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STELLUNGNAHME/014: Neue US-Nuklearstrategie - Kosmetik statt Fortschritt (Bundesausschuß Friedensratschlag)


Bundesausschusses Friedensratschlag - 8. April 2010

START-Vertrag: Kosmetik statt Fortschritt
Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag

- Nur Trippelschritte zu weiteren Verhandlungen
- Der START-Vertrag ist kein Abrüstungs-, sondern ein Rüstungskontroll-Vertrag
- Neue US-Nuklearstrategie: Kosmetik statt Fortschritt


Kassel, Hamburg, 8. April 2010 - Anlässlich der am Donnerstag erfolgten feierlichen Unterzeichnung eines neuen START-Abkommens zur Reduzierung nuklearer strategischer Offensivwaffen zwischen den Präsidenten Russlands und der USA in Prag erklären die Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag, Dr. Peter Strutynski und Lühr Henken:

Wenn die Präsidenten der USA und Russlands heute in Prag den START-Nachfolgevertrag feierlich unterzeichnen, gibt es für die Welt wenig Grund zur Erleichterung. Das einzig Gute an dem Ereignis ist, dass die beiden nuklearen Supermächte überhaupt einen Vertrag zustande gebracht und damit zur gegenseitigen Vertrauensbildung beigetragen haben. In der Sache ist das Ergebnis beschämend mager, vor allem wenn man bedenkt, welch hochgesteckte Ziele insbesondere US-Präsident Obama in seiner Prager Rede vom 5. April 2009 formuliert hatte, als er von einer "Welt ohne Atomwaffen" sprach.

Der START-Vertrag bezieht sich lediglich auf die "strategischen" Atomwaffen; die stellen aber lediglich weniger als ein Viertel aller die Menschheit bedrohenden Atomwaffen dar.

Weltweit gibt es heute ca. 23.400 nukleare Sprengköpfe, gut 22.000 davon sind im Besitz der USA und Russlands. Den Rest von rund 1.000 Sprengköpfen teilen sich Frankreich, Großbritannien, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Die Hälfte dieser Waffen steht für den unmittelbaren Gebrauch bereit. Die USA und Russland haben jeweils 1.000 Sprengköpfe in höchster Alarmbereitschaft. Im Falle einer unmittelbaren Bedrohung bleibt den Führungen der beiden Staaten nur jeweils vier bis acht Minuten Zeit für eine Entscheidung. Diese Fakten zeigen, dass die Menschheit noch sehr weit entfernt ist von der Realisierung einer atomwaffenfreien Welt, wie sie US-Präsident Obama vor einem Jahr in Prag werbewirksam als Vision verkündete.

Der neue START-Vertrag legt nun neue Obergrenzen für Sprengköpfe und Trägersysteme (das sind land- und seegestützte Interkontinentalraketen sowie Langstreckenbomber) für strategische Nuklearwaffen fest. Zur Zeit verfügen die USA über 2.200 strategische Sprengköpfe, Russland hat 2.500. Nach Expertenschätzungen haben die USA 800 aktive Trägersysteme, Russland 566. Der neue START-Vertrag erlaubt beiden Seiten nun, jeweils 1.550 nukleare Sprengköpfe und 700 Trägersysteme einsatzbereit zu halten. Zudem werden je 100 Trägersysteme als Reserve erlaubt. Sieben Jahre nach Vertragsabschluss müssen die vereinbarten neuen Obergrenzen erreicht sein.

Wir stellen fest: Die Reduzierungen der Sprengköpfe sind angesichts des großen Arsenals minimal, bei den Trägersystemen ist Russland sogar eine Aufstockung erlaubt. Nach Umsetzung dieses START-Abkommens bedrohen noch immer 20.400 US-amerikanische und russische Atomsprengköpfe das Leben auf der Erde. Von einem Fortschritt oder gar "Durchbruch" bei den Atomverhandlungen kann daher keine Rede sein. Was bleibt, ist Kosmetik.

Wirkliche Abrüstung sieht anders aus. Von Bedeutung ist nur, dass es überhaupt zu einem verbindlichen Vertragsabschluss zwischen den beiden großen Atommächten gekommen ist. Ein Trippelschritt - nicht zu einer atomwaffenfreien Welt, sondern zu weiteren Verhandlungen.

