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STANDPUNKT/549: Unter den Linden (Uri Avnery)


Unter den Linden

von Uri Avnery, 2. April 2016


EINER DER bekanntesten Verse der deutschen Dichtung lautet: "Grüß mich nicht unter den Linden."

Der jüdisch-deutsche Dichter Heinrich Heine bittet seine Geliebte, ihn nicht zu beschämen, indem sie ihn öffentlich auf Berlins Hauptstraße, die "Unter den Linden" genannt wird, grüßt.

Israel ist in derselben Lage wie diese verleugnete Geliebte. Arabische Länder haben eine Affäre mit Israel, wollen aber nicht mit ihm in der Öffentlichkeit gesehen werden.

Das wäre zu beschämend.


DAS WICHTIGSTE Land in dieser Hinsicht ist Saudi-Arabien. Seit einiger Zeit ist das Königreich ein heimlicher Verbündeter Israels - und umgekehrt.

In der Politik übertrumpfen nationale Interessen oft ideologische Differenzen. In diesem Fall ist es so.

Das Gebiet, das vom Westen als "Naher Osten" bezeichnet wird, ist jetzt in zwei Lager gespalten. Das eine wird von Saudi-Arabien und das andere vom Iran angeführt.

Der nördliche Bogen besteht aus dem schiitischen Iran, dem heutigen Irak mit seiner schiitischen Mehrheit, dem wichtigsten syrischen Gebiet, das von der alawitischen Gemeinde und der schiitischen Hisbollah im Libanon kontrolliert wird.

Der südliche Block, angeführt vom sunnitischen Saudi Arabien, besteht aus dem sunnitischen Ägypten und den sunnitischen Golfstaaten. Auf dunkle Weise sind sie mit dem sunnitischen islamischen Kalifat verbunden, auch als Daesh oder ISIS bekannt, das sich zwischen Syrien und dem Irak eingenistet hat. Außer Ägypten, das so arm wie eine Moschee-Maus ist, sind alle durch ihr Öl stinkreich.

Der nördliche Bogen wird von Russland unterstützt, das gerade jetzt der Assad-Familie in Syrien einen starken militärischen Auftrieb gegeben hat. Der südliche Block ist bis vor kurzem von den USA und ihren Verbündeten unterstützt worden.


DIES IST ein Bild, so ordentlich, wie es sein sollte. Die Menschen in aller Welt mögen keine komplizierten Situationen, schon gar nicht, wenn sie die Unterscheidung von Freund und Feind erschweren.

Zum Beispiel die Türkei. Die Türkei ist ein sunnitisches Land, früher säkular, jetzt aber von einer religiösen Partei regiert. Deshalb ist es logisch, dass sie Daesh stillschweigend unterstützt.

Die Türkei kämpft auch gegen die syrischen Kurden. Die kämpfen gegen Daesh und sind mit der kurdischen Minderheit in der Türkei verbündet, die von der türkischen Regierung als tödliche Bedrohung angesehen wird.

(Die Kurden sind ein eigenständiges Volk, sie sind weder arabisch noch türkisch und sind zwischen Irak, Iran, der Türkei und Syrien aufgeteilt und im Allgemeinen nicht in der Lage, sich zusammenzuschließen. Die meisten von ihnen sind Sunniten.)

Die USA kämpfen gegen Assads Syrien, das von Russland unterstützt wird. Die USA kämpfen aber auch gegen Daesch, der gegen Assads Syrien kämpft. Die syrischen Kurden kämpfen gegen Daesch, aber auch gegen Assads Armee. Die libanesische Hisbollah unterstützt Syrien stark, ein traditioneller Feind des Libanon und hält Assads Herrschaft am Leben, während diese gegen Daesch kämpft, Seite an Seite mit den USA, einem Todfeind der Hisbollah. Der Iran unterstützt Assad und kämpft gegen Daesch, Seite an Seite mit den USA, der Hisbollah und den syrischen Kurden.

Versuchen Sie das einmal auseinanderzusortieren. Keiner kann das.

