried­rich Merz gibt sich op­ti­mis­tisch, als künf­ti­ger Kanz­ler per Grund­ge­setz­än­de­rung eine all­ge­mei­ne Dienst­pflicht auch unter Ein­schluss jun­ger Frau­en er­wir­ken zu kön­nen. Die Grü­nen wol­len dem Ver­neh­men nach den frei­wil­li­gen Wehr­dienst at­trak­ti­ver ge­stal­ten, hal­ten aber auch "ge­wis­se Pflicht­an­tei­le" für zu­mut­bar. [8]

Die Bun­des­re­gie­rung bie­tet der NATO an, er­neut PA­TRI­OT-Sys­te­me nach Polen zu ent­sen­den, wo sie als Luft­ab­wehr einen lo­gis­ti­schen Kno­ten­punkt schüt­zen, der für die Lie­fe­rung von Ma­te­ri­al an die Ukrai­ne von zen­tra­ler Be­deu­tung ist, und zudem den NATO-Luft­raum si­chern sol­len. Die Ukrai­ne soll Por­ti­on für Por­ti­on ins­ge­samt 4000 be­waff­ne­te Droh­nen aus deut­scher Pro­duk­ti­on er­hal­ten, die of­fen­bar mit Künst­li­cher In­tel­li­genz aus­ge­rüs­tet sind. [9]

Die glo­ba­le Rüs­tungs­in­dus­trie boomt wie nie zuvor, was auch für die deut­schen Un­ter­neh­men der tod-

brin­gen­den Bran­che gilt. Die vier um­satz­stärks­ten Fir­men Rhein­me­tall, Thys­sen­Krupp, Hen­soldt und Diehl konn­ten 2023 ihre Ein­nah­men zu­sam­men­ge­rech­net auf 10,7 Mil­li­ar­den US-Dol­lar stei­gern, ein Plus von 7,5 Pro­zent im Ver­gleich zum Vor­jahr. Der Platz­hirsch Rhein­me­tall hat seit Be­ginn des Ukrai­ne­kriegs mit Pan­zer- und Mu­ni­ti­ons­auf­trä­gen sei­nen Ak­ti­en­wert um das Fünf­fa­che ge­stei­gert, seine Auf­trags­bü­cher sind mit einem Ge­samt­wert von über 50 Mil­li­ar­den Euro bes­tens ge­füllt. [10]

EU lässt die Mus­keln spie­len

Soll der deut­sche Füh­rungs­an­spruch auch in punk­to Waf­fen­ge­walt eu­ro­pa­weit durch­ge­setzt wer­den, be­darf es na­tür­lich sei­ner Ein­bet­tung in eine ins­ge­samt auf­rüs­ten­de EU, die in ihrer Ad­vents­zeit hof­fend bis ban­gend Trumps Wie­der­kehr er­war­tet. Lässt er uns hän­gen, ma­chen wir's eben al­lein, setzt man trot­zig all das auf die sä­bel­ras­seln­de Ta­ges­ord­nung, was man schon immer woll­te, nur eben nicht so schnell und durch einen Tritt ins Hin­ter­teil er­zwun­gen. Die Füh­rungs­rie­ge in Brüs­sel hal­lu­zi­niert einen mi­li­ta­ris­ti­schen Be­frei­ungs­schlag, der den Gor­di­schen Kno­ten öko­no­mi­scher Ver­wer­fun­gen und es­ka­lie­ren­der Zer­würf­nis­se mit schar­fem Schwert­streich durch­tren­nen soll, auf dass wie­der gol­de­ne Zei­ten glo­ba­ler Gel­tungs­macht an­bre­chen.

