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STANDPUNKT/697: Das schreckliche Problem (Uri Avnery)


Das schreckliche Problem

von Uri Avnery, 14. Oktober 2017


SE'EV BEGIN, der Sohn von Menachem Begin, ist ein sehr netter Mensch, es ist unmöglich, ihn nicht zu mögen. Er ist sehr gebildet, höflich und bescheiden, jemand, den man gern zum Freund haben würde.

Leider sind seine politischen Ansichten viel weniger liebenswert. Sie sind viel extremer, als die Taten seines Vaters. Dieser hatte die Irgun geleitet und dann setzte er sich hin und schloss Frieden mit Anwar al-Sadat von Ägypten. Se'ev ähnelt mehr Golda Me'ir, die Sadats Friedensouvertüren ignorierte und uns in den verheerenden Yom-Kippur-Krieg führte.

Begin jr. ist ein strikter Anhänger der "revisionistischen", zionistischen Ideologie, die von Vladimir Se'ev Jabotinsky entwickelt wurde. Eine der charakteristischen Merkmale dieser Bewegung ist, dass sie geschriebenen Texten und Erklärungen besondere Bedeutung zuschrieb. Die von David Ben Gurion geführte Labor-Bewegung kümmerte sich nicht um Worte und Erklärungen, sondern respektierte nur die "Fakten vor Ort".

In der letzten Woche schrieb Se'ev Begin einen seiner seltenen Artikel. Sein Hauptzweck war, zu beweisen, dass Frieden mit den Palästinensern unmöglich ist, ein Hirngespinst der israelischen Friedenskräfte (Haaretz 10.9.). Indem er zahlreiche palästinensische Texte, Reden und sogar Schulbücher zitiert, zeigt Begin, dass die Palästinenser nie, nie, niemals ihr "Recht auf Rückkehr" aufgeben werden.

Da, wie Begin behauptet, solch eine Rückkehr das Ende des jüdischen Staates nach sich ziehen würde, wäre Frieden ein Hirngespinst. Es wird nie Frieden geben. Ende der Geschichte.


EINEN ÄHNLICHEN Standpunkt nimmt ein anderer tiefgründiger Denker ein, Alexander Jakobson in einem anderen bedeutenden Artikel in Haaretz (26.9.). Er ist persönlich gegen mich gerichtet und seine Schlagzeile behauptet, dass ich wohl "Israel treu sei aber nicht der Wahrheit". Er beschuldigt mich, der BDS-Bewegung gegenüber tolerant zu sein, die darauf aus ist, Israel ein Ende zu setzen.

Woher weiß er das? Ganz einfach: BDS bestätigt das palästinensische "Rückkehrrecht", das, wie jeder weiß, die Zerstörung des jüdischen Staates bedeutet.

Nun, tatsächlich bin ich aus mehreren Gründen gegen die BDS. Die Bewegung, zu der ich gehöre, Gush Shalom, war die erste, die (1997) einen Boykott gegen die Siedlungen erklärte. Unser Ziel war es, das israelische Volk von den Siedlungen zu trennen. Die BDS (Boykott, Divestment, Sanktionen)-Bewegung, die ganz Israel boykottiert, erreicht den gegenteiligen Effekt: Sie stößt das israelische Volk in die Arme der Siedler.

Außerdem schätze ich es durchaus nicht, wenn Leute dazu aufgerufen werden, mich zu boykottieren.

Aber von all den Punkten der BDS-Plattform stört mich die Forderung, dass der Staat Israel das palästinensische Rückkehrrecht anerkennen sollte, am wenigsten. Es ist einfach lächerlich. Es wird in tausend Jahren nicht passieren, dass die BDS Israel zwingt, dies zu tun. Warum sich also ärgern?



BRINGEN WIR zunächst etwas Licht in die Sache.