Vor kurzem hat die USA ihre Orientierung gewechselt. Bis dahin war das Bild klar. Die USA benötigen das saudische Öl, so billig wie der König es liefern kann. Außerdem hassen sie den Iran, seit die schiitischen Islamisten den iranischen Schah der Schahs, einen amerikanischer Handlanger, hinausgeworfen haben. Die Islamisten nahmen die amerikanischen Diplomaten gefangen und hielten sie als Geiseln fest. Um sie zu befreien, lieferten die USA der iranischen Armee über Israel Waffen (Dies wurde Irangate genannt). Iran führte mit dem Irak Krieg, das unter der sunnitischen Diktatur Saddam Husseins stand. Die Amerikaner unterstützten Saddam gegen den Iran. Aber später überfielen sie den Irak, erhängten Saddam und lieferten den Irak tatsächlich dem Iran, seinem Todfeind, aus.

Jetzt haben es sich die USA anders überlegt (wenn man bei all dem Durcheinander von "überlegen" sprechen kann). Ihr traditionelles Bündnis mit Saudi-Arabien gegen den Iran sieht nicht mehr so attraktiv aus. Die Abhängigkeit der USA vom arabischen Öl ist nicht mehr so stark, wie sie war. Plötzlich erscheint ihnen die Saudi-religiöse Tyrannei nicht mehr so attraktiv wie die iranisch-religiöse Demokratie und ihr verlockender Markt. Schließlich stehen den 20 Millionen einheimischen Saudis 80 Millionen Iraner gegenüber.

Wir haben jetzt also ein US-iranisches Abkommen. Die westlichen Sanktionen gegen den Iran werden aufgehoben. Es sieht jetzt wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft aus. Die saudischen Prinzen schäumen vor Wut und zittern vor Angst.


WO STEHT Israel in all diesem Durcheinander? Nun, es trägt seinen Teil zu diesem Durcheinander bei.

Als der Staat Israel mitten im Krieg gegen die Araber errichtet wurde, befürwortete die Regierung etwas, das sie "Allianz der Minderheiten" nannte. Damit war eine Zusammenarbeit mit allen peripheren Faktoren in der Region gemeint: den Maroniten im Libanon (die Schiiten wurden verachtet und ignoriert), den Alawiten in Syrien, den Kurden im Irak, den Kopten in Ägypten, den Regierenden im Iran, in Äthiopien, im Südsudan, im Tschad und so weiter.

Da gab es tatsächlich lose Verbindungen mit den Maroniten. Der Iran des Schah wurde zu einem engen, wenn auch halbwegs geheimen Verbündeten. Israel half dem Schah, seine Geheimpolizei aufzubauen und der Schah erlaubte israelischen Offizieren sein Staatsgebiet zu durchqueren, um sich den kurdischen Rebellen im Nord-Irak anzuschließen und sie zu instruieren - bis der Schah leider einen Handel mit Saddam Hussein abschloss. Der Schah wurde auch ein Partner Israels im Ölgeschäft, bei dem persisches Öl über Eilat nach Ashkalon gebracht wurde, statt durch den Suez-Kanal. (Ich habe einmal einen Tag beim Bau dieser Pipeline zugebracht, die immer noch ein gemeinsames israelisch-iranisches Unternehmen ist, das einer endlosen Schlichtung unterliegt.) Jetzt ist die Situation ganz anders. Die schiitisch-sunnitische Teilung (betreffend der Nachfolge des Propheten Muhammad, die viele Generationen schlummerte, erwachte wieder und dient natürlich sehr weltlichen Interessen.

Für die Saudis ist die Konkurrenz mit dem Iran um die Vorherrschaft in der muslimischen Welt viel wichtiger als der alte Kampf mit Israel. Tatsächlich veröffentlichten die Saudis vor Jahren einen Friedensplan, der den Friedensplänen der israelischen Friedenskräfte (einschließlich der meinigen) ähnelte. Er wurde von der Arabischen Liga akzeptiert, aber von Sharons Regierung und dann von aufeinanderfolgenden israelischen Regierungen völlig ignoriert.

