Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

STANDPUNKT/379: Ein bewaffnetes Ghetto (Uri Avnery)


Ein bewaffnetes Ghetto

von Uri Avnery, 28. Juni 2014



DIE TERRORISTEN der einen Seite sind die Freiheitskämpfer der anderen Seite. Das ist nicht einfach ein Problem der Terminologie. Es ist ein Unterschied der Wahrnehmung, die weitreichende praktische Konsequenzen hat.

Denken wir zum Beispiel an die Häftlinge.

Für den Freiheitskämpfer ist es eine heilige Pflicht, die Befreiung verhafteter Kameraden zu erreichen, wofür er sein Leben zu opfern bereit ist. Eine der gewagtesten Heldentaten des Untergrunds "Irgun" (der ich als sehr junges Mitglied eine Zeit lang angehörte), war der mit Waffengewalt durchgeführte Angriff auf das britische Gefängnis in der Kreuzfahrerburg in Acco und die Befreiung Hunderter Gefangener. Von unseren Kolonialherren wurde dies als niederträchtiger terroristischer Akt angesehen.

Dies sollte unserer gegenwärtigen Regierung klar sein, die auf der Likudpartei basiert, die ursprünglich von früheren Irgun-Kämpfern gegründet wurde. Jedoch ist das schon lange her, und die gegenwärtigen Politiker vom rechten Flügel und die Offiziere sind eine schlechte Kopie unserer früheren britischen Kolonialherrscher. Sie haben keine Ahnung, wie die Militanten denken.

Das ist Kernpunkt des Vorfalls, der Israels Leben während der letzten beiden Wochen beschäftigt hat.


VOR ZWEI Wochen standen um zehn Uhr abends drei Teenager von einer Siedlerreligionsschule (Jeshiva) nahe Hebron allein an einer Straßenkreuzung und versuchten, per Anhalter zu ihren Siedlungen nach Hause zu kommen. Seitdem sind sie verschwunden.

Sofort wurde - ganz logisch - angenommen, dass sie von einer palästinensischen Gruppe entführt worden seien, um einen Gefangenen-Austausch herbeizuführen. Bis jetzt hat keine bekannte Organisation Verantwortung übernommen, und keine Forderungen sind vorgebracht worden.

Das ist nicht dasselbe wie die Gefangennahme des Soldaten Gilad Shalit vor einigen Jahren. Shalit wurde im Gazastreifen festgehalten, das dicht von Palästinensern bevölkert und total von der Hamas kontrolliert wird. Die Westbank auf der anderen Seite ist voll israelischer Siedlungen und es ist nur eine leichte Übertreibung, wenn man sagt, jeder zehnte Palästinenser dort sei ein israelischer Informant. 47 Jahre Besatzung haben dem israelischen Sicherheitsdienst unzählbare Möglichkeiten gegeben, die Palästinenser in ihren Dienst zu nehmen: durch Erpressung, Bestechung und andere Mittel.


DIE NETANJAHU-Regierung sah in diesem Vorfall sofort eine günstige Gelegenheit.

Ohne den geringsten Beweis, (so weit wir es wissen) klagte sie die Hamas an. Am nächsten Tag wurde eine riesige Doppeloperation in Gang gesetzt (Es gab wegen der Inkompetenz der Polizei eine kleine Verzögerung.) Viele tausend Soldaten waren damit beschäftigt, das Gebiet zu durchkämmen und Hausdurchsuchungen durchzuführen. Aber zur selben Zeit begann eine noch größere Operation, die offensichtlich schon lange im Voraus vorbereitet worden war, ein Versuch, die Hamas in der Westbank zu vernichten.

Nacht für Nacht wurde jeder, der die geringste Verbindung zu Hamas hatte, verhaftet. Gruppen von schwer bewaffneten Soldaten brachen nachts in die Häuser der Leute, stießen die erschrockenen Frauen und Kinder zurück, zogen die Männer aus ihren Betten, nahmen sie mit, legten Handschellen an und verbanden ihnen die Augen.

Sie zählten viele hundert - Sozialarbeiter, Lehrer, Prediger, jeden, der zum großen sozialen und politischen Netzwerk der Hamas-Bewegung gehört.

