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STANDPUNKT/574: Olympische Juden? (Uri Avnery)


Olympische Juden?

von Uri Avnery, 20. August 2016


DIE SZENE auf dem Ben Gurion-Flughafen diese Woche war ziemlich erstaunlich.

Mehr als tausend junge männliche Fans waren gekommen, um zwei israelische Judokämpfer - einen weiblichen und einen männlichen - willkommen zu heißen. Sie hatten beide bei den Olympischen Spielen in Rio eine Bronze-Medaille gewonnen.

Es war ein sehr lauter Empfang. Die Menge wurde wild, schrie, stieß sich, erhob die Fäuste.

Doch Judo ist in Israel kein sehr populärer Sport. Die israelischen Sportbegeisterten füllen die Fußballstadien und die Basketballplätze. Doch in diesen beiden Sportarten ist Israel weit davon entfernt, irgendeine Medaille zu gewinnen.

So wurden die israelischen Massen plötzlich Judo-Fans (einige nannten es "Jehudo"). Leute, die nicht vor Begeisterung wild wurden, wurden als Verräter betrachtet. Wir hörten nichts über die Judo-Kämpfer, die die Gold- oder Silber-Medaille bekamen. Gab es da überhaupt welche?


WAS GESCHEHEN wäre, wenn zur israelischen Olympia-Mannschaft auch arabische Athleten gehört hätten, können wir uns nur vorstellen. Araber? In unserer Mannschaft?

Es stimmt, die Araber machen etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung aus und einige sind im Sport sehr aktiv. Aber Gott - oder Allah - bewahrte uns vor diesem Problem. Keiner schaffte es nach Rio.

Doch da gibt es noch eine andere Frage, der Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Israel ist nach seiner offiziellen Definition ein "jüdischer Staat". Es behauptet, dem jüdischen Volk zu gehören. Es betrachtet sich selbst in gewisser Weise als Hauptquartier des "Weltjudentums".

Warum hat also keiner in Israel das geringste Interesse an Medaillen, die von Juden und Jüdinnen aus den Teams anderer Nationen gewonnen wurden? Wo ist die jüdische Solidarität? Wo bleibt der jüdische Stolz?

Nun, er existiert einfach nicht, wo es von Bedeutung wäre. Bei den Olympischen Spielen, einem höchst nationalistischen Ereignis, kümmert sich niemand um die Diaspora-Juden. Zur Hölle mit ihnen.

Es scheint, dass im Sport, mehr als in anderen Lebensbereichen, der Unterschied zwischen Israelis und Juden grundsätzlicher ist. Tatsächlich so fundamental, dass nicht einmal die Frage danach gestellt wird. Wen kümmert das schon.


DIE FRAGE wurde im Verlauf einer Debatte gestellt, die kürzlich auftauchte. Es begann mit einem kleinen Artikel von mir in der liberalen israelischen Zeitung Haaretz. Ich deutete darauf hin, dass einige der besten und intelligentesten israelischen Jugendlichen ausgewandert seien und in fremden Ländern Wurzeln fassen würden. Seltsamerweise ist ihre beliebteste neue Heimat Deutschland und die beliebteste Stadt Berlin. Ich bat die Emigranten höflich, zurückzukommen und an dem Kampf teilzunehmen, um "Israel vor sich selbst zu retten".

Einige der Israelis in Berlin lehnten höflich ab. Nein Danke, sagten sie. Sie fühlten sich in der früheren Reichshauptstadt zu Hause und hätten absolut nicht die Absicht, nach Israel zurückzukommen.

Ich war erstaunt, dass niemand von denen, die schrieben, die jüdische Gemeinde in Berlin oder anderswo auch nur erwähnte. Sie sehen sich selbst nicht als Mitglieder der weltweiten jüdischen Gemeinde, sondern eher als Mitglieder einer neuen israelischen Diaspora: wie die meisten Israelis betrachten sie Diaspora-Juden insgeheim mit Verachtung.

Aber dies kann nicht so bleiben. Mit Ausnahme jener, die sich vollständig von Religion und Tradition befreit haben, benötigen Israelis im Ausland noch immer einen Rabbi, um zu heiraten und ihren neugeborenen Sohn beschneiden zu lassen und am Ende um auf einem jüdischen Friedhof beerdigt zu werden. Über kurz oder lang werden sie ein volles Mitglied der ortsansässigen jüdischen Gemeinde.

Für diese Juden wird der ganze Prozess innerhalb von sechs oder sieben Generationen abgeschlossen sein - vom Diaspora-Juden zum Israeli, vom Israeli zurück zum Diaspora-Juden.


DER GRÜNDER des politischen Zionismus, Theodor Herzl, glaubte, dass nach der Errichtung des "Judenstaates" (nicht unbedingt in Palästina), alle Juden der Welt dorthin gehen und dort siedeln würden. Diejenigen, die nicht dorthin gehen, würden sich in dem Land, in dem sie lebten, assimilieren und aufhören, Jude zu sein.

Dies war eine einfache Idee, weil Herzl eine naive Person war, die sehr wenig über die Juden wusste. Deshalb stellte er sich einen künftigen Unterschied zwischen den Juden im jüdischen Staat und all den anderen, die dort blieben, wo sie waren oder in andere Länder emigrierten wie z.B. in die USA, nicht vor. Der Terminus "Jude" bekam zwei unterschiedliche Bedeutungen.