Als sich die Briten 1948 aus Palästina zurückzogen, gab es im Land zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan etwa 1,2 Millionen Araber und 635.000 Juden. Nach dem Ende des Krieges, der folgte, waren etwa 700.000 Araber geflohen und/oder vertrieben worden. Es war ein Krieg, der (später) "ethnische Säuberung" genannt wurde. Zwar waren in den von den jüdischen Waffen eroberten Gebieten nur wenige Araber übrig, man sollte jedoch auch daran denken, dass in den Gebieten, die die arabischen Waffen erobert hatten, gar keine Juden übrig geblieben waren. Zum Glück - für unsere Seite - gelang es den Arabern nur schmale Streifen des von Juden bewohnten Landes zu besetzen (wie den Etzion-Block, Ost-Jerusalem u.a.), während unsere Seite große, bewohnte Gebiete eroberte. Als Frontsoldat sah ich alles mit eigenen Augen.

Die arabischen Flüchtlinge vervielfachten sich auf natürliche Weise und zählen heute etwa 6 Millionen. Über 1,5 Millionen von ihnen leben in der besetzten Westbank, etwa eine Million im Gazastreifen, der Rest lebt verteilt in Jordanien, im Libanon, Syrien und in aller Welt.

Würden Sie alle zurückkommen, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gäbe? Schauen wir uns dies näher an.



VOR JAHREN machte ich eine einmalige Erfahrung.

Ich war in New York zu einem Vortrag eingeladen. Zu meiner Überraschung sah ich in der vordersten Reihe einen guten Freund von mir sitzen, den jungen arabischen Dichter Rashid Hussein. Er war in einem Dorf bei Nazareth geboren worden. Er bat mich, ihn in seiner Wohnung in New Jersey zu besuchen.

Als ich ankam, war ich verblüfft; denn die kleine Wohnung war mit palästinensischen Flüchtlingen überfüllt - jungen und alten, Männern und Frauen. Wir hatten eine lange und äußerst bewegende Diskussion über das Flüchtlingsproblem.

Als wir nach Hause fuhren, sagte ich zu meiner Frau: "Weißt du, was ich empfand? Dass nur wenige von ihnen gerne zurückkehren würden, aber alle dazu bereit wären, für ihr Rückkehrrecht zu sterben.

Rachel, eine sehr scharfe Beobachterin, antwortete, sie hätte denselben Eindruck gehabt.


HEUTE, VIELE Jahre später, bin ich davon überzeugt, dass diese Grundwahrheit noch immer gültig ist: Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem Prinzip und seiner Erfüllung.

Das Prinzip darf nicht bestritten werden. Es ist das Eigentum eines jeden einzelnen Flüchtlings. Es ist durch das Völkerrecht gewährleistet. Es ist heilig.

Jeder zukünftige Friedensvertrag zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina muss einen Paragraphen einschließen, der besagt, dass Israel im Prinzip das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen anerkennt.

Kein palästinensischer Führer könnte einen Vertrag unterzeichnen, der nicht diese Klausel enthält.

Erst wenn dieses Hindernis beseitigt worden ist, kann die wirkliche Diskussion über die Lösung beginnen.

Ich kann mir die Szene vorstellen: Nachdem in der Friedenskonferenz darüber Übereinstimmung erzielt worden ist, wird der Vorsitzende tief durchatmen und sagen: "Jetzt Freunde, lasst uns das wirkliche Problem anfassen. Wie werden wir das Flüchtlingsproblem tatsächlich lösen?"

Die sechs Millionen palästinensischen Flüchtlinge stellen sechs Millionen individuelle Situationen dar. Es gibt viele Kategorien von Flüchtlingen. Keine einzige Lösung passt für alle.

Es sind viele Flüchtlinge - vielleicht haben die meisten von ihnen während der letzten 50 Jahre sich schon in einem anderen Land eine neue Existenz aufgebaut. Für diese ist das Rückkehrrecht - nun - ein Prinzip. Sie würden nicht im Traum daran denken, in ihr altes Dorf zurückzukehren, selbst dann nicht, wenn es noch stehen würde. Einigen geht es gut, einige sind reich, einige sehr reich.

