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STANDPUNKT/334: Die Schlacht der Titanen (Uri Avnery)


Die Schlacht der Titanen

von Uri Avnery, 23. November 2013



DIES IST nicht nur ein Kampf zwischen Israel und den USA. Es ist nicht nur ein Kampf zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress. Es ist eine "Schlacht" zwischen intellektuellen Titanen.

Auf der einen Seite stehen die beiden berühmten Professoren Stephen Walt und John Mearsheimer. Auf der anderen der überragende Intellektuelle Noam Chomsky.

Es geht darum, ob der Hund mit dem Schwanz wedelt oder der Schwanz mit dem Hund.


VOR sechs Jahren schockierten die beiden Professoren die USA (und Israel), als sie das Buch "Die israelische-Lobby und die US-Außenpolitik" veröffentlichten, in dem sie behaupteten, die Außenpolitik der USA - wenigstens was den Nahen Osten betrifft - werde praktisch vom Staat Israel bestimmt.

Um ihre Argumentation zu umschreiben: Washington DC ist tatsächlich eine israelische Kolonie. Der Senat und das Abgeordnetenhaus sind beide israelisch besetztes Gebiet, so etwa wie Ramallah und Nablus.

Dies steht Noam Chomskys Behauptung diametral entgegen, dass Israel eine Schachfigur der USA sei, die vom amerikanischen Imperialismus als Instrument benutzt werde, um seine Interessen durchzusetzen.

(Ich kommentierte damals, beide Seiten hätten Recht, und dies sei eine einmalige Hund-Schwanz-Beziehung. Ich zitierte sogar den alten jüdischen Witz von dem Rabbiner, der einem Kläger sagt, er habe recht, und dann dem Angeklagten dasselbe sagt. "Aber sie können doch nicht beide Recht haben", protestiert seine Frau: "Du hast auch Recht!" antwortet er.)


INTELLEKTUELLE THEORIEN können selten einem Labortest unterzogen werden. Aber mit diesen geht es.

Es geschieht jetzt. Zwischen Israel und den USA hat sich eine Krise entwickelt, und dies kam an die Öffentlichkeit.

Es geht um die mutmaßliche iranische Atombombe. Präsident Barack Obama ist entschlossen, eine militärische Kraftprobe zu verhindern. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist entschlossen, einen Kompromiss zu verhindern.

Für Netanjahu ist die iranische Nuklear-Sache zu einem endgültigen Problem geworden, sogar zu einer Obsession. Unaufhörlich spricht er darüber. Er hat erklärt, dies sei eine "existenzielle" Bedrohung für Israel, es bestehe die Möglichkeit eines zweiten Holocaust. Im letzten Jahr gab er selbst eine Vorstellung bei der UN-Vollversammlung und zeichnete in kindlicher Weise eine Bombe.

Zyniker sagen, dies sei nur ein Streich, ein erfolgreicher Trick, um die Aufmerksamkeit der Welt vom palästinensischen Problem abzulenken. Und tatsächlich schreitet die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik seit Jahren weit entfernt vom Rampenlicht still und leise voran.

Aber in der Politik kann ein Trick mehreren Zwecken auf einmal dienen. Netanjahu ist es mit der iranischen Bombe ernst. Der Beweis: wegen dieses Problems ist er bereit, die israelisch-amerikanischen Beziehungen zu gefährden, was noch kein israelischer Ministerpräsident vor ihm jemals gewagt hat.

Dies ist eine Entscheidung von großer Tragweite. Israel ist in fast jeder Hinsicht von den USA abhängig. Die USA zahlt Israel jährlich einen Tribut von mindestens drei Milliarden Dollar und tatsächlich ist es noch viel mehr. Sie verkaufen uns die modernsten Waffen. Ihr Veto schützt uns vor dem UN-Sicherheitsrat, egal was wir tun.

Wir haben, mit Ausnahme vielleicht die Fidschi-Inseln, keinen anderen beständigen Freund in der Welt.

Wenn es etwas gibt, mit dem praktisch alle Israelis übereinstimmen, so ist es dieses Thema. Ein Bruch mit den USA ist undenkbar. Die US-israelische Beziehung ist - um einen hebräischen Ausdruck zu benutzen, der von Netanjahu gern gebraucht wird - "Der Felsen unserer Existenz".

Was gedenkt er zu tun?


NETANJAHU WURDE in den USA erzogen. Dort besuchte er das Gymnasium und die Universität. Dort begann er mit seiner Karriere.

Er braucht keine Berater, wenn es sich um US-Angelegenheiten handelt. Er betrachtet sich selbst als den schlauesten Experten von allen.

Er ist nicht dumm. Er ist auch kein Abenteurer. Er stützt sich selbst auf solide Einschätzungen. Er ist davon überzeugt, diesen Kampf zu gewinnen.

In gewissem Sinn ist er ein Anhänger der Walt-Mearsheimer-Doktrin.

Seine augenblicklichen Schritte stützen sich auf die Einschätzung, dass in einer direkten Konfrontation zwischen dem Kongress und dem Weißen Haus der Kongress gewinnen werde. Obama, der schon auf Grund anderer Probleme geschwächt ist, werde geschlagen, womöglich vernichtet werden.

Gewiß, Netanyahu ist das letzte Mal, als er etwas Ähnliches ausprobiert hat, widerlegt worden. Während der Präsidentenwahlen unterstützte er offen Mitt Romney. Die Idee war, dass die Republikaner gewinnen müssten. Der jüdische Casino-Baron Sheldon Adelson ließ sein Geld in ihre Kampagne fließen, während er gleichzeitig in Israel täglich ein Massenblatt herausgab, dessen einziger Zweck es war, Netanjahu zu unterstützen.

