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STANDPUNKT/528: Vorgestellte Nationen (Uri Avnery)


Vorgestellte Nationen

von Uri Avnery, 26. Dezember 2015


VOR ZWEI Wochen starb Benedict Anderson. Oder wie wir auf Hebräisch sagen: "Er ging in seine Welt."

Anderson, ein Ire, der in China geboren und in England groß geworden ist, sprach fließend mehrere südasiatische Sprachen und hatte einen großen Einfluss auf meine Geisteswelt.

Seinem wichtigsten Buch Imagined Communities (Die Erfindung der Nation, wörtlich: vorgestellte Gemeinschaften) verdanke ich sehr viel.


JEDER VON uns hat ein paar Bücher, die seine Weltsicht schufen und veränderten.

In meiner frühen Jugend las ich Oswald Spenglers monumentales "Der Untergang des Abendlandes". Es hatte eine anhaltende Wirkung auf mich. Spengler, jetzt fast vergessen, war davon überzeugt, dass die ganze Weltgeschichte aus einer Anzahl von "Kulturen" besteht, die menschlichen Wesen ähneln: sie werden geboren, reifen, werden in einer Zeitspanne von tausend Jahren alt und sterben. Die "alten" Kulturen der Griechen und Römer dauerten von 500 vor Chr. bis 500 nach Chr.. Ihnen folgte die "magische" östliche Kultur, die im Islam gipfelte und bis zum Aufstieg des Abendlandes dauerte. Diese Kultur ist im Sterben begriffen und ihre Nachfolgerin ist die Russlands. (Wenn Spengler heute lebte, hätte er Russland wahrscheinlich durch China ersetzt.)

Spengler war eine Art Universalgenie, er kannte auch mehrere Kulturen auf anderen Kontinenten.

Das nächste monumentale Werk, das meine Weltsicht beeinflusste, war Arnold Toynbees "Ein Studium der Geschichte". Wie Spengler, glaubte er, dass Geschichte aus "Zivilisationen" besteht, die reifen und altern, aber er fügte Spenglers Liste noch einiges hinzu. Spengler, ein Deutscher, war pessimistisch. Toynbee, ein Brite, war optimistisch. Er akzeptierte nicht die Ansicht, dass Zivilisationen verurteilt seien, nach einer gewissen Lebensspanne zu sterben. Zwar sei das bisher tatsächlich immer so gewesen, aber die Menschen könnten aus Fehlern lernen und ihren Kurs ändern.


ANDERSON BESCHÄFTIGTE sich nur mit einem Teil der Geschichte: mit der Geburt der Nationen.

Für ihn ist die Nation eine menschliche Schöpfung der letzten paar Jahrhunderte. Er widersprach der akzeptierten Sichtweise, nach der es immer schon Nationen gegeben habe, die sich nur unterschiedlichen Zeiten angepasst hätten, wie wir es in der Schule gelernt haben. Er vertrat die Ansicht, dass Nationen erst vor etwa 350 Jahren "erfunden" worden seien.

Nach europa-zentrierter Ansicht nahmen die "Nationen" ihre gegenwärtige Form in der Französischen Revolution oder unmittelbar davor an. Bis dahin lebte die Menschheit in unterschiedlichen Organisationsformen.

Primitive Menschen lebten in Stämmen, die gewöhnlich aus ungefähr 800 Individuen bestanden. Solch ein Stamm war so klein, dass er sich von einem kleinen Gebiet ernähren konnte, und er war so groß, dass er sich gegen benachbarte Stämme verteidigen konnte, die immer darauf aus waren, ihm das Gebiet wegzunehmen.

Danach entwickelten sich verschiedene Formen menschlicher Kollektive, wie der griechische Stadtstaat, das persische und römische Reich, der multi-kommunale byzantinische Staat, die islamische "Umma", die europäischen Viel-Völker-Monarchien und das westliche Kolonialreich.

