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STANDPUNKT/462: Wer wird Israel erretten? (Uri Avnery)


Wer wird Israel erretten?

von Uri Avnery, 23. Mai 2015


DIE SCHLACHT ist beendet. Der Staub hat sich gelegt. Eine neue Regierung - zum Teil lächerlich, zum Teil erschreckend - ist installiert worden.

Es ist Zeit, Inventur zu machen.

Das reine Ergebnis ist, dass Israel allen Anspruch auf Frieden aufgegeben hat und dass die israelische Demokratie einen Schlag erlitten hat, von dem sie sich vielleicht nie wieder erholen wird.


DIE ISRAELISCHEN REGIERUNGEN - vielleicht mit Ausnahme der Jitzchak Rabins - haben nie wirklich Frieden gewollt. Den Frieden, der möglich ist.

Frieden bedeutet natürlich festgelegte endgültige Grenzen. In der Gründungs-Erklärung des Staates, die von David Ben Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv vorgelesen wurde, wurde jede Erwähnung von Grenzen absichtlich weggelassen. Ben Gurion war nicht bereit, die von der UN-Teilungsresolution festgelegten Grenzen zu akzeptieren, weil nur ein winziger jüdischer Staat vorgesehen war. Ben Gurion sah voraus, dass die Araber einen Krieg beginnen würden, und er war entschlossen, diesen dazu zu nutzen, das Staatsgebiet zu vergrößern.

Und so kam es. Als der Krieg 1949 mit einem Waffenstillstandsabkommen endete, das auf den Kampflinien am Ende des Krieges basierte, hätte Ben Gurion sie als Endgrenzen anerkennen können. Er weigerte sich aber. Israel ist ein Staat ohne Grenzen - vielleicht der einzige in der Welt.

Dies ist einer der Gründe für die Tatsache, dass Israel kein Friedensabkommen mit der palästinensischen Nation hat. Es unterzeichnete offizielle Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien, die sich auf international anerkannte Grenzen zwischen dem früheren britischen Mandat von Palästina und seinen Nachbarn gründeten. Zwischen Israel und dem undefinierten palästinensischen Gebilde werden keine Grenzen akzeptiert. Alle israelischen Regierungen haben sich immer geweigert, anzugeben, wo solche Grenzen verlaufen sollten. Das hoch gelobte Oslo-Abkommen war keine Ausnahme. Auch Rabin weigerte sich, eine endgültige Grenze zu ziehen.

Diese Weigerung bleibt Regierungspolitik. Am Vorabend der letzten Wahlen erklärte Benjamin Netanjahu eindeutig, dass während seiner Amtszeit - das bedeutet für ihn bis zu seinem Lebensende - kein palästinensischer Staat entstehen würde. Deshalb würden die besetzten Gebiete unter israelischer Herrschaft bleiben.

Kein Friedensabkommen wird je unter dieser Regierung unterzeichnet werden.


KEIN FRIEDEN bedeutet, den territorialen Status quo einzufrieren, mit Ausnahme dessen, dass Siedlungen weiter wachsen und sich vermehren.

Diese Situation betrifft nicht die Demokratie. Sie ist nicht eingefroren.

Israel ist bekanntlich die "einzige Demokratie im Nahen Osten". Das ist praktisch ihr zweiter offizieller Name.

Es ist umstritten, wie ein Staat, der ein anderes Volk beherrscht, es all seiner Menschenrechte beraubt - ganz zu schweigen von der Staatsbürgerschaft - eine Demokratie genannt werden kann. Aber die jüdischen Israelis haben sich seit 1967 daran gewöhnt und ignorieren einfach diese Tatsache.

Nun ist die Situation im eigentlichen Israel im Begriff, sich drastisch zu verändern.

Zwei Tatsachen bestätigen dies.

Als erstes ist Ayelet Schaked zur Justizministerin ernannt worden. Eine der extremsten Israelis vom rechten Flügel. Sie hat kein Geheimnis aus der Tatsache gemacht, dass sie die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes zerstören will, die letzte Bastion der Menschenrechte.

Dieses Gericht hat es die Jahre hindurch fertiggebracht, eine große Kraft im israelischen Leben zu werden. Da Israel keine geschriebene Verfassung hat, ist es dem Obersten Gerichtshof unter strenger und entschlossener Führung gelungen, die Rolle des Wächters der Menschen- und Zivilrechte zu übernehmen, ja, selbst die demokratisch angenommenen Knesset-Gesetze zu annullieren, die der vorgestellten Verfassung widersprachen.

Schaked hat angekündigt, dass sie dieser Unverschämtheit ein Ende bereiten werde.