Einer der reichsten ist mein Freund (darf ich Dich so nennen?) Salman Abu Sitta, der sein Leben als barfüßiger Junge in der Negev-Wüste begann, 1948 mit seiner Familie nach Gaza floh und später ein ungemein erfolgreicher Unternehmer in England und am Golf wurde. Wir lernten uns bei einer Friedenskonferenz kennen, trafen uns danach zu einem emotionalen privaten Abendessen und waren nicht einer Meinung.

Abu Sitta besteht darauf, dass es allen Flüchtlingen erlaubt sein muss, nach Israel zurückzukehren, auch wenn sie in der Negev-Wüste angesiedelt würden. Ich kann darin keine praktische Logik erkennen.

Ich habe mit Palästinensern Hunderte von Gesprächen über mögliche Lösungen geführt, von Yasser Arafat bis zu Menschen in Flüchtlingslagern. Die große Mehrheit würde heute eine Formel unterschreiben, die besagt, eine "gerechte und vereinbarte Lösung des Flüchtlingsproblems" werde angestrebt. "Vereinbart" heißt, dass die Lösung mit Israel vereinbart werden muss.

Diese Formel erscheint im "Arabischen Friedensplan", der von Saudi-Arabien entworfen und offiziell von der ganzen muslimischen Welt akzeptiert wird.

Wie würde das in der Praxis aussehen? Es bedeutet, dass jeder Flüchtlingsfamilie die Wahl zwischen tatsächlicher Rückkehr und angemessener Entschädigung angeboten würde.

Rückkehr - wohin? In einigen wenigen außerordentlichen Fällen in ihr noch leer stehendes Dorf. Ich kann mir vorstellen, dass einige solcher Dörfer - sagen wir zwei oder drei - von ihren früheren Bewohnern symbolisch wieder aufgebaut werden.

Einer "abgesprochenen" Anzahl muss es erlaubt werden, in das Gebiet von Israel zurückzukehren, besonders dann, wenn sie noch Verwandte hier haben, die ihnen helfen können, wieder Wurzeln zu fassen.

Dies ist eine schwierige Angelegenheit für Israelis - aber nicht zu schwierig. Israel hat noch 2 Millionen arabische Bürger, mehr als 20 % der Bevölkerung. Eine weitere - sagen wir - Viertel Million würde keinen wirklichen Unterschied machen.

Allen anderen würde eine großzügige Entschädigung gezahlt werden. Sie könnten damit ihr Leben dort konsolidieren, wo sie jetzt sind oder in Länder wie Australien und Kanada auswandern, die sie (mit ihrem Geld) gerne aufnehmen würden.

Etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge leben in der Westbank und im Gazastreifen. Eine andere große Anzahl lebt als jordanische Bürger in Jordanien. Viele leben noch in Flüchtlingslagern. All diese würden Entschädigungssummen willkommen heißen.

Woher wird das Geld kommen? Israel muss seinen Anteil zahlen (und gleichzeitig sein riesiges Militärbudget reduzieren). Die Weltorganisationen werden einen großen Teil beitragen müssen.



IST DIES machbar? Ja es ist machbar.

Ich wage, noch mehr zu sagen: Falls die Atmosphäre stimmt, ist es sogar wahrscheinlich. Im Gegensatz zu Begins Überzeugung, wie sie heute in Artikeln von arabischen Demagogen geschrieben den heutigen Zwecken dient, wird eine Lösung wie diese - so oder ähnlich -, wenn der Prozess erst einmal ins Rollen kommt, fast unvermeidlich.

Wir wollen keinen Augenblick lang vergessen: Diese "Flüchtlinge" sind Menschen.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 14.10.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2017

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