Jede dieser Schöpfungen passt sich seiner Zeit und den Realitäten an. Der moderne Nationalstaat war eine Reaktion auf moderne Herausforderungen ("Herausforderung und Reaktion" war Toynbees Wechselsmechanismus). Neue Realitäten - die industrielle Revolution, die Erfindung der Eisenbahn und das Dampfschiff, immer tödlichere moderne Waffen etc. - machten kleine Fürstentümer obsolet. Ein neuer Entwurf war notwendig und fand seine beste Form in einem Staat mit zehnmillionen Menschen, genug, um eine moderne Industriewirtschaft zu erhalten, sein Gebiet mit riesigen Armeen zu verteidigen, eine allgemeine Sprache zu entwickeln als Grundlage für eine Kommunikation zwischen allen Bürgern. (Ich bitte um Verzeihung, wenn ich meine eigenen primitiven Gedanken mit denen von Anderson vermische. Ich bin zu faul, sie auseinander zu sortieren.)


SCHON VOR der Blütezeit der neuen Nationen wurden England, Schottland, Wales und Irland durch Zwang zu Großbritannien vereinigt, zu einer Nation, die so groß und stark war, dass sie einen großen Teil der Welt erobern konnte. Franzosen, Bretonen, Provenzalen, Korsen und viele andere vereinigten sich und wurden Frankreich. Es war stolz auf seine gemeinsame Sprache, die von der Druckpresse und den Massenmedien gefördert wurde.

Deutschland, ein Nachzügler auf der Bühne, bestand aus Dutzenden von souveränen Königreichen und Fürstentümern. Die Preußen und Bayern konnten sich nicht ausstehen. Städte wie Hamburg waren stolz auf ihre Unabhängigkeit. Erst während des französisch-preußischen Krieges von 1870 wurde das neue Deutsche Reich gegründet - praktisch auf dem Schlachtfeld. Die Vereinigung von "Italien" fand noch etwas später statt.

Jede dieser neuen Entitäten benötigte ein gemeinsames Bewusstsein und eine gemeinsame Sprache und so kam es zum "Nationalismus". "Deutschland, Deutschland über alles", vor der Vereinigung geschrieben, meinte ursprünglich nicht, dass Deutschland über allen Nationen stände, sondern dass das gemeinsame deutsche Vaterland über all den lokalen Fürstentümern stehe.

All diese neuen "Nationen" wollten erobern - aber als erstes "eroberten" und annektierten sie ihre Vergangenheit. Philosophen, Historiker, Lehrer und Politiker fingen eifrig damit an, ihre Vergangenheit zu einer "Nationalgeschichte" umzuschreiben. So wurde zum Beispiel die Schlacht im Teutoburger Wald (9 n. Chr.), bei der drei deutsche Stämme eine römische Armee entscheidend besiegt hatten, zu einem nationalen "deutschen" Ereignis. Der Führer Herman (Arminius) wurde posthum zu einem frühen "nationalen" Helden.

Auf diese Weise kamen Andersons "vorgestellte" Gemeinschaften zustande.

Aber Anderson zufolge wurde die moderne Nation gar nicht in Europa geboren, sondern in der westlichen Hemisphäre. Als die eingewanderten weißen Gemeinschaften in Süd- und Nord-Amerika genug von ihren unterdrückerischen europäischen Herren hatten, entwickelten sie einen lokalen (weißen) Patriotismus und wurden neue "Nationen" - Argentinien, Brasilien, die Vereinigten Staaten und all die anderen - jede eine Nation mit einer eigenen nationalen Geschichte. Von dort kam die Idee nach Europa bis die ganze Menschheit in Nationen aufgeteilt war.

Als Anderson starb, begannen die Nationen schon auseinander zu brechen wie antarktische Eisberge. Der Nationalstaat veraltet und wird schnell zur Fiktion. Eine weltweite Wirtschaft, super-nationale militärische Bündnisse, Raumflüge, weltumspannende Medien, Klimawandel und viele andere Faktoren schaffen eine neue Realität. Organisationen wie die europäische Union und die Nato übernehmen Funktionen, die einst von Nationalstaaten ausgeführt wurden.

Nicht zufällig wird die Vereinigung geografischer und ideologischer Blöcke von etwas begleitet, das eine entgegengesetzte Tendenz zu sein scheint, aber in Wirklichkeit ein sich ergänzender Prozess ist. Nationalstaaten brechen auseinander. Die Schotten, die Basken, Katalanen, Quebecer, Kurden und viele andere schreien nach Unabhängigkeit, nachdem die Sowjetunion, Jugoslawien, Serbien, der Sudan und verschiedene andere supranationale Entitäten auseinander gebrochen sind. Warum müssen Katalonien und das baskische Land unter demselben spanischen Dach leben, wenn jedes von ihnen ein eigenes, unabhängiges Mitglied der EU werden kann?