Das Gericht hat viele Angriffe überlebt, weil seine Zusammensetzung nicht leicht verändert werden kann. Im Gegensatz zur Praxis in den USA, die uns skandalös vorkommt, werden Richter von einem Komitee ernannt, in dem Politiker von amtierenden Richtern unter Kontrolle gehalten werden. Schaked möchte diese Praxis ändern, indem sie das Komitee mit Politikern vollstopft, die gegenüber der Regierung loyal sind.

Das Gericht ist schon eingeschüchtert. In letzter Zeit hat es eine Anzahl von unwürdigen Entscheidungen getroffen, wie zum Beispiel die Ächtung von Aufrufen, die Siedlungen zu boykottieren. Aber das ist noch Gold, verglichen mit dem, was in nächster Zukunft geschehen soll.


VIELLEICHT IST Netanjahus Entscheidung, das Ministerium der Kommunikation für sich selbst zu reservieren, noch schlimmer.

Dieses Ministerium wurde immer als ein Ministerium niedrigen Ranges und für politische Leichtgewichte reserviert angesehen. Netanjahus hartnäckiges Bestehen darauf, es sich selbst vorzubehalten, ist verdächtig.

Das Kommunikations-Ministerium kontrolliert alle TV-Stationen und indirekt die Zeitungen in Israel und andere Medien. Da alle israelischen Medien sich in einer sehr schlechten finanziellen Situation befinden, kann diese Kontrolle tödlich werden.

Netanjahus Förderer - einige sagen Besitzer - Sheldon Adelson, der Möchtegern-Diktator der US-republikanischen Partei, veröffentlicht in Israel schon eine Zeitung, die, kostenlos verteilt, nur ein Ziel hat: Netanjahu persönlich gegen alle Feinde - darunter seine Konkurrenten in der eigenen Likud-Partei - zu unterstützen. Die Zeitung "Israel Hayom" (Israel heute) ist schon Israels am weitesten verbreitete Zeitung, in die der amerikanische Casino-König schon ungezählte Millionen steckte.

Netanyahu ist entschlossen, jede Opposition der elektronischen und geschriebenen Medien zu brechen. Die Oppositions-Kommentatoren sind gut beraten, wenn sie sich woanders nach einem Job umsehen. Kanal 10, der etwas kritischer auf Netanjahu blickt als seine zwei Konkurrenten, wird deshalb wohl am Monatsende geschlossen werden.

Man kommt nicht umhin, eine abstoßende Ähnlichkeit festzustellen. Eines der Schlüsselworte im Vokabular der Nationalsozialisten war der scheußliche deutsche Terminus "Gleichschaltung", was bedeutete, dass alle Medien von derselben Energiequelle abhingen. Alle Zeitungen und Radiostationen (TV existierte noch nicht) wurden mit Nazis besetzt. Jeden Morgen versammelten sich die Chefredakteure um den Beamten des Propagandaministeriums mit Namen Dr. Dietrich, und der sagte ihnen, wie die Schlagzeilen und Leitartikel usw. für den morgigen Tag zu lauten hatten.

Netanjahu hat den Chef der TV-Abteilung schon entlassen. Wir kennen den Namen unseres eigenen Dr. Dietrich noch nicht.

Als humorvolles Gegenstück ist Miri Regev zur Kultusministerin ernannt worden. Regev ist eine großmäulige Frau, deren vulgärer Stil zu einem nationalen Symbol geworden ist. Keiner kann auch nur erraten, wie sie es einmal zur Armeesprecherin gebracht hatte. Zu ihrem Stil gehört auch, dass sie jede ihrer Äußerungen in der Öffentlichkeit mit der Aufforderung "Applaus!" abschließt. Das ist schon zum Witz geworden.


DAS WIRKSAMSTE Instrument der Entdemokratisierung ist das Bildungsministerium (das in keiner anderen Hinsicht wirksam ist).

Israel hat mehrere Bildungssysteme, alle vom Bildungsministerium finanziert und dort kontrolliert.

Zwei Systeme unterstehen direkt der Regierung: das allgemeine "Staats"-System und das autonome "religiöse Staats-System.

Dann gibt es noch zwei orthodoxe Systeme: ein aschkenasisches und ein orientalisches. In einigen von diesen werden nur religiöse Themen unterrichtet - keine Sprachen, keine Mathematik, keine nicht-jüdische Geschichte. Deswegen sind die Schulabgänger für keinen Beruf geeignet. Sie bleiben ihr Leben lang von den Almosen ihrer Religionsgemeinschaft abhängig.

