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STANDPUNKT/568: Grenzenloser Hass (Uri Avnery)


Grenzenloser Hass

von Uri Avnery, 9. Juli 2016


EIN PALÄSTINENSISCHER Jugendlicher bricht in eine Siedlung ein, geht in das nächstgelegene Haus, ersticht ein 13-jähriges Mädchen im Schlaf und wird getötet.

Drei israelische Männer entführen wahllos einen 12-jährigen palästinensischen Jungen, schleppen ihn zu einem offenen Feld und verbrennen ihn bei lebendigem Leib.

Zwei Palästinenser aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Hebron betreten Israel illegal, trinken Kaffee in einem Vergnügungsviertel von Tel Aviv und schießen dann wahllos auf jeden um sich herum, bis sie festgenommen werden. Sie werden zu Nationalhelden.

Ein israelischer Soldat sieht einen schwer verwundeten palästinensischen Angreifer auf dem Boden liegen, geht auf ihn zu und schießt ihn in den Kopf aus nächster Nähe. Die meisten Israelis applaudieren ihm.

Das sind keine "normalen" Aktionen, auch nicht in einem Guerilla-Krieg. Es sind Symptome von bodenlosem Hass, einem Hass, der so abgrundtief ist, dass er alle humanen Normen überschreitet.


DAS WAR nicht immer so. Ein paar Tage nach dem Krieg von 1967, in dem Israel Ostjerusalem, die Westbank und den Gazastreifen eroberte, reiste ich alleine durch die neu besetzten Gebiete. Ich wurde fast überall willkommen geheißen. Die Menschen wollten mir ihre Waren verkaufen und ihre Geschichten erzählen. Sie waren genauso neugierig auf die Israelis, wie wir auf sie.

Damals dachten die Palästinenser nicht im Traum an eine ewig währende Besatzung. Sie hassten die jordanischen Herrscher und waren froh, dass wir sie vertrieben hatten. Sie glaubten, dass wir bald wieder abzögen und ihnen erlauben würden, sich selbst zu regieren.

In Israel sprach jeder über eine "gütige Besatzung". Der erste Militärgouverneur war ein sehr humaner Mensch, Haim Herzog, ein künftiger Präsident Israels und der Vater des gegenwärtigen Vorsitzenden der Arbeiterpartei.

Innerhalb weniger Jahre hatte sich alles geändert. Die Palästinenser realisierten, dass die Israelis keineswegs beabsichtigten, abzuziehen, sondern im Begriff waren, ihr Land zu rauben und es, im wahrsten Sinne des Wortes, mit ihren Siedlungen zu bedecken.

Etwas Ähnliches geschah 15 Jahre danach im Süd-Libanon. Die schiitische Bevölkerung begrüßte unsere Truppen mit Blumen und Honig. Sie glaubte, wir würden die Palästinenser vertreiben und wieder abziehen. Als wir es nicht taten, wurden sie zu entschlossenen Guerilla-Kämpfern und gründeten schließlich die Hizbollah.

Heutzutage herrscht überall Hass. Araber und Israelis benutzen unterschiedliche Schnellstraßen, aber es ist bedeutend schlimmer als die Apartheid in Südafrika, weil die Weißen dort kein Interesse daran hatten, die Schwarzen zu vertreiben. Es ist auch noch schlimmer als die meisten Formen von Kolonialismus, weil die Imperialmächte im Allgemeinen nicht den Eingeborenen das Land unter den Füßen wegzogen, um darauf zu siedeln.

Heutzutage herrscht uneingeschränkt gegenseitiger Hass. Die Siedler terrorisieren ihre arabischen Nachbarn. Arabische Jungen werfen Steine und improvisierte Brandbomben auf jüdische Autos, die auf den Straßen, die sie selbst nicht befahren dürfen, vorbeifahren. Kürzlich wurde das Auto eines hochrangigen Armeeoffiziers mit Steinen beworfen. Er sprang heraus, verfolgte einen Jungen, der fortlief, schoss ihm in den Rücken und tötete ihn - in eklatanter Verletzung der Armeeregeln für das Eröffnung von Feuer.


HEUTE, 120 Jahre nach dem Beginn des zionistischen Experimentes ist der Hass zwischen den beiden Völkern abgrundtief. Der Konflikt beherrscht unser Leben. Über die Hälfte aller Nachrichten in den Medien handeln von diesem Konflikt.

Wenn der Gründer des modernen Zionismus, der Wiener Journalist Theodor Herzl, wieder auferstehen würde, wäre er völlig schockiert. In der Zukunftsnovelle "Altneuland" (altes neues Land), die er auf Deutsch zu Beginn des letzten Jahrhunderts schrieb, beschrieb er in allen Einzelheiten das Leben im künftigen jüdischen Staat. Dessen arabische Einwohner werden als glückliche und patriotische Bürger geschildert, die dankbar für den ganzen Fortschritt und die Vorteile sind, die die Zionisten brachten.

