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STANDPUNKT/687: Lateinamerika tickt anders! (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Lateinamerika tickt anders!

Was sind die Gründe?
Worin äußert sich das?
Wie geht es weiter?

Von Günter Buhlke, 3. September 2017


Tief schon im Verborgenen liegende Ereignisse der Vergangenheit prägen im dialektischen Sinne menschliche Handlungen und Denkrichtungen. Das lehren uns Sigmund Freuds Forschungen zum Unterbewusstsein und Friedrich Engels "Dialektik der Natur". Davon nicht ausgeschlossen sind die Bewohner Lateinamerikas, die seit dem Sieg Fidel Castros für Aufmerksamkeit in der Welt sorgen. Ihre Erfahrungen können als Bausteine gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Handlungen verstanden werden. Das Wissen um die Geschehnisse könnte ein Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Region leisten.

Lateinamerika kommt aus der 3. Welt, mit eigenen Wertmaßstäben und eigenen Wirtschaftsverfassungen. Es besitzt Rechtsansprüche auf Veränderungen nach eigenen Vorstellungen, die in Dokumenten der UN-Weltorganisation postuliert sind.

Nachfolgend werden sieben solcher historischer und prägender Verläufe betrachtet, mit dem Ziel, künftige Entwicklungen für Verhaltensweisen besser einschätzten zu können. Weiter geben acht Bemerkungen Hinweise zur aktuellen Situation.

Die Ureinwohner haben in verschiedenen Gebieten Hochkulturen hervorgebracht. Eigene Mentalitäten und Charaktereigenschaften wurden entwickelt. Ihre Schriftsteller Neruda, Martí, Asturias, Marques, Galeano, Amado, Otero Silva, Mariatequi, I. Allende u.v.a. beschrieben die Würde ihrer Landsleute. Die gelebte Geschichte hat den Nationalstolz geformt, aber auch Traumata eingepflanzt.


Erstens

Die koloniale Unterwerfung der indigenen Völker durch Spanien, Portugal, England, Holland, Frankreich haben den Selbstbestimmungswillen der Gemeinschaften nie endgültig auslöschen können. In Mexiko, Chile, Peru und anderen Ländern gab es bewaffnete Kämpfe noch hunderte Jahre nach der Eroberung. Starke Triebfedern für die Handlungsweisen der Indigenas resultieren aus ihren vorspanischen Gesellschaftsverhältnissen. Sie waren solidarisch, auf Selbstversorgung und Gleichwertigkeit untereinander gerichtet. Gemeineigentum an Ackerland, Seen, Wäldern bestimmte die wirtschaftliche Grundordnung, die die Ernährung und Erfüllung der Bedürfnisse nach Kleidung, Wohnung und nach Sicherheit gegen äußere Einflüsse gewährleistete. Die notwendigen Ressourcen bot ihnen die Natur, deren Schutz vorrangig war. Solche Bedingungen prägten ohne Zweifel die Gene der Lateinamerikaner dauerhaft bis zur Gegenwart.

Die Entdecker und Eroberer aus Europa fanden in Lateinamerika beachtliche geistige und materielle Leistungen der Ureinwohner vor: Eine für Europa unbekannte Pflanzenzucht (Mais, Kartoffeln, Tomaten, Kakao, Zuckerrohr u.v.a.) sicherten ihre Ernährung. Bewässerungsanlagen zeugten neben der Zucht von der Fähigkeit der Ureinwohner, die Umwelt zu gestalten. Die Entwicklung der Hieroglyphenschrift in Mexiko und der Knotenschnüre der Inka (Quipus) ermöglichten eine Fernkommunikation. Die Einführung der Ziffer Null (neben China) schaffte Voraussetzungen für Berechnungen von Umläufen der Sterne sowie komplizierter Kalendersysteme, die an Genauigkeit den europäischen entsprachen. Die Azteken waren in der Lage, große Gemeinwesen zu unterhalten. Wegenetze von mehreren Tausend Kilometern erleichterten die Landesverbindungen und den Gütertransport.

