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GLOSSE/001: Schaltzentrale (Sigismund Kobe)


Bericht aus der Kommandozentrale

Strom an einem Sonntag im Hochsommer

von Sigismund Kobe, Oktober 2013



Die Lage in der Kommandozentrale ist angespannt. Es naht ein Sonntag, noch dazu im Hochsommer. Die Wetterfrösche haben es prophezeit, sonnig soll es werden und ein bisschen Wind soll wehen. Aber man ist ja gut vorbereitet. An die Steinkohlekraftwerke erging schon gestern Abend die Order: Runterfahren auf Nullniveau! Die Meldung trifft ein: Befehl ausgeführt. Weiter runter geht nicht, denn das hieße ja abschalten und dann wieder mühsam und mit hohen Verlusten neu anfahren.

Sonntag, 0:00 Uhr
Mitternacht, der Tag beginnt. Der Blick auf die Daten der Strombörse bestätigt einen niedrigen Strompreis: 1 Ct/kWh. Der Strompreis fällt weiter.

Sonntag, 3:00 Uhr
Der Strompreis erreicht 0 Ct/kWh. Jeder im Raum weiß, was das bedeutet. Jetzt kostet der Strom nichts. Jeder kann soviel haben wie er will. Das einzige Problem: Man muss wissen, was man damit anfangen soll.

Aber es geht noch weiter, der Preis wird negativ. Im Klartext: Wer jetzt Strom "kaufen" will, bekommt ihn nicht nur umsonst, er bekommt sogar Geld dafür, dass er ihn abnimmt.

Sonntag, 7:00 Uhr
Jetzt kostet Strom -1 Ct/kWh, ein vorläufiger Tiefstand ist erreicht. Um diese Zeit trifft die Nachricht ein: Deutschland braucht Strom! Man hat ein klein wenig überzogen beim Runterregeln. Es werden 2 GWh zusätzlich angefordert. Kein Problem, man kann ja importieren, zu einem "negativen Preis". Der Strom wird geliefert, die 20 000 EUR extra kommen auf die hohe Kante. Alle atmen auf.

Sonntag, 10:00 Uhr bis 13:00 Uhr
Das Schlimmste scheint überstanden. Von nun an geht's "bergauf". Der Strom ist wieder umsonst: 0 Ct/kWh.

Sonntag, 13:00 Uhr bis 14:00 Uhr
Doch jetzt kommt, was man schon befürchtet hatte. Die Sonne scheint und die Photovoltaikanlagen im ganzen Land zeigen, was sie so auf der Pfanne haben. Überall wurde es verkündet und hoch gepriesen: "Wir haben eine installierten Leistung von 33 GW peak". Es ist ein Kinderspiel, 20 GWh Strom ins globale Netz einzuspeisen. Man hat ja Vorrang. Doch der erneute Blick auf die Strombörse lässt nichts Gutes ahnen.

Sonntag, 15:00 Uhr
Der Preis sinkt und sinkt und erreicht 15 Uhr einen neuen "Rekordwert": -20 Ct/kWh. Und niemand will den Strom. Das Volk tummelt sich im Strandbad. Keiner wirft seinen Rasenmäher an: dummes Volk.

Aber es kommt noch schlimmer. Der Wind frischt auf. Die Windmüller ringsum wittern Morgenluft. Ein Angebot flattert auf den Tisch: 10 GW Windstrom liegen in den nächsten beiden Stunden an - zusammen 20 GWh. Bitte sofort ins globale Netz einspeisen! Es besteht ja laut Gesetz Einspeisevorrang und Einspeisepflicht für Erneuerbare.

Jetzt muss dringend gehandelt werden, die 20 GWh sind wirklich zu viel, die müssen weg. Die Telefone klingeln bei den Pumpspeicherwerken in Österreich und der Schweiz. Könnt ihr nicht diesen Strom gebrauchen? Wir legen für die kleine Gefälligkeit eine knappe halbe Million EUR drauf. Scheinbar widerstrebend stimmen die Käufer zu und reiben sich insgeheim die Hände.

