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STANDPUNKT/541: Wenn Gott verzweifelt (Uri Avnery)


Wenn Gott verzweifelt

von Uri Avnery, 20. Februar 2016


DIREKT NACH der Gründung Israels erschien Gott David Ben Gurion und sagte zu ihm: "Du hast meinem Volk gegenüber Gutes getan. Äußere einen Wunsch und ich will ihn dir erfüllen".

"Ich wünsche mir, dass Israel jüdisch und demokratisch ist und das ganze Land zwischen Mittelmeer und Jordan umfasst," antwortete Ben-Gurion.

"Das ist selbst für mich zu viel" rief Gott aus. "Aber ich will dir zwei von den drei Wünschen erfüllen. Du kannst wählen zwischen einem jüdischen und demokratischen Israel in einem Teil des Landes, einem demokratischen Staat im ganzen Land, das nicht jüdisch ist oder einem jüdischen Israel im ganzen Land, das nicht demokratisch ist."

Gott hat seine Meinung nicht geändert.


WÄHREND ICH das schreibe, ist Benjamin Netanjahu vollkommen damit beschäftigt, ein neues Gesetz zu erlassen, ein Gesetz, das in der Geschichte Israels einen Wendepunkt darstellen würde. Die Öffentlichkeit sieht in belustigter Weise zu, als ob das, was da geschieht, in Kamtschatka geschähe.

Dieses Gesetz würde (ich könnte sagen "wird") 90 von 120 Knesset-Mitglieder in die Lage versetzen, einige oder alle anderen Mitglieder aus der Knesset zu vertreiben. Die Begründung für eine derartige Entscheidung ist nebulös: Unterstützung des "Terrorismus" - durch das Wort ebenso wie durch die Tat, Bestreiten des jüdischen Charakter des Staates und dergleichen.

Wer entscheidet darüber? Die Mehrheit natürlich.

Den unmittelbaren Anstoß zu diesem Gesetzentwurf gaben die drei arabischen Knesset-Mitglieder, die die Eltern arabischer "Terroristen" im annektierten Ost-Jerusalem besucht hatten. Ich habe dies in meinem letzten Artikel erwähnt. Sie hatten einen guten Vorwand: Sie wollten die Familien dabei unterstützen, die Leichname ihrer Söhne, die an Ort und Stelle erschossen worden waren, zu bekommen. Aber der wirkliche Grund war offenbar zu kondolieren.

Jetzt mag behauptet werden, dass eine trauernde Mutter eine trauernde Mutter ist, ungeachtet der Ursache des Todes ihres Sohnes und dass zu kondolieren eine menschliche Tugend ist. Aber das mag für Likud-Mitglieder zu humanistisch sein.

In den guten alten Zeiten, als wir die "Terroristen" waren und die Briten die Besatzer, würde ich gewiss einem Nachbarn kondoliert haben, dessen Sohn während eines Irgun-Überfalls erschossen worden ist. Ich denke, die Briten hätten mich deshalb nicht verhaftet.

Von Gesetzes wegen sind Knesset-Mitglieder immun - unterliegen also nicht der Strafverfolgung - für alles, was sie in Ausübung ihres Amtes tun. Für Knesset-Mitglieder ist ein Besuch bei ihren Wählern unter solchen Umständen solch ein Akt. Deshalb ist ein neues Gesetz nötig.

Und was für ein Gesetz!


"MAN STELLE sich so etwas in England oder in den USA vor", donnerte Netanjahu, "ein Parlamentsmitglied oder ein Kongressmann, der Terroristen unterstützt."

"Man stelle sich so etwas in Großbritannien oder den USA vor", würde ich erwidern, "ein Gesetz, dass es drei Vierteln des Parlaments oder des Kongresses erlaubt, die übrigen Mitglieder rauszuschmeißen!"

Netanjahu wurde in den USA erzogen. Ganz sicherlich wurde ihm beigebracht, dass Demokratie nicht nur bedeutet, dass die Mehrheit regiert. Adolf Hitler wurde wahrscheinlich von der Mehrheit unterstützt. Demokratie bedeutet, dass die Mehrheit die Rechte der Minderheit respektiert, einschließlich des Rechtes auf freie Meinungsäußerung.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist nicht gleichbedeutend mit dem Recht, populäre Ansichten zu äußern. Populäre Ansichten benötigen keinen Schutz. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist das Recht, Ansichten zu äußern, die von der Mehrheit verabscheut werden.

