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STANDPUNKT/485: Divide et impera - Teile und herrsche (Uri Avnery)


Divide et impera - Teile und herrsche

von Uri Avnery, 8. August 2015


BENJAMIN NETANJAHU ist nicht gerade als klassischer Gelehrter bekannt, aber wie dem auch sei, er übernahm den römischen Leitspruch: Divide et impera, teile und herrsche.

Das Hauptziel - und vielleicht das einzige - seiner Politik ist, die Herrschaft Israels als "Nationalstaat des jüdischen Volkes" auf das ganze Eretz Israel, das historische Land Palästina, auszuweiten. Das bedeutet, über die ganze Westbank zu herrschen, sie mit jüdischen Siedlungen zu bedecken, seinen mehr als 2,5 Millionen arabischen Bewohnern aber die bürgerlichen Rechte zu verweigern.

Ost-Jerusalem ist offiziell schon von Israel annektiert worden. Seinen 300.000 arabischen Bewohnern wird weder die israelische Staatsbürgerschaft gewährt, noch das Recht, an den Knesset-Wahlen teilzunehmen.

Übrig bleibt der Gazastreifen, eine winzige Enklave mit mehr als 1,8 Millionen arabischen Bewohnern. Die meisten von ihnen sind Nachkommen der Flüchtlinge aus Israel. Das Letzte auf der Welt, was Netanjahu sich wünscht, ist, auch diese ins israelische Imperium aufzunehmen.

Es gibt einen historischen Präzedenzfall. Nach dem Sinai-Krieg 1956, als Präsident Eisenhower verlangte, dass Israel sofort das ägyptische Territorium, das es erobert hat, zurückgibt, riefen viele Stimmen in Israel dazu auf, den Gazastreifen zu annektieren.

David Ben-Gurion weigerte sich beharrlich. Er wollte nicht weitere Hunderttausende weitere Araber in Israel. Also gab er den Gazastreifen an Ägypten zurück.

Die Annexion Gazas würde, wenn man die Westbank behält, zu einer arabischen Mehrheit im jüdischen Staat führen. Sicher, es wäre eine kleine Mehrheit, die aber wächst schnell.


DIE BEWOHNER der Westbank und des Gazastreifens gehören zum selben palästinensischen Volk. Sie sind durch nationale Identität und Familienbande eng verknüpft. Nun sind sie aber getrennte Entitäten, geographisch durch israelisches Gebiet getrennt, das an seiner schmalsten Stelle nur etwa 45 km breit ist.

Beide Gebiete wurden 1967 im Sechstagekrieg besetzt. Viele Jahre konnten sich Palästinenser frei von einem Gebiet zum andern bewegen. Palästinenser aus Gaza konnten in der Bir Zeit-Universität in der Westbank studieren, eine Frau aus Ramallah in der Westbank konnte einen Mann aus Beit Hanoun im Gazastreifen heiraten.

Ironischerweise fand diese Bewegungsfreiheit 1994 mit dem "Friedens"-Abkommen von Oslo, in dem Israel die Westbank und den Gazastreifen als ein einziges Gebiet anerkannte und sich verpflichtete vier Passagen zwischen ihnen zu öffnen, ein Ende. Tatsächlich wurde keine einzige Passage je geöffnet.

Die Westbank wird jetzt nominell von der Palästinensischen Behörde verwaltet, auch sie wurde vom Oslo-Abkommen geschaffen. Sie wird von den UN und der Mehrheit der Nationen der Welt als der Staat Palästina unter israelischer Militärbesatzung anerkannt. Ihr Führer Mahmoud Abbas, ein enger Kollege des verstorbenen Yasser Arafat, hat sich dem arabischen Friedensplan verpflichtet, der von Saudi-Arabien initiiert wurde und der den Staat Israel in seinen Grenzen von 1967 anerkennt. Keiner zweifelt daran, dass er Frieden wünscht, der sich auf eine Zwei-Staaten-Lösung gründet.