Aber immer noch ist zu viel Strom da. Jetzt müssen auch die Braunkohlekraftwerke ran. Die haben es nämlich besonders schwer bei Lastwechselvorgängen. Schließlich werden sogar die neun noch laufenden Kernkraftwerke angerufen: Leistung drosseln, Brennstäbe rausziehen, aber macht bitte ganz, ganz vorsichtig, damit ja nichts passiert!

Endlich, die Erlösung naht. Die Sonne neigt sich dem Horizont und verringert zusehends ihren Einfallswinkel zu den Solarmodulen.

Sonntag, 18:00 Uhr
Der Strompreis hat wieder positive Werte erreicht und beträgt jetzt 0,1 Ct/kWh, Tendenz weiter steigend.

Sonntag, 20:00 Uhr
Die Leute sind nach Hause zurückgekehrt. Die Fernseher werden eingeschaltet. Um 20:15 Uhr beginnt der Tatort. Das Thema heute lautet: "Die Wahrheit stirbt zuerst". Der Strompreis beträgt 1,8 Ct/kWh.

Die Nachfrage nach Strom steigt weiter, aber die Erneuerbaren haben sich längst zur verdienten Ruhe begeben. Die Grundlastkraftwerke erhalten den Befehl: So schnell hochfahren wie es nur irgend geht. Aber die sind träge und kommen nicht so schnell wieder aus dem Knick. Alle deutschen Pumpspeicherwerke erhalten die Anweisung: Volle Kraft voraus, alle Turbinen anwerfen! Die Betreiber knirschen mit den Zähnen. Widerwillig folgen sie dem Befehl von oben. In ihrem Kalender ist nämlich schon der nächste Donnerstag, 8 Uhr, rot markiert. Dann hätten sie nämlich 5 Ct/kWh kassiert. Jetzt müssen sie mit läppischen 2 Ct/kWh vorliebnehmen.

Aber auch diese Aktion deckt noch lange nicht den Bedarf. Also folgt die Anfrage bei den Nachbarn: Könnt ihr uns kurzfristig Strom liefern? Diesmal kommt die Zusage prompt und freudig: Yes, we can!

Der Vertrag kommt zustande: Geliefert werden 10 GWh bis Mitternacht. Der Strompreis beträgt inzwischen 2 Ct/kWh, macht insgesamt 200 000 EUR. Eine Option über die Lieferung von weiteren 10 GWh bis zum Morgengrauen wird vereinbart, natürlich zum Marktpreis.

Der Tag ist um, Deutschland schläft - und so hat zum Glück keiner gemerkt, dass unter den Lieferländern der letzten Charge des Stromimports Frankreich und Tschechien waren. Ob wir uns dabei vielleicht sogar Atomstrom eingehandelt haben? Aber so genau wollen wir es eigentlich auch wieder nicht wissen.


Die geschilderten Vorgänge sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen und handelnden Personen sind rein zufällig. Allerdings beruhen die Daten auf offiziellen Angaben der Energiewirtschaft für Sonntag, den 16. Juni 2013 [1,2].

Literatur:
[1] EEX: Handelsdaten vom 16. Juni 2013. www.eex.com.
[2] Burger, B.: Stromerzeugung aus Solar- und Windenergie im Jahr 2013. Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE, Freiburg. Daten zu Erneuerbaren Energien. www.ise.fraunhofer.de.


Sigismund Kobe, Technische Universität Dresden, Institut für Theoretische Physik, 01062 Dresden


Erstveröffentlichung:
Bericht aus der Kommandozentrale
Strom an einem Sonntag im Hochsommer
ew - Magazin für die Energiewirtschaft, ew 13/2013, S. 24
https://www.keosk.de/read/igofPIL0vVDqy/epaper-ew_13_|_2013

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Quelle:
© 2013 by Sigismund Kobe
TU Dresden, Institut für Theoretische Physik
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2013