Unter den Verhafteten waren viele, die beim Gefangenenaustausch gegen Shalit freigelassen worden waren. Die politische und Geheimdienst-Führung Israels war mit diesem ungleichgewichtigen Austausch (eine Geisel gegen mehr als tausend Gefangene) nur unter immensem öffentlichen Druck einverstanden gewesen und hatte offensichtlich entschieden, bei der nächstbesten Gelegenheit sie wieder ins Gefängnis zurückzuholen.

Nicht zufällig gab man diese Woche bekannt, dass einer dieser entlassenen Gefangenen angeklagt worden ist, vor einigen Monaten einen Israeli getötet zu haben. Es muss angenommen werden, dass, während die meisten Gefangenen dankbar sind, nach Jahrzehnten zu ihren Familien zurückzukehren, einige der Entschiedensten ihre militante Aktivität tatsächlich wieder aufnahmen.

Die Bemühung, die Hamas zu vernichten, ist töricht. Die Hamas ist eine religiöse Bewegung, die in den Herzen ihrer Anhänger lebt. Wie viele kann man verhaften?


WÄHREND DIESER zwei Wochen zeigte sich die israelische Gesellschaft von ihrer schlechtesten Seite - als ein bewaffnetes Ghetto, ohne Mitgefühl für andere und unfähig, vernünftig zu denken.

Gut, die erste Reaktion war nicht einhellig. Ich habe verschiedene Leute auf der Straße die drei vermissten jungen Siedler wegen ihrer stupiden Arroganz, sich im Dunkel der Nacht, mitten in den besetzten Gebieten auf die Straße zu stellen und in einen fremden Wagen zu klettern, verfluchen gehört. Aber solch unfromme Gefühle wurden bald von einer riesigen Welle Gehirnwäsche fortgespült, der man kaum entkommen konnte.

Es ist ein universaler Trend unter Völkern, die sich in einer nationalen Notlage befinden, sich zu vereinigen. In Israel wird dies durch den Ghetto-Reflex verstärkt, der sich in Jahrhunderten der Verfolgung bildete, dass Juden gegen die bösen Goyim (Nichtjuden) zusammenstehen.

Die sintflutartige Regierungspropaganda nahm unglaubliche Proportionen an. Fast alle Zeitungsseiten waren den militärischen Operationen gewidmet. Radio und Fernsehen brachten die ganze Berichterstattung rund um die Uhr, 24 Stunden täglich, Tag für Tag.

Der Journalismus-Betrieb wurde von den "Militärkorrespondenten" geführt, fast alle ehemalige Militär-Nachrichtendienst-Offiziere, die als Agenten für den Armeesprecher agierten und Armee-Kommuniqués so vortrugen, als wären sie ihre eigene Enthüllungen und Ansichten. Zwischen verschiedenen Sendern und Zeitungen war kein Unterschied festzustellen. Wenn einige liberale Kommentatoren wagten, ein Wort Kritik zu äußern, geschah das sehr gedämpft und betraf nur unbedeutende Einzelheiten.


DURCH ZUFALL kam zur selben Zeit ein Gesetzentwurf in die Knesset, der jeden Gefangenenaustausch für illegal erklärt - ein seltener Fall, dass eine Regierung sich selbst die Hände fesselt. Er verbietet der Regierung, "Sicherheitsgefangene" zu amnestieren oder über einen Gefangenenaustausch zu verhandeln.

Dies bedeutet für die Geiseln den Tod.

In ihrer unglaublichen Naivität - um nicht zu sagen Dummheit - glauben rechte Politiker, dass dies Geiselnehmer abschrecken würde. Jeder mit nur wenig Verständnis für militante Mentalität weiß, dass die Wirkung genau das Gegenteil sein würde: noch mehr Geiseln nehmen, den Druck vermehren, um Gefangene zu befreien.