Zu Beginn der jüdischen Einwanderung waren die Araber tatsächlich bemerkenswert geduldig. Vielleicht glaubten sie, dass die Zionisten eine neue Version der deutschen religiösen Einwanderer waren, die ein paar Jahrzehnte zuvor angekommen waren und in der Tat dem Land Fortschritt brachten. Diese Deutschen, die sich selbst Templer nannten (sie hatten keinerlei Verbindung mit der Kreuzfahrern des Mittelalters, die sich so genannt hatten) hatten keinerlei politische Ambitionen. Sie schufen Musterdörfer und Stadtviertel und lebten seitdem glücklich, bis die deutschen Nazis sie infizierten. Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs deportierten die Briten sie alle ins weit entfernte Australien.

Das Modelldorf, das diese Templer in der Nähe von Jaffa, Sarona, bauten, ist jetzt ein Vergnügungspark in Tel Aviv - eben genau der Ort, wo der letzte Terroranschlag stattgefunden hat.

Als die Araber realisierten, dass die neuen zionistischen Einwanderer keine Neuauflage der Templer waren, sondern eine neue aggressive kolonialistische Implantation, ließ sich ein Konflikt nicht vermeiden. Er verschlimmerte sich von Jahr zu Jahr. Der Hass zwischen den beiden Völkern scheint ständig immer neue Höhen zu ereichen.


HEUTZUTAGE SCHEINEN die beiden Völker in zwei verschiedenen Welten zu leben. Das jahrhundertealte arabische Dorf und die neue israelische Siedlung, die ein Kilomater voneinander entfernt liegen, könnten genauso auf zwei verschiedenen Planeten existieren.

Seit ihrem ersten Tag auf Erden lernen die Kinder der beiden Völker völlig verschiedene Geschichten von ihren Eltern. Das wird in der Schule fortgesetzt. In der Zeit, wo sie großgezogen wurden, haben sie nur noch wenige gemeinsame Vorstellungen.

Für einen jungen Palästinenser ist die Geschichte ziemlich einfach. Dies war ein arabisches Land seit über vierzehn Jahrhunderten, ein Teil der arabischen Zivilisation. Für einige geht der Besitz des Landes tausend Jahre zurück, da der Islam die vorhandene christliche Bevölkerung nicht vertrieb, als er Palästina eroberte. Der Islam war zu der Zeit eine bedeutend fortschrittlichere Religion. Deshalb nahmen dort lebende Christen auch den Islam an.

Aus palästinensischer Sicht beherrschten die Juden in der Antike nur ein paar Jahrzehnte das Land. Der jüdische Anspruch auf das Land heute, der auf einem Versprechen basiert, dass ihnen ihr eigener privater jüdischer Gott gegeben hat, ist nichts als eine krasse kolonialistische List. Die Zionisten kamen in das Land im 20. Jahrhundert, als Verbündete der britischen Imperialmacht, ohne irgendein Recht darauf.

Die meisten Palästinenser sind nun bereit, Frieden zu schließen und sogar in einem reduzierten palästinensischen Staat, Seite an Seite mit Israel zu leben, erhalten aber von der israelischen Regierung, die das gesamte "Groß Israel" für die jüdische Kolonialisierung behalten und nur ein paar unzusammenhängende Enklaven den Palästinensern überlassen will, eine Abfuhr.


EIN PALÄSTINENSISCHER ARABER, der glaubt, dies sei eine Wahrheit, die sich von selbst verstehe, lebt unter Umständen nur ein paar hundert Meter von einem jüdischen Israeli entfernt, der glaubt, dass das lediglich ein Haufen Lügen ist, der von arabischen Antisemiten (ein Oxymoron) erfunden wurde, um die Juden ins Meer zu treiben.

Jedes jüdische Kind in Israel lernt von klein auf, dass dieses Land den Juden von Gott gegeben wurde, die es viele Jahrhunderte beherrscht haben, bis sie Gott erzürnten und er sie aus dem Land vertrieb, als eine vorübergehende Bestrafung. Nun sind die Juden in ihr Land zurückgekommen, das von einem fremden Volk besetzt wurde, das aus Arabien kam. Dieses Volk hat nun die Frechheit, das Land als sein eigenes zu beanspruchen.

Da dem so ist, besagt die offizielle israelische Doktrin, dass es keine Lösung gibt. Wir müssen nur eine sehr, sehr lange Zeit - praktisch für die Ewigkeit - bereit sein, uns und unser Land selbst verteidigen. Frieden ist eine gefährliche Illusion.

Die naive Vision von Herzl widersprach der des rechten zionistischen Führers, Vladimir (Ze'ev) Jabotinsky. Er stellte - durchaus zu Recht - fest, dass nirgendwo in der Welt Ureinwohner jemals ihr Land friedlich an Fremde abgegeben hätte. Deshalb, sagte er, müssten wir eine "eiserne Mauer" bauen, um unsere neue Siedelung im Land unserer Vorväter zu verteidigen.

Jabotinsky, der in dem liberalen post-Risorgimento-Italien studiert hatte, hatte eine liberale Weltanschauung. Seine heutigen Nachfolger sind Binyamin Netanyahu und die Likud-Partei, die alles andere als liberal sind.