Es bedeutet ganz bestimmt auch das Recht von Minderheiten, mit friedlichen Mitteln ihre Ansichten zu äußern. Und das ist der springende Punkt bei der Sache.

Jeder versteht, dass das Recht von 90 Abgeordneten, 30 gewaltsam zu vertreiben, die Drohung ist, die Araber aus der Knesset auszuschließen. Die "arabische" Fraktion in der gegenwärtigen Knesset besteht aus 13 Mitgliedern und wird bei künftigen Wahlen wahrscheinlich größer.

(Es ist ein bisschen kompliziert. Zur "arabischen" Fraktion gehört auch ein jüdisches Mitglied, das sehr respektiert wird. Zu den "jüdischen" Fraktionen gehören einige Vorzeige-Araber, die bei ernsten Angelegenheiten nicht wagen, ihren Mund aufzumachen.)

Dies ist kein Gesetz gegen Sympathisanten von "Terroristen". Dies ist ein Gesetz gegen die arabische Minderheit. Die Knesset soll jüdisch sein, ganz einfach nur jüdisch.

Kommen wir zurück auf Gottes Abmachung mit Ben Gurion. Es wird ein jüdischer Staat im ganzen Land sein, der nicht demokratisch ist.


JUDEN SIND schon seit dem babylonischen Exil vor etwa 2500 Jahren Minderheiten. Alle Juden sind seit Tausenden von Jahren Minderheiten.

Man sollte glauben, dass 80 Generationen ausreichen, um zu lernen, wie ein Staat sich gegenüber Minderheiten verhalten sollte. Tatsächlich hätte man glauben können, dass alle Staaten der Welt Delegationen nach Israel schicken würden, um zu lernen, wie Minderheiten behandelt werden sollten. Der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl hat sicherlich so gedacht und beschrieb die idyllischen Beziehungen zwischen dem jüdischen Staat und seinen arabischen Bewohnern in seiner futuristischen Novelle "Altneuland".

Leider ist es nicht so gekommen. Die Zeiten, als ein junges und frisches Israel Progressive aus aller Welt anzog, um die Kibbuzim und Moschavim (landwirtschaftlichen Kooperativen) zu besichtigen, sind längst vorüber. (Es hat sich jetzt herausgestellt, dass einer der Präsidentschaftskandidaten der Demokraten in den USA Bernie Sanders einmal als Freiwilliger in einem Kibbuz gearbeitet hat.) Auch schon vor der Annahme des Gesetzentwurfes ist Israel eines der am wenigsten demokratischen Länder der westlichen Welt, zu der Israel gerne gehören möchte.

In der Westbank, die von Israel beherrscht wird, leben etwa 2,5 Millionen Menschen, denen alle Bürger- und Menschenrechte vorenthalten werden. Gerade in dieser Woche beschrieb Amira Hass, die mutige israelische Berichterstatterin der Besatzung, wie ein Militärtrupp mitten in der Nacht in die gemütliche Wohnung einer palästinensischen bürgerlichen Familie eindrang. Sie wurde dazu aufgefordert sofort ihr Wohnzimmer zu räumen, damit es ein Armee-Außenposten werden kann. Die Soldaten brachten ein tragbares chemisches WC mit, urinierten aber ungeniert vom Balkon.

Wir glaubten eine Zeit lang, dass Israel "die einzige Demokratie im Nahen Osten" bleiben könnte, während es große Gebiete besetzt hält. Hielten die Briten nicht hunderte Millionen Inder unterjocht, während das Heimatland ein leuchtendes Beispiel für Demokratie blieb? Sicherlich, aber ein Engländer benötigte mehrere Wochen, um von Liverpool nach Bombay zu segeln, genug Zeit, um seine Persönlichkeit zu verändern, während wir nur fünf Minuten brauchen, um von Israel in die Westbank zu kommen.


DIE ARABISCHEN Bürger im eigentlichen Israel machen 20 % der Bevölkerung aus. Sie sind der Rest einer großen Mehrheit, die meisten von ihnen waren geflohen oder wurden vertrieben.