Die Architektur der Tempelanlagen im heutigen Peru, Mexiko und anderen Ländern nötigt uns Hochachtung ab. Keimzellen für eine eigenständige Philosophie des Buen vivir, eines auskömmlichen Lebens, entwickelten sich eigenständig und abseits von anderen Weltregionen. Mit Zwangshandlungen und einer überlegenden Waffentechnik unterbrach die Kolonialherrschaft den von den indigenen Völkern eingeschlagenen Entwicklungsweg. Die Einführung des europäischen Grundbuchsystems raubte den Indigenas das Gemeineigentum. Die Inquisition unterband die Ausübung gewohnter Rituale. Bischof Diego de Landa ließ tausende Codizes (Bücher) der Maya verbrennen.


Zweitens

Eines der Ziele der Eroberung war u.a. die Ausnutzung der lateinamerikanischen Landflächen zur Nahrungs- und Rohstoffversorgung der Heimatländer und der Kolonisten im Land. Arbeitskräfte waren für die Latifundienwirtschaft und die Erzminen erforderlich. Von den ehemals etwa 80 Millionen Einwohnern Süd- und Mittelamerikas, die die Kolonialherren zur Zeit der Entdeckung antrafen, blieben nach rund 60 Jahren noch etwa 25 Millionen am Leben. Ursachen: Ungewohnte harte körperliche Arbeit in Bergwerken, auf Feldern ohne Maschinen und dazu aus Europa eingeschleppte Krankheiten. Neue Arbeitskräfte wurden benötigt. Sie kamen über den Sklavenhandel aus Afrika. Die Fachliteratur schätzt die Zahlen auf 20 bis 30 Millionen. Ein lukratives Geschäft. Das Handelshaus der Welser war mit über 4000 Sklaven für Venezuela beteiligt. Das belegt ihr Vertrag mit Kaiser Karl V. über die Verwaltung Venezuelas. Probleme, die die Kolonisten verursachten, gruben sich tief in Seelen der Ureinwohner. Bitter und langfristig wirkend war für die Ureinwohner und für die Sklaven, dass der geschaffene Mehrwert überwiegend den ausländischen Besitzern zu Gute kam. Steuern mussten an die Königshäuser Europas abgeführt werden. Die Tresore der Europäer füllten sich, wie auch später die der USA. Mit der von Europa und den USA bestimmten internationalen Arbeitsteilung erhielt Lateinamerika die Rolle des Rohstofflieferanten und Käufers von Fertigerzeugnissen. Ein solches Verhältnis reduziert die Akkumulationsmöglichkeit der Lateinamerikaner für die Industrialisierung, für Forschung und Entwicklung, für den Ausbau des Bildungswesens, der Gesundheitsbetreuung etc. Notwendige Kredite mussten im Ausland beschafft werden. Auslandskredite aber waren Quelle einer andauernden Staatsverschuldung mit steigenden Zinslasten.

Weitere Nachteile für die Regierungen Lateinamerikas bringen bis zur Gegenwart die Subventionierung landwirtschaftlicher Erzeignisse in den westlichen Industriestaaten und der Kauf von Landflächen durch westliche internationale Konzerne. Solche Verhältnisse verbleiben im Gedächtnis der Lateinamerikaner. 2006 erklärte der demokratisch gewählte Präsident Boliviens bei seiner Amtseinführung: "300 Jahre kolonialer Abhängigkeit und 200 Jahre nachfolgende unrechtsmäßige Aneignung unserer Reichtümer durch transnationale Unternehmen haben uns Möglichkeiten verwehrt und unsere Würde beschädigt. Wir können nicht noch länger auf Einsichten der ersten Welt warten. Wir müssen eigene Wege gehen".