Die EU-Kom­mis­si­on will zu die­sem Zweck den Draghi-Re­port um­set­zen, des­sen Ka­pi­tel "Ver­tei­di­gung" die

Stär­kung der eu­ro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­fä­hig­kei­ten als Teil um­fas­sen­der Be­mü­hun­gen vor­sieht, Wett­be­werbs­fä­hig­keit und Au­to­no­mie zu si­chern. So wird ein an­geb­li­cher Man­gel an mi­li­tä­ri­schem Po­ten­ti­al im Be­richt mit Wett­be­werbs­nach­tei­len ge­gen­über den USA und China as­so­zi­iert. Mi­li­ta­ri­sie­rung preist er als In­ves­ti­ti­ons­mo­tor an, da Rüs­tungs­in­itia­ti­ven mit in­dus­tri­el­len und tech­no­lo­gi­schen Zie­len ver­knüpft wer­den könn­ten. Der bel­li­zis­ti­sche Fie­ber­traum schwärmt von einer Kriegs­ma­schi­ne, die zu be­trei­ben ver­lo­ren ge­gan­ge­ne Wachs­tums- und Wohl­stands­kräf­te wie­der­be­le­ben werde. [11]

Par­al­lel dazu ist eine "Ko­ali­ti­on der Wil­li­gen" als Op­ti­on auf dem Tisch, näm­lich die Ent­sen­dung von Bo­den­trup­pen in die Ukrai­ne. Die bal­ti­schen Staa­ten reden schon lange davon, im Fe­bru­ar hatte Em­ma­nu­el Ma­cron diese Idee sei­ner­seits auf­ge­bracht, da "in der Dy­na­mik des Krie­ges" nichts aus­ge­schlos­sen wer­den dürfe. Nun hat Paris mit der For­de­rung nach­ge­legt, dass es bei der Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne "keine roten Li­ni­en" geben soll­te. Die bri­ti­sche La­bour­re­gie­rung zieht sich vor­erst auf die Po­si­ti­on zu­rück, keine Trup­pen in das Ein­satz­ge­biet zu ent­sen­den, wohl aber wei­ter­hin Aus­bil­dungs­maß­nah­men durch­zu­füh­ren, wie das be­reits seit 2014 der Fall ist. Es dürf­te kein Ge­heim­nis sein, dass bri­ti­sche und US-ame­ri­ka­ni­sche Mi­li­tär­be­ra­ter im Land sind, doch würde eine of­fi­zi­el­le Ent­sen­dung west­li­cher Trup­pen die Spi­ra­le der Es­ka­la­ti­on zwangs­läu­fig wei­ter­dre­hen.

Zün­deln am ato­ma­ren Wel­ten­brand

So­viel ist klar: Wäre Russ­land keine Atom­macht, stün­den längst Trup­pen der NATO in der Ukrai­ne, wenn nicht gar vor Mos­kau, um den lang­ge­heg­ten Traum von der Zer­schla­gung und Ein­ver­lei­bung des rie­si­gen Rei­ches end­lich Wirk­lich­keit wer­den zu las­sen. Da aber die ein­zi­ge Ant­wort im Raum steht, die west­li­che Eli­ten tat­säch­lich zu fürch­ten haben, da sie selbst ge­trof­fen wer­den könn­ten, trei­ben sie ihren Geg­ner Zug um Zug in die Enge, wobei sie in hals­bre­che­ri­scher Fehl­ein­schät­zung ei­ge­ner Kon­troll­mög­lich­kei­ten dar­auf spe­ku­lie­ren, dass die feind­li­chen Atom­ra­ke­ten im Silo blei­ben. Das Chi­cken Game, wie es in sträf­lich eu­phe­mis­ti­scher An­wen­dung auf die­ses End­zeitsze­na­rio heißt, geht so: Zwei Autos rasen auf­ein­an­der zu, bis einer der bei­den Fah­rer die Ner­ven ver­liert und im letz­ten Mo­ment aus­weicht, wor­auf der an­de­re ge­won­nen hat. Einer von ihnen ist also der Feig­ling, wobei es durch­aus vor­kommt, dass kei­ner nach­gibt und beide über den Jor­dan gehen.