Der START-Vertrag hat zudem schwerwiegende Fehler. Sie öffnen dem Vormachtstreben der USA Tür und Tor:

Der Vertrag sieht keineswegs eine Verschrottung der Sprengköpfe und der Trägersysteme vor; beide werden nur eingemottet und können demnach bei sich ändernden Bedingungen wieder reaktiviert werden. Die USA wollen zudem ihre ehemaligen nuklearen Trägersysteme mit konventionellen Sprengköpfen versehen, um damit binnen weniger Minuten jeden Punkt der Erde in einem Überraschungsangriff - völkerrechtswidrig - treffen zu können ("Prompt Global Strike").

Der Vertrag ermöglicht es den USA ein umfassendes Raketenabwehrsystem aufzubauen. Russland kann aus dem Vertrag aussteigen, wenn es in der Raketenabwehr eine Bedrohung seiner Sicherheit und des nuklearen Gleichgewichts sieht.

Fast zeitgleich mit dem START-Vertragsabschluss verkündete US-Präsident Obama die neue Nuklearstrategie der USA (Nuclear Posture Review, NPR). Auch darin steckt kaum Neues gegenüber der Bush-Doktrin von 2002.

Obama besteht weiterhin auf der "Rechts"anmaßung der USA, als erste Atomwaffen einzusetzen.

Zwar will Obama, anders als seine Vorgänger, künftig darauf verzichten, Atomwaffen gegen Staaten einzusetzen, die über keine Atomwaffen verfügen; ausgenommen davon werden jedoch alle Staaten, welche die USA tatsächlich oder vermeintlich mit biologischen Kampfmitteln angreifen oder den Atomwaffensperrvertrag verletzen. Länder werden nicht mit Namen genannt, aber Iran, evtl. Nordkorea oder Syrien kämen dafür in Frage.

Auch wer angesichts des Ziels einer atomwaffenfreien Welt darauf gehofft hatte, dass Obama auf die Entwicklung neuer Sprengköpfe gänzlich verzichten würde, wird enttäuscht. Solche Neuentwicklungen werden lediglich auf später verschoben. Festgehalten wird indessen an der Weiterentwicklung und Modernisierung der bestehenden Atomwaffen.

Aussagen über die taktischen Atomwaffen der USA in Europa (ca. 150 bis 200, davon 10 bis 20 in Büchel/Eifel) sucht man in der neuen US-Nukleardoktrin vergeblich. Die Obama-Administration scheint kein wirkliches Interesse an einem baldigen Abzug der Atomwaffen aus Büchel zu haben - obwohl diesen Wunsch mittlerweile sogar die Bundesregierung öffentlich vertritt. Im Gegenteil: Im US-Haushalt wurden Gelder bereit gestellt, die dazu dienen sollen, zu prüfen, inwiefern diese Atombomben modernisiert werden können. Und Obama stellte fest, dass die taktischen Atomwaffen der USA in Europa als Faustpfand gegenüber Russland dienen, um diese zur Abrüstung ihrer rund 2.000 einsatzfähigen taktischen Atombomben zu bewegen. Darauf lässt sich Russland indessen nicht ein, solange es im konventionellen Bereich den USA bzw. der NATO so himmelweit unterlegen ist.

Die Friedensbewegung wird weiter für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland und für eine atomwaffenfreie Welt kämpfen. Zur Zeit appelliert sie an die Teilnehmer-Staaten der im Mai stattfindenden Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrag in New York mit einer weltweiten Unterschriftenaktion "Für eine Zukunft ohne Atomwaffen". Darin wird auch die Forderung nach einer unverzüglichen Aufnahme von Verhandlungen für eine Nuklearwaffenkonvention erhoben. Eine solche Konvention soll die Atomwaffen besitzenden Staaten endlich zur Umsetzung des Art. 6 des Atomwaffensperrvertrags verpflichten, wonach alle Atomwaffen abzurüsten sind. Die Unterschriftaktion läuft bis zum 30. April.

Für den Bundesausschuss Friedensratschlag:
Lühr Henken, Hamburg
Peter Strutynski, Kassel


Die Unterschriftenaktion läuft bis zum 30. April:
http://www.npt2010.de/appell/appell-online-unterschreiben.html


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Quelle:
Pressemitteilung vom 8. April 2010
Bundesausschuss Friedensratschlag
Uni Kassel, AG Friedensforschung, Peter Strutynski,
Nora-Platiel-Str. 5, 34109 Kassel
E-Mail: strutype@uni-kassel.de
Internet: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/bewegung/


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. April 2010