Drittens

Beflügelt von den Ideen der europäischen Aufklärung und von der französischen Revolution gehörte Lateinamerika zur ersten Weltregion, die die koloniale Abhängigkeit Anfang des 19. Jahrhunderts (mit wenigen Ausnahmen) überwunden hatte. Die Skaverei wurde in Lateinamerika per Gesetz verboten. Nach der politischen Unabhängigkeit überwiegend zu Beginn des 19. Jahrhunderts blieb ihr Wille und Wunsch, ein würdiges Leben führen zu können, ungebrochen. Die nachfolgende Gründungsepoche eigener Staaten mit republikanischer Ausrichtung war ein Weg des Suchens. Probleme verursachten die unterschiedlichen Interessenslagen nationaler Kräfte, die oft mit Kräften des Auslandes verquickt waren. Die politische Unabhängigkeit war erreicht, aber nicht die wirtschaftliche. Die Interessenslagen der äußeren Wirtschaftsmächte, vor allem der Egoismus der Geldwirtschaft, beeinflusste den Geschichtsverlauf bis zur Gegenwart. Der Abfluss nationaler Reichtümer wurde von der Bildung unabhängiger Staaten kaum gebremst. Mit der Doktrin des Präsidenten James Monroe von 1823 sicherten sich die USA Lateinamerika als ihr eigenes Einflussgebiet. Simon Bolivar erkannte frühzeitig daraus entstehende Probleme. Er formulierte den Gedanken eines "großen Vaterlandes Lateinamerika" (Patria Grande). Seine Ideen knüpften starkes Band lateinamerikanischer Solidarität bis zur Gegenwart.


Viertens

Neue Erfahrungen bereicherten die Länder Lateinamerikas. Einwanderer aus Europa, die im 19. Jahrhundert, vielfach aus Armutsverhältnissen oder wegen politischer Unterdrückung aus Italien, den Balkanländern, auch aus Deutschland flüchteten, brachten ihre Erfahrungen und ihre Vorstellungen für ein Leben in Selbstbestimmung und ohne Armut mit. Das soziale Denken wurde in Lateinamerika im Kontext herrschender kapitalistischer Verhältnisse verändert. Mit den Einwanderern kamen Überzeugungen sozialistischer Parteien Europas und der Gewerkschaften nach Lateinamerika. Damit auch die Werte der französischen, englischen, französischen, deutschen Aufklärer. Die Ideen Darwins, Rousseaus, Kants, Humboldts, Hegels, Marxs u.a. bereicherten zunehmend die Denkweise Lateinamerikas. In gleicher Richtung wirkten Reisen europäischer Wissenschaftler. Humboldt, als 2. Entdecker Lateinamerikas geehrt, und Bolivar knüpften freundschaftliche Beziehungen.

Im südlichen Teil des amerikanischen Kontinents existierten aus der Kolonialzeit tiefe Gräben zwischen zwischen Armut und Reichtum. Kapitalmangel hielt die Bildung und das Gesunheitssystem auf niedrigem Niveau. Politische Parteien entstanden nach europäischem Zuschnitt und Gewerkschaften nach den Gepflogenheiten der USA. Die Saat der sozialistischen Ideen begann in den Folgezeiten zu keimen. Einige Länder nahmen die Erdöl- und Erzvorkommen in Staatsbesitz. Die lateinamerikanischen Bewegungen für Selbstbestimmung und soziale Verbesserungen erhielten mit dem Sieg Fidel Castros in Kuba Impulse für reale Wege. Die konservativen Kräfte des Kontinents setzten erneut Militärdiktaturen als probates Mittel ein. Höhepunkte der diktatorischen Barbareien waren Chile und Argentinien. Nachfolgende Demokratien brachten die Länder wieder auf einen guten Entwicklungspfad.


Fünftens

Die mit den Entwicklungen im realen Leben gesammelten Erfahrungen und neuen Denkweisen sind programmatisch aus den Verfassungen Mexikos, Kubas, Venezualas, Boliviens, Ecuadors ablesbar. Die Werte der Demokratie sind in einer großen Breite verankert. Die Pflicht zur Teilnahme an den Wahlen ist gesetzlich verankert. Entscheidungen fortschrittlicher Politiker in Brasilien (Null-Hungerprogramm), Argentinien (wir wollen Eure Politik nicht mehr, haut alle ab), Uruguay (14 Bewegungen bekennen sich zu einer Plattform) lassen neue Denkrichtungen erkennen. Ihre Verfassungskonzepte sind den europäischen weit überlegen. Die Prinzipien der UNO-Konvention für Menschenrechte von 1947 und des UN-Sozialpaktes von 1966 sind in ihren Wesenszügen in den Verfassungen enthalten. Ihre Vorstellungen eines würdigen Lebens (buèn vivir) und des Schutzes der Natur sind Staatsrechte geworden. Die mexikanische Verfassung von 1917 sieht z. B. einen Achtstundentag, den Sozialversicherungsschutz und andere soziale Sicherungssysteme vor. Sie bestimmt, dass Boden und Rohstoffvorkommen Eigentum des Staates sind. Das Sozialforum von Sao Paulo, die Wahlgewinne in Venezuela, Bolivien, Ecuador und anderen Ländern, die Zusammenschlüsse in den Verbünden von ALBA, UNASUR und CELAC müssen als Fortschritte in Richtung einer "Patria Grande" mit einer neuen Politikrichtung gewertet werden.