Es liegt in der Natur die­ses wahn­wit­zi­gen To­des­ren­nens, dass der Geg­ner wahl­wei­se als psy­cho­pa­thi­sches Mons­ter dä­mo­ni­siert oder als auf­ge­bla­se­ner Schwäch­ling ver­höhnt wird. Ob Russ­land schon mor­gen unter dem Druck west­li­cher Sank­tio­nen und Un­ter­stüt­zungs­leis­tun­gen für die Ukrai­ne zu­sam­men­bricht oder Pu­tins Trup­pen im Ge­gen­teil über­mor­gen die NATO-Staa­ten an­grei­fen, wie es wech­sel­wei­se heißt, sind zwei Sei­ten der­sel­ben Me­dail­le einer auf

die Spit­ze ge­trie­be­nen Schi­zo­phre­nie na­mens Krieg. Um die Opfer im Feld und an der Hei­mat­front an­zu­sta­cheln, ihr Wohl­erge­hen, wenn nicht gar Leben preis­zu­ge­ben, muss der Feind als ab­zu­schlach­ten­der Un­mensch ver­teu­felt, doch zu­gleich zum leicht be­sieg­ba­ren Töl­pel de­gra­diert wer­den. Russ­lands Prä­si­dent ist folg­lich in einem Au­gen­blick ein alles ver­schlin­gen­des Un­ge­heu­er, das vor kei­nem Ge­walt­akt zu­rück­schreckt, und im nächs­ten ein durch­schau­ba­rer Hoch­stap­ler, des­sen Dro­hun­gen mit der Atom­keu­le nie­mand ernst zu neh­men braucht.

Die west­li­chen Ver­bün­de­ten haben die Ukrai­ne seit Kriegs­be­ginn mit immer schwe­re­ren und weit­rei­chen­de­ren Waf­fen ver­sorgt. So wur­den nach und nach Pan­zer, Kampf­flug­zeu­ge und schlie­ß­lich sogar Ra­ke­ten und Marsch­flug­kör­per gro­ßer Reich­wei­te ins Kriegs­ge­biet ge­lie­fert, zu­letzt samt der Er­laub­nis, Ziele tief in Russ­land an­zu­grei­fen. Dar­auf­hin hat Putin die Schwel­le für den Ein­satz von Kern­waf­fen ge­senkt und be­hält sich nun das Recht vor, mit Atom­spreng­köp­fen zu ant­wor­ten, wenn der Ein­satz kon­ven­tio­nel­ler Waf­fen eine kri­ti­sche Be­dro­hung für Sou­ve­rä­ni­tät und ter­ri­to­ria­le In­te­gri­tät sei­nes Lan­des dar­stellt. Ex-Prä­si­dent Dmit­ri Med­we­dew warn­te, ein ukrai­ni­scher An­griff mit NATO-Waf­fen auf Russ­land könne jetzt als An­griff der NATO ge­wer­tet wer­den und einen ato­ma­ren Ver­gel­tungs­schlag gegen Kiew und die wich­tigs­ten NATO-Ein­rich­tun­gen nach sich zie­hen.

Damit un­ter­schei­det sich die neue rus­si­sche Atom-

dok­trin in zwei we­sent­li­chen Punk­ten von der vor­he­ri­gen Ver­si­on aus dem Jahr 2020:

1. Sie sieht die Mög­lich­keit eines Atom­waf­fen­ein­sat­zes gegen ein Land mit Atom­waf­fen vor, das selbst kei­nen di­rek­ten An­griff auf Russ­land aus­führt, aber einen sol­chen durch ein Land ohne Atom­waf­fen un­ter­stützt. Dies zielt klar auf die Ukrai­ne und deren nu­kle­ar be­waff­ne­te Un­ter­stüt­zer unter Füh­rung der USA ab.