1996 WURDEN die allgemeinen Wahlen in beiden Gebieten von der Hamas (arabische Initialen für "Bewegung des islamischen Widerstandes") gewonnen. Auf israelischen Druck hin wurden die Ergebnisse annulliert. Gewaltsam übernahm die Hamas daraufhin die Kontrolle über den Gazastreifen. Da sind wir jetzt: zwei getrennte palästinensische Entitäten, deren Regierende sich gegenseitig hassen.

Oberflächliche Logik würde der israelischen Regierung diktieren, Mahmoud Abbas, der sich für den Frieden einsetzt, zu unterstützen und ihm gegen die Hamas beizustehen, die zumindest offiziell die Zerstörung Israels anstrebt. Nun das ist nicht unbedingt der Fall.

Es stimmt, dass Israel mehrere Kriege gegen die im Gazastreifen herrschende Hamas geführt hat, aber es bemüht sich nicht darum, ihn wieder zu besetzen, nachdem es sich 2005 daraus zurückgezogen hat. Netanjahu will, genau so wenig wie Ben-Gurion vor ihm, all diese Araber. Er begnügt sich mit einer Blockade, die den Gazastreifen "zum größten Freiluft-Gefängnis der Welt" macht.

Doch ein Jahr nach dem letzten Israel-Gaza-Krieg ist die Region voller Gerüchte über indirekte geheime Verhandlungen zwischen Jerusalem und Gaza, die über einen langen Waffenstillstand ("hudna" auf Arabisch), der schon an einen inoffiziellen Frieden grenzt, geführt werden.

Wie kommt das? Frieden mit dem radikalen feindlichen Regime in Gaza, während man sich der friedensorientierten Palästinensischen Behörde in der Westbank entgegenstellt?

Das klingt verrückt, ist es aber nicht. Für Netanjahu ist Mahmoud Abbas der größere Feind. Er zieht die internationale Sympathie auf sich, die UN und die meisten Regierungen der Welt erkennen seinen Staat Palästina an; er kann durchaus auf dem Weg sein, einen wirklich unabhängigen palästinensischen Staat zu errichten, Gaza eingeschlossen.

Solch eine Gefahr droht nicht vom Hamas-Ministaat in Gaza. Er wird weltweit, selbst von den meisten arabischen Staaten, als "terroristischer" Ministaat geächtet. Keiner will ihn anerkennen.


SIMPLE PRAGMATISCHE Logik könnte Israel in Richtung Hamas stoßen. Die winzige Enklave stellt keine wirkliche Gefahr für die israelische Militärmaschinerie dar, höchstens eine kleine Irritation, der alle paar Jahre mit einer kleinen militärischen Operation begegnet werden kann - wie es während der letzten paar Jahre geschah.

Es wäre logisch, wenn Netanjahu einen inoffiziellen Frieden mit dem Regime in Gaza schließen und seinen Kampf gegen das Regime in Ramallah fortsetzen würde. Warum sollte die Seeblockade des Gazastreifens aufrechterhalten werden? Warum nicht das Gegenteil tun? Lasst die Gazaner einen Tiefseehafen bauen und ihren wunderschönen internationalen Flughafen wieder aufbauen, (den Israel zerstört hat). Es würde kein Problem sein, eine Inspektion einzurichten, um den Waffenschmuggel zu verhindern.

Einmal war die Rede davon, Gaza in ein arabisches Singapur zu verwandeln. Das ist eine große Übertreibung, doch der Gazastreifen könnte eine reiche Handelsoase werden, ein Hafen für die Westbank, Jordanien und darüber hinaus.

Dies würde das PLO-Regime in der Westbank in den Schatten stellen, ihm sein internationales Ansehen entziehen und die Gefahr des Friedens abwenden. Die Annexion der Westbank - die jetzt sogar von den israelischen Linken "Judäa und Samaria" genannt wird - könnte langsam, zunächst inoffiziell, dann offiziell fortschreiten. Jüdische Siedlungen würden sich im Land immer mehr verbreiten und am Ende würde nichts außer ein paar kleinen palästinensischen Enklaven übrig bleiben. Damit würde man die Palästinenser zur Auswanderung ermutigen.