So wird auch die Ablehnung des neoliberalen Konzeptes der USA für Lateinamerika verständlicher. In den gleichen Ursachenkontext kann das Auftreten der Befreiungstheologen in Lateinamerika gestellt werden. Eine ihre Thesen: "Zur Beantwortung aktueller Fragen stehen uns zwei Bücher, die Bibel und das Buch des realen Lebens zur Verfügung" (Leonardo Boff). Für ihre Interpretationen wurden führende Befreiungstheologen von den amtierenden Päpsten abgestraft.


Sechstens

Einer der größten Unterschiede zur 1. Welt der westlichen Indurtrieländer besteht in der Betrachtung der Lateinamerikaner zu Krieg und Frieden. Sie verfolgen eine zutiefst humanistische Auffassung zum Wert des Friedens. Lateinamerika ist der einzigste bewohnte Kontinent der Welt, der frei von Atomwaffen ist. Weitreichende Verbotsregelungen bestimmen das Vertragswerk von Tlatelolco (Mexiko). Ihre Position zum Frieden ist ein Schritt in die Zukunft menschlicher Entwicklungen. Die Architektur ihrer Tempelanlagen laden mit breiten offenen Zugangstreppen zum Betreten ein. Dagegen zeugen in ganz Europa die Städte mit Burgen, Wehranlagen und Stadtmauern von andauernden Angriffshandlungen und Abwehrkämpfen.

Von drei Ausnahmen abgesehen, gab es im 20. und 21. Jahrhundert keine Eroberungskriege zwischen lateinamerikanischen Ländern. Bewaffnete Konflikte wurden als Bürgerkriege geführt oder von den USA von außen angezettelt. Beispiele: Guatemala (1954), Dominikanische Republik (1965), Grenada (1983), Panama, Nicaragua. Das Land Mexiko verlor 1847 in einem Eroberungskrieg etwa die Hälfte seines Territoriums. Das sind heute die amerikanischen Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, New Mexiko, Nevada, Lousiana, Utah, Colorado. 2014 erklärten die Teilnehmer der Gipfelkonferenz der CELAC, ihres höchsten Organs, im Beisein des UN Generalsekretärs Ban Ki-Moon Lateinamerika zu einer Zone des Friedens. Die Unterzeichnung des Friedensabkommens in Kolumbien im Herbst 2016 ist ein Achtungszeichen der ersten Kategorie in der heutigen Welt voller Kriege.


Siebtens

Um den Zeitraum von 1975 lebte in Lateinamerika etwa die Hälfte der Bewohner unter Militärdiktaturen oder in bedrückenden Verhältnissen von Bürgerkriegen. In- und ausländische Wirtschaftsunternehmen genossen kaum eingeschränkte Vorteile. Das ging einher mit Einschränkungen der Abhängigen bis hinein zur Mittelschicht. Die von den transnationalen Konsortien betriebene Globalisierung engte mit der Hilfe des Internationalen Währungsfonds den wirtschaftlichen und sozialen Spielraum der Länder ein. In dieser Zeitspanne erwachten erneut der Nationalstolz Lateinamerikas und die Ideen von Bolivar. Zudem hat Kuba als Beispielland den enormen Druck aus den USA und der EU widerstanden und die Einschränkungen des Verlustes der materiellen Solidarität der sozialistischen Länder überwunden.