HUNDERT JAHRE nach der Französischen Revolution "erfanden" Theodor Herzl und seine Kollegen die jüdische Nation.

Das Timing war nicht zufällig. Ganz Europa wurde "national". Die Juden waren eine internationale ethnisch-religiöse Diaspora, ein Überbleibsel aus der ethnisch-religiösen Welt des Byzantinischen Reiches. Als solche erweckten sie Verdacht und Feindseligkeit. Herzl, ein eifriger Bewunderer von beiden, dem neuen deutschen Reich und dem britischen Reich, glaubte, dass er dem Antisemitismus ein Ende setzen könnte, indem er die Juden als eine territoriale Nation unter anderen neu definieren würde.

Verspätet taten er und seine Anhänger das, was alle anderen Nationen vorher getan haben: eine "nationale" Geschichte zu erfinden. Sie gründete sich auf biblische Mythen, Legenden und die Realität und sie nannten sie Zionismus. Sein Slogan war: "Wenn ihr wollt, dann ist es kein Märchen."

Der Zionismus war - was von heftigem Antisemitismus unterstützt wurde - unglaublich erfolgreich. Juden richteten sich in Palästina ein, schufen einen eigenen Staat und im Laufe der Ereignisse wurde es eine reale Nation. "Eine Nation wie alle anderen", wie ein berühmter Slogan lautete.

Das Problem war, dass der zionistische Nationalismus während dieses Prozesses nie wirklich die alte jüdische religiöse Identität überwand. Von Zeit zu Zeit zerplatzten unbequeme Kompromisse, die aus Zweckmäßigkeit eingegangen worden waren. Da der neue Staat die Macht und die finanziellen Mittel des Weltjudentums nutzen wollte, war er froh, die Verbindungen zum Weltjudentum nicht abgeschnitten zu haben und gab vor, dass die neue Nation in Palästina ("Eretz Israel") nur eine von vielen jüdischen Gemeinden war, wenn auch die vorherrschende.

Anders als der Prozess, in dem sich Staaten vom Mutterland getrennt hatten, wie Anderson es beschrieben hat, missglückten die schwachen Versuche, in Palästina eine neue separate "hebräische" Nation - etwa wie Argentinien und Kanada - zu errichten. (Schlomo Sand beschreibt das in seinen Büchern.)

Unter der gegenwärtigen israelischen Regierung wird Israel immer weniger israelisch und immer jüdischer. Kippah tragende religiöse Juden übernehmen immer mehr zentrale Regierungsfunktionen; die Bildung wird immer religiöser.

Jetzt will die Regierung ein Gesetz herausgeben, in dem der Staat Israel "Nationalstaat des jüdischen Volkes" genannt wird. Damit wird die bestehende legale Fiktion eines "jüdischen und demokratischen Staates" außer Kraft gesetzt. Der Kampf um dieses Gesetz wird wohl die entscheidende Schlacht um Israels Identität sein.

Das Konzept selbst ist natürlich lächerlich. Ein Volk und eine Nation sind zwei verschiedene Dinge. Ein Nationalstaat ist eine territoriale Entität, die ihren Bürgern gehört. Er kann nicht den Mitgliedern einer weltweiten Gemeinschaft gehören, deren Mitglieder zu verschiedenen Nationen gehören, in verschiedenen Armeen dienen und ihr Blut für verschiedene Dinge vergießen.

Außerdem bedeutet die Formulierung, dass der Staat 20 oder mehr Prozent seiner Bürger, die gar keine Juden sind, nicht gehört. Kann man sich eine Änderung in der Verfassung der USA vorstellen, in der erklärt wird, dass alle Angelsachsen weltweit US-Bürger sind, während Afroamerikaner und Hispanoamerikaner es nicht sind?

Nun vielleicht könnte Donald Trump sich das vorstellen. Vielleicht auch nicht.


ICH TRAF Benedict Anderson nie persönlich. Das ist schade. Ich hätte sehr gerne über einige dieser Begriffe mit ihm gesprochen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 26.12.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2015

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