ZUM GLÜCK (für die Palästinenser) ist solch logisches Denken Netanjahu und seinen Anhängern fremd. Er hat zwei Möglichkeiten und entscheidet sich für keine von beiden.

Während er eine inoffizielle Hudna mit der Hamas in Gaza anstrebt, hält er die totale Blockade über dem Gazastreifen aufrecht. Gleichzeitig verstärkt er die Unterdrückung in der Westbank, wo die Besatzungsarmee jetzt routinemäßig etwa sechs Palästinenser pro Woche tötet.

Hinter dieser Nicht-Logik lauert ein Traum: der Traum, dass am Ende alle Araber Palästina verlassen und uns alleine lassen.

War dies die verborgene Hoffnung des Zionismus von Anfang an? Wenn man seine Literatur beurteilt, ist die Antwort nein. In seiner futuristischen Novelle "Altneuland" beschreibt Theodor Herzl ein jüdisches Gemeinwesen, in dem Araber glücklich als gleichrangige Bürger leben. Der junge Ben Gurion versuchte sogar zu beweisen, dass die palästinensischen Araber in Wahrheit Juden seien, die irgendwann keine andere Wahl hatten, als zum Islam überzutreten. Vladimir Jabotinsky, der extremste Zionist und Vorfahre der heutigen Likudpartei, schrieb ein Gedicht, in dem er einen jüdischen Staat voraussah, in dem "Der Sohn Arabiens, der Sohn Nazareths und mein Sohn / gemeinsam in Überfluss und Glück gedeihen werden."

Viele glauben jedoch, das seien leere Worte gewesen, die an die Zeitumstände angepasst waren, aber dass hinter dem allen der Grundwille gestanden habe, ganz Palästina in einen ausschließlich jüdischen Staat zu verwandeln. Dieser Wunsch, so glauben sie, habe alles zionistische Handeln von damals bis heute unbewusst gelenkt.

Diese Situation ergab sich jedoch nicht aus irgendeinem teuflischen israelischen Plan. Israelis planen nicht, sondern sie treiben die Dinge nur voran.

Indem sich das palästinensische Volk in zwei einander hassende Einheiten zersplittert, spielt es tatsächlich dem zionistischen Traum in die Hände. Anstatt sich gegen einen weit überlegenen Besatzer zu vereinigen, untergraben sie einander. In den beiden Mini-Hauptstädten Ramallah und Gaza regiert jetzt eine lokale Regierungsklasse, von denen jede ein eigennütziges Interesse daran hat, die nationale Einheit zu sabotieren.

Statt sich gegen Israel zu verbünden, hassen und bekämpfen sie einander. Die ohnehin kleine palästinensische Nation in zwei noch kleinere, einander feindliche Gebilde zu teilen, die jede für sich Israel hilflos gegenübersteht, ist ein Akt politischen Selbstmords.


OBERFLÄCHLICH betrachtet hat der Traum des israelischen rechten Flügels gewonnen. Das palästinensische Volk, auseinandergerissen und gespalten von gegenseitigem Hass, ist weit davon entfernt, erfolgreich für Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen. Dies ist aber eine vorläufige Situation.

Am Ende wird diese Situation explodieren, die palästinensische Bevölkerung, die von Tag zu Tag (von Nacht zu Nacht) wächst, wird wieder zusammen kommen und den Kampf für Freiheit wieder aufnehmen. Wie jedes andere Volk auf Erden werden sie für ihre Freiheit kämpfen.

Deshalb kann das "Teile und herrsche"-Prinzip zu einer Katastrophe führen. Das Langzeit-Interesse Israels ist es, mit dem ganzen palästinensischen Volk Frieden zu schließen, einem Volk, das dann friedlich und in enger Kooperation mit Israel in seinem eigenen Staat leben wird.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 08.08.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2015

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