Benjamin Netanjahus Ratgeber brüsten sich damit, dass die geopolitische Situation Israels niemals besser als jetzt gewesen sei. Die Araber haben mit ihren eigenen Streitigkeiten zu tun. Viele arabische Länder möchten ihre geheimen Verbindungen zu Israel stärken.

Die Verbindungen mit Ägypten sind nicht einmal geheim. Der ägyptische Militär-Diktator kooperiert offen mit Israel, indem er den Gazastreifen mit seinen fast zwei Millionen Einwohnern stranguliert. Der Gazastreifen wird von der Hamas regiert, von der die ägyptische Regierung behauptet, sie stehe mit ihrem Feind Daesh in Verbindung.

Indonesien, das größte muslimische Land in der Welt, steht kurz davor, in aller Offenheit Beziehungen zu uns aufzunehmen. Israels politische und wirtschaftliche Verbindungen mit Indien, China und Russland sind gut und nehmen zu.

Das kleine Israel wird als ein militärischer Riese, als eine technische Macht, eine stabile Demokratie (wenigstens für seine jüdischen Bürger) betrachtet. Feinde wie die BDS-Bewegung sind nur Irritationen. Was stimmt also nicht?


DAMIT KEHREN wir zu den Lindenbäumen zurück. Keiner unserer arabischen Freunde will, dass wir ihn in der Öffentlichkeit grüßen. Ägypten, mit dem wir einen offiziellen Friedensvertrag haben, heißt israelische Touristen nicht mehr willkommen. Ihnen wird geraten, nicht mehr dorthin zu fahren.

Saudi Arabien und seine Verbündeten möchten keine offenen und formellen Beziehungen mit Israel. Im Gegenteil, sie sprechen über Israel weiterhin wie zur schlimmsten Zeit der arabischen Ablehnung.

Sie zitieren alle denselben Grund: die Unterdrückung des palästinensischen Volkes. Sie sagen alle dasselbe: offizielle Beziehungen mit Israel werden erst nach dem Ende des israelisch-palästinensischen Konfliktes kommen. Die Massen der arabischen Völker überall nehmen emotional zu sehr Anteil an der Notlage der Palästinenser, um offizielle Verbindungen zwischen ihren Regierenden und Israel zu dulden.

Diese Regierenden stellen alle dieselben Bedingungen, die schon von Yasser Arafat vorgebracht wurden und im saudischen Friedensplan genannt waren: ein freier palästinensischer Staat, Seite an Seite mit Israel, gegenseitig anerkannte Grenzen, die sich auf die Grenzen vom Juni 1967 gründen, dazu ein geringer Gebiets-Austausch und eine "vereinbarte" Rückkehr von Flüchtlingen ("vereinbart" mit Israel bedeutet höchstens eine symbolische Rückkehr einer sehr begrenzten Anzahl).

Die israelischen Regierungen haben niemals auf diesen Plan reagiert. Heute unter Benjamin Netanjahu sind sie weiter von diesen Bedingungen entfernt als je zuvor. Fast täglich verabschiedet unsere Regierung Gesetze, vergrößert die Siedlungen, ergreift Maßnahmen und gibt Erklärungen ab, die Israel von jedem Frieden, den die arabischen Länder akzeptieren könnten, weiter wegführt.


ZUKÜNFTIGE GENERATIONEN werden auf diese Situationen nur mit Verwunderung schauen.

Seit der Gründung der zionistischen Bewegung und ganz sicherlich seit der Schaffung des Staates Israel, haben Israelis von einer Überwindung des arabischen Widerstandes geträumt und davon, dass die arabische Welt dazu gebracht wird, den "jüdischen und demokratischen" Staat Israel als legitimes Mitglied der Region anzuerkennen.

Jetzt bietet sich die Gelegenheit dazu. Es ist möglich. Israel wird von den Arabern an ihren Tisch eingeladen. Und Israel ignoriert die Gelegenheit.

Nicht, weil Israel blind ist, sondern weil ihm die besetzten palästinensischen Gebiete und die Siedlungen wichtiger sind, als der historische Akt, Frieden zu schließen.

Darum möchte niemand in der arabischen Welt, dass wir ihn unter den Linden grüßen.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 02.04.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2016

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