Dieser Prozentsatz ist vom Beginn des Staates an bis heute gleich geblieben. In dieser Zeit ist die Bevölkerung Israels um mehr als das Zehnfache angewachsen.

Ein Wunder? Beinahe. Das starke natürliche Anwachsen der arabischen Bevölkerung wurde durch die Einwanderung von Juden ausgeglichen. Die Juden kamen zuerst aus den islamischen Ländern, dann aus Russland und zuletzt aus Äthiopien. Die Araber sind immer noch 20%, wie Gott es voraussah.

Die erste Generation "israelischer Araber" - wie die Juden sie zu ihrem Missfallen nennen, waren bescheiden und untertänig, noch immer geschockt von der immensen Katastrophe, die über ihr Volk gekommen war. Um der Sicherheit willen wurden sie einer "Militärregierung" unterworfen, die die Bewegungsfreiheit einschränkte. Ein Araber konnte nicht ohne schriftliche, militärische Genehmigung von einem Dorf ins andere gehen, noch weniger einen Traktor kaufen oder seinen Sohn zum Studieren schicken. Dieses System wurde erst nach 17 Jahren aufgehoben.

Man mag sich fragen, warum ihnen das Stimmrecht überhaupt gewährt wurde. Nun, da sie so gutmütig waren, entschied Ben Gurion, durch und durch Partei-Mensch, sie würden bei den Wahlen die Mehrheit seiner Partei stärken. Dies geschah tatsächlich.

Aber nun gibt es eine dritte Generation arabischer Bürger. Nun gibt es arabische Universitätsprofessoren, Chefärzte, Unternehmer, sogar Polizei-Kommandeure. Es gibt palästinensische Nationalisten, Islamisten, Kommunisten. Sie haben Gefühle, Forderungen, ja sogar die Frechheit, völlige Gleichstellung zu verlangen.

Dieses Problem wäre schon in einer normalen Situation groß genug. Aber die Situation hier ist nicht normal. Israels nationale Minderheit ist ein Teil des palästinensischen Volkes, dessen gesamtes Gebiet die gegenwärtige israelische Führung an sich reißen will.


GANZ HINTEN in meinem Kopf habe ich das Drehbuch für einen Film. Ich bin bereit, es weiterzugeben.

Zwei jüdische Brüder, nennen wir sie Abraham und David, flohen aus Nazi-Deutschland. David ging in die USA. Abraham nach Palästina.

David schließt sich natürlich der Bewegung von Martin-Luther-King an, wird ein führender Bürgerrechts-Aktivist und ist jetzt ein eifriger Mitkämpfer für die Rechte von Minderheiten. Er unterstützt auch BDS, die zum Boykott von Israels Siedlungen aufruft.

Abraham, der sich selbst Rami nennt, ist ein Offizier in der israelischen Armee, ein eifriger Nationalist und regelmäßiger Likud-Wähler, ein Bewunderer von Netanjahu. Durch reinen Zufall (dies ist schließlich ein Film) war er einmal ein Mitglied desselben Kibbuzes, in dem Bernie Sanders als freiwilliger Arbeiter war.

Er hat die Verantwortung für einen großen Teil der Westbank und ist zufällig auch verantwortlich für den Befehl, nach dem Palästinenser aus Sicherheitsgründen aus ihren Häusern geworfen werden.

David leitet eine amerikanische Menschenrechts-Delegation, die kommt, um das zu untersuchen, was in den besetzten Gebieten geschieht. Rami hat die Aufgabe, dies zu verhindern. Und so weiter.


UM AUF Gott zurückzukommen. Er schüttelt seinen Kopf. Diese Menschen - so fragt Er sich Selbst - werden sie denn nie lernen?

Kein Land hat jemals davon profitiert, dass es seine Minderheiten hinausgeworfen hat. Nazi-Deutschland warf seine jüdischen Wissenschaftler hinaus, einige von ihnen gingen in die USA und bauten für Amerika die Atombombe. Lange zuvor warf der katholische König von Frankreich die protestantischen Hugenotten hinaus, die nach Preußen emigrierten und eine kleine Garnisonstadt mit Namen Berlin in ein Weltzentrum von Industrie und Kultur verwandelten. Es gibt noch mehr Beispiele.

Falls zweitausend Jahre uns nicht irgendetwas gelehrt haben, wann werden wir jemals lernen?



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 20.02.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2016

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