2. Sie senkt die Schwel­le für einen Atom­waf­fen­ein­satz als Ant­wort auf einen kon­ven­tio­nel­len An­griff. Wäh­rend die bis­he­ri­ge Dok­trin dafür eine Be­dro­hung "der Exis­tenz des Staa­tes" vor­aus­setz­te, reicht nun eine "kri­ti­sche Be­dro­hung" der rus­si­schen Sou­ve­rä­ni­tät. [12]

Der Kreml bringt somit eine hö­he­re, wenn nicht gar letzt­mög­li­che Stufe der Ab­schre­ckung in An­schlag, auf die im Falle wei­te­rer Es­ka­la­ti­on nur noch der tat­säch­li­che Ein­satz tak­ti­scher Atom­waf­fen fol­gen kann. Dies würde zu einem west­li­chen Ge­gen­schlag mit glei­chen Mit­teln füh­ren, wor­auf höchst­wahr­schein­lich stra­te­gi­sche Atom­waf­fen zum Ein­satz kämen. Das nu­klea­re In­fer­no in Eu­ro­pa wäre die zwangs­läu­fi­ge Folge.

In Mos­kau macht man sich ge­wiss keine Il­lu­sio­nen dar­über, dass es den USA und der EU nicht in ers­ter Linie um die Ukrai­ne geht, die in die­sem Stell­ver­tre-

ter­krieg viel­mehr als Mit­tel zum Zweck der Schwä­chung und Er­schöp­fung Russ­lands in Stel­lung ge­bracht wird. So wenig die NATO-Staa­ten feind­li­che Marsch­flug­kör­per an ihren Gren­zen dul­den, die bin­nen we­ni­ger Mi­nu­ten ihre Haupt­städ­te er­rei­chen könn­ten, so wenig kann die rus­si­sche Re­gie­rung dies im um­ge­kehr­ten Sinne hin­neh­men. Des­halb spielt der räum­li­che Fak­tor auch in Zei­ten mo­der­ner Krieg­füh­rung eine we­sent­li­che Rolle. Die ver­än­der­te Atom­dok­trin dürf­te von einer er­höh­ten Be­sorg­nis Mos­kaus an­ge­sichts der nicht von der Hand zu wei­sen­den Be­fürch­tung zeu­gen, dass die schritt­wei­se Es­ka­la­ti­on des Kon­flikts um die Ukrai­ne re­la­tiv kurz­fris­tig in einen di­rek­ten An­griff auf Russ­land über­ge­hen könn­te.

Schlaf­wan­delnd in den nächs­ten Welt­krieg?

Das Eu­ro­pa­par­la­ment hat eine Re­so­lu­ti­on zur Un­ter­stüt­zung der Ukrai­ne ver­ab­schie­det, deren In­halt einem Auf­ruf zum Drit­ten Welt­krieg gleicht. Das Pa­pier mit dem mar­tia­lisch an­mu­ten­den Titel "Ver­stär­kung der un­er­schüt­ter­li­chen Un­ter­stüt­zung der EU für die Ukrai­ne gegen Russ­lands An­griffs­krieg und die zu­neh­men­de mi­li­tä­ri­sche Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen Nord­ko­rea und Russ­land" wurde mit einer Mehr­heit aus Kon­ser­va­ti­ven, So­zia­lis­ten, Li­be­ra­len und Grü­nen an­ge­nom­men. Wie es darin heißt, wür­den die Dro­hun­gen Russ­lands, auf An­grif­fe mit Nu­kle­ar­schlä­gen zu re­agie­ren, die EU kei­nes­falls davon ab­hal­ten, der Ukrai­ne wei­ter­hin mi­li­tä­risch unter die Arme zu grei-

fen. Ge­for­dert wer­den die so­for­ti­ge Lie­fe­rung von Kampf­flug­zeu­gen und Lang­stre­cken-Marsch­flug­kör­pern ein­schlie­ß­lich der deut­schen vom Typ Tau­rus. Dabei sieht die Re­so­lu­ti­on kei­ner­lei Ein­schrän­kun­gen für den Ein­satz die­ser Waf­fen vor, so dass ganz Russ­land zum Ziel er­klärt wer­den könn­te.