Das 21. Jahrhundert begann mit noch nicht überwundenen Verwerfungen der westlichen Industrieländer. Das Nachdenken über die Ursachen und das Thema Marx wurde wieder aktuell. Das Nachdenken über die Zukunft, über die originäre Philosophie Lateinamerikas des Buen vivir (auskömmliches Leben) erhielt Auftrieb. In diesem Kontext sind die Wahlerfolge der linksgerichteten Regierungen in einem großen Teil der Länder zu sehen.



Wohin des Weges?

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts strebten die politischen Führer Lateinamerikas und ihre Wähler ein neues historisches Projekt, jenseits der westlichen Kapitallogik, an. Hugo Chavèz nannte es den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, ohne eine Blaupause der vorangegangenen Variante des Sozialismus zu benutzen. Ein formuliertes Programm lag nicht vor, wohl aber Ideen, die in den Verfassungen den Rang eines hohen Staatsrechts erhielten. Die Zeit drängt. Ohne die Umkehr des Wachstumwahns der kapitalistischen Logik droht die Natur mit Katastrophen und der gesellschaftliche Umbauprozess erfordert mehrere Legislaturperioden. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung ist hoch.

Zwischenzeitlich haben lateinamerikanische Länder trotz widriger Umstände und Störungen beachtliche Ergebnisse in der Armutbekämpfung, der Reduzierung des Hungers, in der Bildung, der Gesunheitsbetreuung erreicht. Lateinamerika hat bei der Erfüllung der Milleniumsziele der UNO für den Zeitraum 2001 bis 2015 eine positive Bilanz vorgelegt.


Was ist zu beachten?

(1) Die Einführung neuer Verhältnisse benötigt Zeiträume, die über mehrere Generationen verlaufen. Alles hängt bekanntlich von inneren und von äußeren Machtverhältnissen und von der Reife der Umstände ab. Im Gegensatz zur Naturwissenschaft, verfügt die Gesellschaftswissenschaft über keine Versuchslabore. Erforderlich sind komplexe analytische und wissenschaftlich begründete Vorbereitungen und die Bewertungen der Erfahrungen. Auch um eigene Fehlentwicklungen zu vermeiden.

(2) Veränderungen erfordern umfangreiche Finanzmittel, die die Lateinamerikaner nicht immer zu fairen Bedingungen von den westlichen Banken erhalten. Im internationalen Kreditranking wurden sie meist auf ein "B" oder "C" Niveau gesetzt. Das verteuert jeden Kredit (Argentinien zahlte z.B. 17 %).

(3) In der realen Welt sind politische Veränderungen keine linearen Entwicklungen. Sie verlaufen dynamisch, als Prozesse von Aktion und Gegenreaktion. Das bedeutet, das konservative Gegenkräfte sich stets den Entwicklungen entgegenstemmen. Gegenwärtig zeichnet sich dieser dialektische Prozess deutlich in Lateinamerika ab. Neoliberale konservative Kräfte Lateinamerikas, der USA und der EU, mobilisieren zur Reaktion. Finanzielle Mittel werden eingesetzt und zunehmend juristische Instrumente. Ihre Medien verbreiten Falschmeldungen, diskreditieren die Fortschrittskräfte oder verschweigen die Wahrheit als probate Mittel. Die internen Oppositionen bieten den USA Plattformen für Reaktionen. Vereint handeln sie aus einer Position der Stärke, nicht mit der Absicht Problemlagen der Länder auf dem Verhandlungsweg zu lösen.

(4) Wirtschaftliche Methoden der Auseinandersetzung: Der Erfolg des historischen Projektes Lateinamerikas hängt unter gegenwärtigen Bedingungen erheblich von den Exporteinnahmen ab. Ein Weltmarkt mit fallenden Rohstoffpreisen hilft den konservativen Kräften. Eine Manipulation der Preise kann nicht ausgeschlossen werden. Börsen setzen mit multiplen Kauf- und Verkaufsoperationen das Vielfache der jeweiligen realen Jahresproduktion eines Produktes um. Das Angebots- und Nachfrageverhältnis wird je nach Interessenslage manipulativ verändert. Die Preisentwicklung für ausgewählte Rohstoffe war in der vergangenen Zeitperiode auf "Baisse" ausgerichtet. Hinweis: Terminkontrakte ermöglichen für jeden Preistrend Gewinnmitnahmen. Der direkte Preiskampf wird von Subventionen in den USA und der EU z.B. bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen begleitet. Die Einstufung in das Kreditranking und juristische Bestimmungen des Freihandels ergänzen das Arsenal der Auseinandersetzungen. Die manipulierbare Welt des Konsums verführt große Teile der Bevölkerung und damit Wahlstimmen zum kurzfristigen Denken.