Sie würden stürmisch applaudieren, wenn Gott über Nacht alle Palästinenser von "unserem" Land verschwinden lassen würde. Vielleicht würden sie sogar in Betracht ziehen, Gott dabei ein wenig zu unterstützen.


IN DER TAT, GOTT spielt eine immer größere Rolle in dem Konflikt.

Zu Beginn spielte Gott nur eine sehr geringe Rolle. Fast alle Zionisten der ersten Generation, darunter Herzl und Jabotinsky, waren überzeugte Atheisten. Man sagte: Die Zionisten sind Leute, die zwar nicht an Gott glauben, die aber glauben, dass Gott uns das Land versprochen habe.

Das hat sich radikal geändert - auf beiden Seiten.

Zu Beginn des Konflikts, im frühen letzten Jahrhundert, war die gesamte arabische Welt vom Nationalismus im europäischen Stil infiziert. Der Islam war immer da, aber er war nicht die treibende Kraft. Arabische Nationalhelden, zum Beispiel Gamal Abd-al-Nasser, waren passionierte Nationalisten, die versprachen, die Araber zu vereinen und sie in eine Weltmacht zu verwandeln.

Der arabische Nationalismus scheiterte kläglich. Der Kommunismus schlug nie Wurzeln in islamischen Ländern. Der politische Islam, der gegen die Sowjets in Afghanistan siegreich war, gewinnt in der gesamten arabischen Welt immer mehr an Boden.

Eigenartig genug, dasselbe geschah in Israel. Nach dem Krieg 1967, in dem Israel das gesamte Heilige Land erobert hat, insbesondere den Tempelberg und die Klagemauer, verlor der atheistische Zionismus an Boden und eine gewalttätige religiöse Form des Zionismus übernahm.

In der semitischen Welt fasste der europäische Gedanke der Trennung von Kirche und Staat nie Wurzeln. Sowohl im Islam, als auch im Judentum sind Religion und Staat untrennbar.

In Israel wird nun die Macht heute von einer Regierung ausgeübt, die von der extremen Ideologie der religiösen Rechten beherrscht wird, wohingegen die "säkulare" Linke sich seit langem zurückgezogen hat.

In der arabischen Welt geschieht dasselbe - nur noch extremer. Al-Qaeda, Daesh und ihresgleichen gewinnen überall. In Ägypten und an anderen Orten versuchen Militärdiktaturen diesen Prozess aufzuhalten, aber ihre Fundamente bröckeln.

Einige von uns israelischen Atheisten haben seit Jahrzehnten vor dieser Gefahr gewarnt. Wir sagten, dass nationalistische Staaten Kompromisse erreichen und Frieden schaffen können, wohingegen dies für religiöse Bewegungen so gut wie unmöglich ist.

Säkulare Führer können ermordet werden, wie Muammar al-Gaddafi in Libyen und Yitzhak Rabin in Israel. Religiöse Bewegungen leben weiter, wenn das mit ihren Führern geschieht.

(Attentäter (assassins) sind eine Abwandlung des arabischen Wortes Hashisheen. Der Gründer dieser Sekte im 12. Jahrhunderts, der Alte Mann vom Berge, pflegte seine Abgesandten mit Haschisch zu füttern und sie auf äußerst gewagte Missionen zu senden. Der große Salah-ad-Din (Saladin) erwachte einst in seinem Bett mit einem Dolch neben sich - und ging schleunigst ein Abkommen mit dem Führer der Assassinen ein.)


ICH BIN überzeugt, dass es im größten Interesse Israels ist, Frieden mit dem palästinensischen Volk und mit der gesamten arabischen Welt zu schließen, bevor diese fatale Infektion die gesamte arabische - und muslimische - Welt ergreift.

Die Führer des palästinensischen Volkes, sowohl in der Westbank, als auch im Gazastreifen, sind noch vergleichsweise moderate Menschen. Das trifft sogar auf die Hamas, eine religiöse Bewegung, zu.

Ich würde behaupten, dass auch für den Westen allgemein von vorrangiger Bedeutung ist, den Frieden in unserer Region zu unterstützen. Die Erschütterungen, die nun mehrere arabische Länder beeinträchtigen, verheißen auch für sie nichts Gutes.

Wenn ich ein Dokument lese, wie den Quartett-Bericht von dieser Woche über den Nahen Osten, erstaunt mich ihr selbstzerstörerischer Zynismus. Dieses lächerliche Dokument des Quartetts, das sich aus den USA, Europa, Russland und der UN zusammensetzt, will ein Gleichgewicht schaffen, indem es zugleich den Eroberer und denjenigen, der erobert wurde, beschuldigt und dabei die Besatzung vollkommen ignoriert. Wahrlich ein Meisterstück der Heuchelei, die als Diplomatie ausgegeben wird.

Wenn es keine Chance auf ernsthafte Bemühungen um Frieden gibt, wird der Hass wachsen und wachsen, bis er uns alle verschlingt. Es sei denn, wir dämmen ihn rechtzeitig ein.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 09.07.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2016

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