Dass Frank­reich (SCALP), das Ver­ei­nig­te Kö­nig­reich (Storm Shadow) und die USA (AT­A­CMS) ihre Marsch­flug­kör­per be­reits für An­grif­fe auf rus­si­sches Ge­biet frei­ge­ge­ben haben, wird lo­bend her­vor­ge­ho­ben. Nicht er­wähnt wird hin­ge­gen, dass diese hoch­kom­ple­xen Waf­fen­sys­te­me in der Regel von NATO-Sol­da­ten be­dient wer­den müs­sen und dies somit eine di­rek­te NATO-Be­tei­li­gung be­deu­ten würde. Auch die mög­li­chen Re­ak­tio­nen Russ­lands auf eine sol­che Es­ka­la­ti­on blei­ben un­er­wähnt. Eines fehlt gänz­lich in die­ser Re­so­lu­ti­on: ein An­satz für eine fried­li­che Lö­sung des Kon­flikts. Mit kei­nem Wort ist von di­plo­ma­ti­schen Schrit­ten oder Ver­hand­lun­gen die Rede. Ge­for­dert wird viel­mehr der Sieg über Russ­land - koste es, was es wolle.

Von der aku­ten Ge­fahr, dass ein di­rek­ter NATO-An­griff auf Russ­land einen mit Atom­waf­fen aus­ge­tra­ge­nen Drit­ten Welt­krieg aus­lö­sen könn­te, fin­det sich in der Re­so­lu­ti­on kein Wort. Eben­so wenig wird the­ma­ti­siert, dass ein sol­cher Krieg zwangs­läu­fig auf eu­ro­päi­schem Boden aus­ge­tra­gen würde, was des­sen Ver­wüs­tung und Mil­lio­nen Tote zur Folge hätte. Die­ses Do­ku­ment vol­ler Hass und Hys­te­rie zeugt von be­stür-

zen­der Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit und feh­len­der Em­pa­thie für die Opfer des Krie­ges. [13]

An­ge­sichts der re­la­ti­ven Be­deu­tungs­lo­sig­keit des Eu­ro­päi­schen Par­la­ments wird diese Re­so­lu­ti­on glück­li­cher­wei­se kaum di­rek­te po­li­ti­sche Aus­wir­kun­gen auf den Ukrai­ne­krieg haben, zumal es oh­ne­hin der EU-Kom­mis­si­on vor­be­hal­ten ist, den stramm mi­li­ta­ris­ti­schen Kurs zu for­cie­ren. Es drängt sich in­des­sen die Frage auf, ob die Ab­ge­ord­ne­ten jeden Bezug zur Rea­li­tät au­ßer­halb ihrer In­sti­tu­ti­on ver­lo­ren haben. Und schlim­mer noch: Alles deu­tet dar­auf hin, dass sie nicht etwa des­in­for­miert sind oder le­dig­lich ver­sa­gen, son­dern viel­mehr se­hen­den Auges trotz aller Ge­fah­ren zum gro­ßen Krieg trom­meln.

Die Stim­mungs­la­ge im Wes­ten wird viel­fach mit jener im Vor­feld des Ers­ten Welt­kriegs ver­gli­chen, als die Völ­ker Eu­ro­pas an­geb­lich schlaf­wan­delnd in die ka­ta­stro­pha­le Zer­stö­rung ge­tau­melt sind. Wenn­gleich man an­hand der ak­tu­el­len Ent­wick­lung durch­aus nach­voll­zie­hen kann, warum da­mals der Krieg nicht ver­hin­dert wurde, wäre es doch ver­fehlt, das Bild eines Schlaf­wan­delns zu miss­brau­chen, als habe im Grun­de nie­mand ge­wusst und ge­wollt, dass es zum Mas­sen­schlach­ten käme. Und wer könn­te heute allen Erns­tes be­haup­ten, un­ge­ach­tet tag­täg­li­cher Be­rich­te vom Krieg auf allen Ka­nä­len keine Ah­nung davon zu haben, wie unter wech­sel­sei­ti­ger Be­zich­ti­gung tod­brin­gen­de Kräf­te ge­schmie­det und frei­ge­setzt wer­den?