(5) Langfristig erhält die sozialistische Alternative Stabilität, wenn sie, parallel zur gerechten Verteilung, den wirtschaftlichen Fortschritt über gemischte Eigentumsformen (Gemeineigentum, genossenschaftliches Eigentum und mittelständiges Privateigentum, inklusive Handwerk) solide entwickelt. Die Instrumentarien des staatlichen Regelwerkes (Besteuerung, Förderung, Kredit- und Versicherungswesen, Berufsbildung, Forschung u.v.m.) sind der sozialen Logik anzupassen. Positive Erfahrungen aus der Betriebswirtschaft, der Betriebsorganisation und der Verwaltung sollten beibehalten und die Mitbestimmung der Belegschaften bei grundsätzlichen Entscheidungen gesetzlich verbessert werden. Sicherung der wissenschaftlichen Zielbestimmung durch die Staatliche Verwaltung mittels einer demokratischen Einbeziehungen der Beteiligten und der Abbau der Bürokratie bleiben ständige Aufgaben.

(6) Lateinamerika erlebt zur Zeit eine konzertierte Reaktionen der ersten Welt. Venezuela steht im Fokus. Das Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Opposition neigt sich scheinbar zur Seite der Opposition. Wichtig ist, dass ein inneres Chaos und der Bürgerkrieg vermieden werden. Für die Bevölkerung darf keine reale Mangelsituation zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse (Nahrung, Bildung, Gesundheit u.ä.) aufkommen. Teile der Privatwirtschaft und rechte Medien heizen Mangelzustände an. Die Regierung sucht eine demokratische Wahllösung und hofft, dass das Militär zu den Verfassungszielen steht.

(7) Zum äußeren Faktor: Die aktuelle Lage zeugt von der Skrupelosigkeit der vereint handelnden Eliten. Ein Moralverfall ist bei der Sanktionsverhängung und bei den verbalen Einschätzungen ersichtlich. Präsident Trump hat mit der Drohung einer militärischen Intervention eine weitere Eskalationsstufe gegen Venezuela verkündet. Bereits Präsident Obama stufte mit seiner Executiv Order 09-15-2015 das Land als Gefahr für die nationale Sicherheit der USA ein. Die Order bietet den US-amerikanischen staatlichen und privaten Einrichtungen juristischen Schutz für alle Handlungen gegen Venezuela.


Das historische Weltprojekt Lateinamerikas hat evolutionäre Qualitäten. Es kann zeitweilig verzögert, aber nicht aufgehalten werden. Die Feststellungen von Francis Fukuyama vom Ende der Geschichte nach 1990 haben sich in Luft aufgelöst. Einen höheren Realgehalt hat das Buch eines Präsidentschaftskandidaten der USA, Bernie Sanders, mit dem Titel "Unsere Revolution, wir brauchen eine gerechte Gesellschaft".

Venezuela, Kuba und die anderen lateinamerikanischen Länder brauchen unsere Solidarität für ihren Weg, der in der einheitlichen Welt auch unser Weg ist.


Über den Autor

Der Autor war elf Jahre als Handelsrat in Venezuela und Mexiko tätig. Weitere Erfahrungen hat er als Koordinator der Wirtschaftsbeziehungen der DDR mit Lateinamerika in der SPK sammeln können. Langfristig leitete er das Schweizer Institut für Betriebswirtschaft in Berlin. Als Buchautor hat er zuletzt ein Zukunftsbuch für Deutschland "November 2032" im Novumverlag (A) vorgestellt.


Der Schattenblick veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors eine ausführliche Originalfassung des Artikels.

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2017

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