Das Leben von Geiseln würde tatsächlich sehr billig werden. Die augenblickliche Bemühung der Geheimdienste und der Armee, den Aufenthaltsort der drei Entführten zu finden, würde - falls erfolgreich - eine Aktion nach sich ziehen, bei der sie mit Gewalt befreit würden. Wie die Erfahrung in solch einer Situation zeigt, sind die Überlebenschancen der Geiseln gering. Sie geraten ins Kreuzfeuer und werden entweder von ihren Entführern oder - was häufiger geschieht - von ihren Befreiern getötet. Doch keine einzige Stimme in Israel spricht diesen wichtigen Punkt an.

Die Shalit-Familie, gewöhnliche säkulare Israelis, waren sich dieser Gefahr, den Sohn betreffend, akut bewusst. Nicht so die Familien der drei vermissten Siedlerjungen, von denen alle zur extremen Rechten gehören. Sie sind willige Agenten der Regierungspropaganda geworden; sie riefen zu einem Massengebet auf und unterstützten die Siedlerbewegung. Ihr Rabbiner erklärte, dass die Gefangennahme der Jugendlichen eine Strafe Gottes sei, für die Bemühungen der letzten Zeit, die religiösen Jugendlichen zum Dienst in der Armee zu zwingen.


DIE REGIERUNG ist offensichtlich weit mehr daran interessiert, einen politischen Propagandasieg zu erringen, als die Freilassung der Geiseln zu gewährleisten.

Das Hauptziel ist, Mahmoud Abbas zu zwingen, die palästinensische Versöhnung aufzugeben und die neue palästinensische Regierung, die nur aus Experten besteht - zu zerstören. Abbas widersetzt sich. Er wird schon weithin in Palästina wegen der bestehenden engen Zusammenarbeit zwischen seinen und den israelischen Sicherheitskräften angeprangert, während Israel die Operation fortsetzt. Abbas spielt ein sehr gefährliches Spiel; er versucht, all den Druck auszubalancieren. Was immer auch die politische Meinung ist - sein Mut verdient Bewunderung.

Die israelische Führung, die in ihrer Luftblase lebt, ist total unfähig die Reaktion der Welt oder das Fehlen derselben zu verstehen.

Schon bevor alles anfing war die Anzahl der durch scharfe Munition getöteten Palästinenser, einschließlich der Kinder während der Demonstrationen, ständig gewachsen. Anscheinend haben die Einsatzregeln, wie die Soldaten sie verstehen, das erleichtert. Seit die gegenwärtige Operation begann, sind mehr als fünf nicht kämpfende Palästinenser von der Armee getötet worden - einige von ihnen Kinder.

In der israelischen Ausgabe der New York Times nahm das Bild einer palästinensischen Mutter, die um ihr Kind trauert, und nicht Bilder der Geiseln, einen großen Teil der Titelseite ein.

Aber als den drei Müttern, die zu Propagandazwecken zur UN-Menschenrechts-Kommission nach Genf geschickt worden waren, ein kühler Empfang bereitet wurde, war die israelische Regierung erstaunt. Delegierte waren mehr an den Menschenrechtsverletzungen durch Israel interessiert als an den Geiseln - für viele Israelis ein weiteres offensichtliches Beispiel für Antisemitismus in der UN.


MEHR ALS alles andere zeigt diese Episode wieder, wie verzweifelt wir den Frieden nötig haben. Die palästinensische Versöhnung zwischen PLO und Hamas könnte den Frieden näher bringen - und deshalb wollen die israelische Rechte und besonders die Siedler sie zerstören.

Ich bin davon überzeugt, dass die Siedlungen für Israel ein Unglück sind. Aber mein Herz blutet für die drei Jungs - zwei von ihnen 15 Jahre alt, der dritte 19 - unter welchen Umständen sie jetzt festgehalten werden, kann man sich kaum vorstellen, falls sie noch am Leben sind.

Die beste Weise Geiselhaft zu verhindern, ist, die Häftlinge ohne Gegenleistung freizulassen. Selbst der Sicherheitsdienst kann nicht ernsthaft daran glauben, dass all die vielen Tausend politischen Gefangenen in unseren Gefängnissen eine tödliche Gefahr für unsere Existenz bedeuten.

Ein besserer Weg nach vorne wäre, die Besatzung durch Frieden zu beenden.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

*

Quelle:
Uri Avnery, 28.06.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2014