Vor der Staatsgründung gab es - besonders in den Kibbuzim - ein politisch linksgerichtetes Bildungssystem, in dem sozialistische Werte vermittelt wurden. Dieses wurde von David Ben-Gurion im Namen der "Staatlichkeit" abgeschafft.

Die letzte Regierung unternahm einen schüchternen Versuch, die Orthodoxen zu zwingen, in ihren Schulen "Kernfächer" einzuführen, darunter Arithmetik und Englisch. Das wurde jetzt aufgegeben, da die Orthodoxen Mitglieder der Regierungskoalition geworden sind.

Die wirkliche Schlacht, die jetzt beginnt, wird aber um die gewöhnlichen Staatsschulen geführt, die bis zu einem gewissen Grad frei waren. Meine verstorbene Frau Rachel war fast 30 Jahre lang Lehrerin an solch einer Schule und unterrichtete, wie sie wollte. Sie versuchte, ihren Schülern humanistische und liberale Werte beizubringen.

Das ist nun nicht mehr möglich. Israels extremster nationalistisch-religiöser Führer Naftali Bennett ist jetzt als Erziehungsminister eingestellt worden. Er hat schon angekündigt, dass sein Hauptziel sei, die Schüler in einem nationalistisch-zionistischen Geist zu erziehen und sie zu wahren israelischen Patrioten zu machen. Von Humanismus, Liberalismus, Menschenrechten, sozialen Werten oder jedem weiteren Unsinn ist nicht die Rede.

Netanjahu behält auch das Außenministerium in eigener Hand. Viele der Aufgaben des Ministeriums wurden auf sechs andere Ministerien verteilt. Das begründet Netanjahu mit dem Vorwand, dass er das renommierte Ministerium für den Führer der Arbeitspartei Jitzchak Herzog freihalten wolle. Netanjahu tut so, als wollte er Herzog dazu einladen, in der Regierung mitzuwirken. Herzog hat das inzwischen schon lautstark zurückgewiesen. (Ich vermute, dass der wahre Besitzer der Regierung Sheldon Adelson Herzogs Beteiligung ohnehin nicht zulassen würde.)

Netanjahus wirkliches Ziel ist es, jeden potentiellen Konkurrenten davon auszuschließen, internationales und nationales Prestige in dieser Position zu gewinnen. Er führt sowieso die Außenpolitik alleine.


ALLES ZUSAMMEN ist es ein tief verstörendes Bild für jeden, der Israel liebt.

Nicht so sehr, weil sich die Machtbalance in Israel geändert hätte (das hat sie nicht); sondern weil die schlimmsten Elemente des rechten Flügels die Regierung übernommen haben und fast alle moderaten des rechten Flügels hinaus gestoßen haben. Bis jetzt waren diese extremen Rechten zwar laut, hatten aber wenig Macht. Dies hat sich nun geändert. Die extreme Rechte hat ihre Selbstsicherheit gefunden und ist entschlossen, ihre Macht zu gebrauchen.

Die israelische Linke (die sich selbst schüchtern "Mitte links" nennt) hat ihren Mut verloren. Ihre einzige Hoffnung ist "ausländischer Druck", besonders vom Weißen Haus. Barack Obama hasst Netanjahu. Irgendwann wird Amerika Druck ausüben, um Israel vor sich selbst zu retten.

Das ist ein bequemer Gedanke. Wir müssen gar nichts tun. Die Rettung kommt von außen, deus ex machina. Halleluja!

Leider bin ich ein Ungläubiger. Was ich sehe, ist, dass die USA das Netanjahu-Regime stärker unterstützen, ihm riesige Mengen neuer Waffen liefert, als "Entschädigung" für den sich anbahnenden Atom-Handel mit dem Iran. John Kerry, der von Netanjahu gedemütigt und mit offener Verachtung behandelt wird, kriecht irgendwo unterwürfig zu unseren Füßen. Obama rühmt sich, dass er für Israel mehr getan hat (und meint die israelische Rechte) als jeder andere Präsident.

Rettung kommt nicht aus dieser Richtung. Gott wird in der Maschine bleiben.


ES GIBT nur eine Art von Rettung: die, die wir in uns selbst tragen.

Manche hoffen auf eine Katastrophe, die den Leuten die Augen öffnen wird. Ich wünsche keine Katastrophen. Ich will nicht, dass Israel eine Wiederholung von al-Sisis Ägypten wird, von Erdogans Türkei oder Putins Russland.

Ich glaube, wir können Israel retten - aber nur wenn wir von der Couch aufstehen und das Unsrige tun.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 23.05.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2015

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