Woll­te man den­noch von einer fun­da­men­ta­len Fehl­ein­schät­zung spre­chen, so ins­be­son­de­re in der Hin­sicht, den ab­sicht­lich be­feu­er­ten Krieg mit Kon­troll­ge­winn zu ver­wech­seln. Was immer dabei auch ge­plant, be­schlos­sen, an­ge­ord­net und ex­er­ziert wer­den mag, also höchst sorg­sam und ko­or­di­niert von so­ge­nann­ten Ex­per­ten aller Cou­leur an- und um­ge­setzt wird, mün­det in eine ent­setz­li­che, alles zer­trüm­mern­de und zer­fet­zen­de Ex­plo­si­on, die kei­ner der pro­mi­nen-

ten Kriegs­trei­ber oder mas­sen­haft na­men­lo­sen Mit­läu­fer auch nur im Ent­fern­tes­ten zu er­mes­sen, ge­schwei­ge denn ein­zu­he­gen ver­mag. Ob man sich des­sen be­wusst ist oder nicht, ge­biert die ur­alte Ma­xi­me mensch­li­chen Über­le­bens zu Las­ten der ei­ge­nen Art aber­mals ihren Blut­rausch auf dem Schlacht­feld, dies­mal je­doch mit der dro­hen­den Aus­lö­schung der Mensch­heit im ato­ma­ren Feuer vor Augen.


Fußnoten:

[1] https://www.rnd.de/politik/westliche-bodentruppen-in-der-ukraine-die-deutsche-debatte-nimmt-einen-anderen-verlauf-PRIY75H5YFGPLOXHACR5MJJTE4.html

[2] https://www.telepolis.de/features/Regierungseffizienz-a-la-Musk-Keine-Milliarden-fuer-die-Ukraine-10179873.html

[3] https://www.counterpunch.org/2024/11/29/mass-desertions-over-radiation-could-end-the-war-in-ukraine/

[4] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-wehrpflichtalter-usa-100.html

[5] https://www.t-online.de/nachrichten/ukraine/id_100540396/ukraine-russland-greift-energieinfrastruktur-an-das-steckt-dahinter.html

[6] https://www.deutschlandfunk.de/kahl-russland-wahrscheinlich-ende-des-jahrzehnts-in-der-lage-den-westen-anzugreifen-104.html

[7] https://www.jungewelt.de/artikel/488191.bundeswehrschulung-bevor-der-russe-kommt.html

[8] https://www.telepolis.de/features/Merz-macht-mobil-Wie-der-CDU-Chef-Deutschlands-Toechter-fuer-die-Armee-verpflichten-will-10178901.html

[9] https://www.faz.net/aktuell/politik/ukraine/wie-koennen-die-deutschen-ki-drohnen-der-ukraine-helfen-110118920.html

[10] https://www.telepolis.de/features/Ruestungsindustrie-2024-Bombengeschaefte-in-Kriegszeiten-10185947.html

[11] https://www.telepolis.de/features/EU-Kriegswirtschaft-2-0-Wenn-Panzer-die-Wirtschaft-retten-sollen-10186195.html

[12] https://www.telepolis.de/features/Atomkrieg-wegen-ATACMS-Moskau-senkt-Schwelle-fuer-Atomwaffeneinsatz-auch-in-Europa-10067494.html

[13] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ukraine-krieg-neue-eu-resolution-bringt-europa-an-den-rand-des-dritten-weltkriegs-li.2276728


8. Dezember 2024

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024


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