Die Juden waren stolz, über ein "jüdisches Volk" reden zu können, über ein einzigartiges Volk, das über die ganze Welt zerstreut war. Tatsächlich war nichts Einzigartiges daran: dies war die normale Situation im byzantinischen Reich und später im osmanischen Kalifat. Einige Aspekte wurden im britischen Mandat aufrecht erhalten und bestehen sogar heute noch in den Gesetzen Israels.

Unter diesem System, das von den Türken "Millet" genannt wurde, waren die Völker keine territoriale Einheit, sondern geographisch zerstreute religiöse Gemeinschaften, die von ihren eigenen religiösen Führern regiert wurden und dem Kaiser oder Sultan unterworfen waren. Die Juden unterschieden sich in dieser Hinsicht nicht von den Hellenisten, den unterschiedlichen christlichen Sekten und später den Muslimen.

Erst mit der Entstehung moderner Nationen, die sich auf Territorien gründen, wurden die Juden fast einzigartig. Andere religiöse Einheiten reformierten sich selbst und wurden moderne Völker. Die hartnäckigen Juden lehnten die Veränderung ab und blieben eine ethnisch-religiöse Einheit.

Herzl und seine Anhänger wollten dies ändern und Juden verspätet in eine moderne Nation mit einem eigenen "Vaterland" verwandeln. Das war die Bedeutung des Zionismus'.

Warum machten sie keine klare Unterscheidung zwischen den Mitgliedern ihrer neuen Nation und den Juden in aller Welt? Nun, es gab nie eine zionistische Ideologie wie die marxistische. Sie befürchteten auch, dass eine klare Trennung von der jüdischen Religion ihrer Sache schaden könne. So brachten sie alles durcheinander. Die jüdische Religion, die jüdische Diaspora, das jüdische Volk, der jüdische Staat - das war alles dasselbe.

Die Idee war, wenn man keinen Unterschied zwischen einem Juden in Berlin und einem Juden in Tel Aviv machte, wäre es für Juden in aller Welt einfacher, nach Israel zu gehen. Keiner dachte über die Tatsache nach, dass diese Brücke zwei Richtungen hat. Wenn es so einfach war, von Berlin nach Tel Aviv zu kommen, war es auch sehr einfach von Tel Aviv nach Berlin zu gehen. Das ist es, was jetzt geschieht.


DIES WÄRE nicht geschehen, wenn die neue Nation, die vom Zionismus geschaffen wurde, einen neuen Namen erhalten hätte.

Eine kleine Gruppe von Intellektuellen schlug vor 70 Jahren genau dies vor. Sie wollten die Mitglieder der neuen Nation in Palästina "Hebräer" nennen, während sie die Mitglieder der Diaspora weiter "Juden" nennen wollten. Dies wurde von den Zionisten streng verurteilt. Zwar wurde diese Unterscheidung in die Alltagssprache übernommen, setzte sich jedoch in der offiziellen Sprache nicht durch.

Mit der Errichtung des Staates Israel, schien es eine natürliche Lösung zu geben. Da gab es die jüdische Diaspora und es gab den Staat Israel. Juden in Israel wurden Israelis und waren stolz darauf. Wenn sie im Ausland gefragt werden, was sie seien, würden sie natürlich "Ich bin ein Israeli" antworten, niemals "Ich bin ein Jude". Ich glaube, dass ein junger israelischer Auswanderer in Berlin von heute dieselbe Antwort geben würde.

Da gibt es aber ein Problem: mehr als 20 Prozent der israelischen Bürger sind Araber. Sind sie in das Konzept der israelischen Nation eingeschlossen? Die meisten von ihnen und fast alle jüdischen Israelis würden mit einem Nein antworten. Sie betrachten sich selbst als palästinensische Minderheit in Israel.

Die einfache Lösung würde sein, die "israelischen Araber" als eine nationale Minderheit mit den vollen Rechten einer Minderheit anzuerkennen. Aber die israelische Führung ist völlig unfähig, dies zu tun. Deshalb haben wir eine ziemlich groteske Situation: die israelische Registrierungs-Behörde, die die Nationalität einer Person abfragt, weigert sich, "israelisch" zu registrieren und besteht auf "jüdisch" oder "arabisch". (In Israel bedeutet Nationalität nicht Staatsbürgerschaft).

Eine Eingabe gegen diese Entscheidung wurde von einer Gruppe israelischer Bürger (auch von mir) an das Oberste Gericht gerichtet. Sie wurde aber abgelehnt.

Einmal hatte ich darüber ein Gespräch mit Ariel Sharon. Ich fragte ihn: "Was bist du als erstes, ein Israeli oder ein Jude?" Er antwortete ohne zu zögern: "Als erstes bin ich ein Jude, erst dann ein Israeli." Meine Antwort war das Gegenteil: "Ich bin zuerst ein Israeli, erst dann ein Jude."

Sharon wurde in einem kommunalen Dorf geboren und wusste fast nichts über das Judentum. Er wurde aber im israelischen Bildungssystem erzogen, das völlig darauf ausgerichtet ist, Juden hervorzubringen.

Wenn er heute noch leben würde, hätte Sharon sicherlich den israelischen Judokas gratuliert. Es wäre ihm nicht eingefallen, sich nach jüdischen Olympiasiegern zu erkundigen.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 20.08.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2016

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