Romney konnte nicht verlieren - doch er tat es. Dies sollte für Netanjahu eine Lehre gewesen sein, aber er nahm sie nicht an. Er spielt jetzt dasselbe Spiel, nur um einen viel höheren Einsatz.


WIR SIND jetzt in der Mitte des Kampfes, und es ist viel zu früh, das Ergebnis voraus zu sehen.

Die jüdische pro-Israel-Lobby AIPAC, unterstützt von anderen jüdischen und evangelikalen Organisationen, lässt ihre Kräfte auf dem Kapitol-Hügel antreten. Es ist eine eindrucksvolle Show.

Ein Senator nach dem anderen, ein Kongressmann nach dem anderen, kommt nach vorne, um die israelische Regierung gegen ihren eigenen Präsidenten zu unterstützen. Es sind dieselben Leute, die wie Marionetten auf- und absprangen, als Netanjahu seine letzte Rede vor beiden Häusern des Kongresses hielt. Jeder versuchte, den anderen mit Beteuerungen ihrer unsterblichen Loyalität gegenüber Israel zu übertreffen.

Das geschieht jetzt ganz offen in aller Schamlosigkeit. Einige Senatoren und Kongressabgeordnete erklären öffentlich, dass sie vom israelischen Geheimdienst informiert worden seien, und sie ihm mehr trauen als den Geheimdiensten der USA. Kein einziger von ihnen sagt das Gegenteil.

Dies wäre undenkbar gewesen, wenn es sich um ein anderes Land gehandelt hätte, aus dem viele Amerikaner stammen, beispielsweise Irland oder Italien. Der "Jüdische Staat" steht einzigartig da - eine Art von umgekehrtem Antisemitismus.

Tatsächlich haben einige israelische Kommentatoren gescherzt, dass Netanjahu an die Protokolle der Weisen von Zion glaubt, an die berühmten - und berüchtigten - Traktate, die von der Geheimpolizei des Zaren fabriziert worden seien. Diese deuteten auf eine finstere Verschwörung der Juden hin, die Welt zu regieren. Mehr als 100 Jahre später kommt die Kontrolle der US-Politik dem nahe.

Die Senatoren und Abgeordneten sind keine Dummköpfe (nicht alle von ihnen). Sie verfolgen einen klaren Zweck: wiedergewählt zu werden. Sie wissen, auf welcher Seite ihr Brot mit Butter bestrichen ist. AIPAC hat bei mehreren Testfällen demonstriert, dass sie jeden Senator oder Kongressmann absetzen könne, der nicht die gerade israelische Linie vertritt. Ein Satz mit indirekter Kritik an Israels Politik genügt, um einen Kandidaten zu verurteilen.

Politiker ziehen Scham und Lächerlichkeit dem politischen Selbstmord vor. Im Kongress gibt es keine Kamikaze-Piloten.

Dies ist keine neue Situation. Sie ist mindestens einige Jahrzehnte alt. Was neu daran ist, ist, dass es jetzt ohne Beschönigung an die Öffentlichkeit kommt.


ES IST schwierig zu wissen, jedenfalls jetzt, in wie weit das Weiße Haus durch diese Entwicklung eingeschüchtert ist.

Obama und sein Außenminister John Kerry wissen, dass die amerikanische öffentliche Meinung ganz und gar gegen jeden weiteren Krieg im Nahen Osten ist. Ein Kompromiss mit dem Iran liegt in der Luft. Dies wird von fast allen Weltmächten unterstützt. Nicht einmal die Wutanfälle der Franzosen, die keinen anderen Zweck verfolgen, als sich wichtig zu machen, sind ernst zu nehmen.

Präsident Francois Hollande wurde in dieser Woche wie ein Bote des Messias in Israel empfangen. Schließt man seine Augen, könnte man sich vorstellen, die guten alten Tage der Vor-De-Gaulle-Zeit seien zurückgekehrt, als Frankreich Israel bewaffnete, es mit seinem militärischen Atomreaktor ausstattete, ja, mit ihm Pferde stehlen ging, (das misslungene Suez-Abenteuer 1956).

Aber wenn Obama und Kerry zusammenhalten und auf ihrem Kurs bezüglich des Iran bleiben, kann der Kongress dann den entgegengesetzten Kurs einnehmen? Könnte dies die ernsteste Verfassungskrise der US-Geschichte werden?

Als Nebenvorstellung bemüht sich Kerry weiter, Netanjahu einen Friedensvertrag aufzuzwingen, den der nicht wünscht. Dem Außenminister gelang es, Netanjahu in "Endstatus-Verhandlungen" zu stoßen (Keiner wagte, das Wort Frieden auszusprechen; Gott bewahre!) Doch keiner in Israel oder Palästina glaubt, dass irgendetwas dabei herauskommt. Es sei denn natürlich, das Weiße Haus stünde mit der ganzen Macht der USA hinter den Bemühungen - und das scheint eher unwahrscheinlich.

Kerry hat für die Bemühungen neun Monate vorgesehen wie jede andere Schwangerschaft. Aber die Chancen für ein Baby sind praktisch null. Während der ersten drei Monate haben die Seiten keinen einzigen Schritt vorwärts getan.

Wer wird also gewinnen? Obama oder Netanjahu? Chomsky oder Walt/Mearsheimer?

Wie Kommentatoren zu sagen pflegen: Die Zeit wird es zeigen.

Inzwischen schließt eure Wetten ab.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 23.11.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2013