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STANDPUNKT/698: Ein neuer Start (Uri Avnery)


Ein neuer Start

von Uri Avnery, 21. Oktober 2017


EINES TAGES hatte die Labor-Partei das Gefühl, sie brauche einen neuen Führer.

Das erlebt diese Partei alle paar Jahre. Die Partei ist in schlechter Verfassung. Sie sieht eher wie ein politischer Leichnam aus, denn wie ein lebender Organismus. Gesucht wird ein neuer Führer, der charismatisch, energisch und enthusiastisch ist.

Man fand Avi Gabbay.

Warum ihn? Keiner weiß das so genau.

Avi Gabbay hat keine sichtbaren Eigenschaften, die ihn zu einem politischen Führer qualifizieren würden. Überhaupt kein Charisma. Nicht besonders viel Energie. Er besitzt selbst keinen Enthusiasmus und auch nicht die Fähigkeit, andere zu begeistern.

Nachdem er zunächst als Regierungsbeamter für die Mobiltelefon-Industrie zuständig war, wurde er selbst zum erfolgreichen Direktor des größten Mobiltelefon-Konzerns. Dann ging er in die Politik, schloss sich einer moderaten Partei des rechten Flügels an und wurde zum Minister für Umweltschutz ernannt. Als der extrem rechte Avigdor Lieberman zum Verteidigungsminister ernannt wurde, verließ Gabbay die Regierung und seine Partei und schloss sich der Labor-Partei an. Das war erst vor einem Jahr.

Er hat einen bedeutsamen Vorzug: er ist ein Mizrahi, ein orientalischer Jude. Seine Eltern sind Einwanderer aus Marokko. Er ist das siebte von acht Kindern. Da die Labor-Partei als westliche, ashkenasische Elitegruppe angesehen wird, sind diese passiven Attribute wichtig. Bis zu einem gewissen Grad.


GABBAY VERSCHWENDETE keine Zeit und präsentierte seinen politischen Personalausweis.

Als erstes hielt er eine Rede, in der er erklärte, dass er nicht mit der "Gemeinsamen Liste" in derselben Regierung sitzen wolle.

Die Gemeinsame Liste ist die vereinigte (oder nicht vereinigte) Liste der arabischen Gemeinschaft in Israel. Sie vereinigt die drei sehr unterschiedlichen arabischen Parteien: die kommunistische Partei, die zwar überwiegend arabisch ist, der aber auch einige Juden (darunter ein jüdischer Abgeordneter im Parlament) angehören, die säkulare und nationalistische Balad-Partei und eine islamisch-religiöse Partei.

Wie kommt es, dass diese so verschiedenen Parteien sich zu einer gemeinsamen Liste zusammenschlossen? Sie verdanken diese Errungenschaft dem Genius des großen Araber-Hassers Avigdor Lieberman (siehe oben), der sah, dass alle drei Parteien klein waren und beschloss, sie zu eliminieren, indem er die Prozent-Hürde erhöhte. Aber anstatt einzeln zugrunde zu gehen, entschlossen sie sich, gemeinsam zu überleben. Zweifellos vertritt ihre Liste die große Mehrheit der palästinensischen Bürgern Israels, die mehr als 20% der Bevölkerung darstellen. So seltsam dies klingen mag, jeder fünfte Israeli ist ein Araber.

Die einfache numerische Tatsache ist, dass ohne die Unterstützung der arabischen Mitglieder in der Knesset, keine linke Regierung existieren kann. Yitzhak Rabin wäre nicht Ministerpräsident geworden und das Oslo-Abkommen wäre nicht zustande gekommen, ohne die Unterstützung "von außen", vom arabischen Block.

Warum schlossen sie sich nicht Rabins Regierung an? Beide Seiten hatten Angst, Stimmen zu verlieren. Viele Juden können sich keine Regierung vorstellen, in der Araber sitzen; und viele Araber können sich nicht vorstellen, dass ihre Vertreter "gemeinsame Verantwortung" in einer Regierung übernehmen, die sich vor allem damit beschäftigt, Araber zu bekämpfen.

Das hat sich nicht verändert. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich die Araber einer Gabbay-Regierung anschließen, wenn er sie einlüde, sich ihm anzuschließen. Es ist sogar noch unwahrscheinlicher, dass sie solch eine Einladung bekämen.

Warum also solch eine Erklärung abgeben? Gabbay ist kein Dummkopf. Weit davon entfernt. Er ist davon überzeugt, dass er die Araber bereits in der Tasche hat. Sie konnten sich nicht einer Likud-Regierung anschließen. Indem er eine offensichtlich anti-arabische Erklärung abgibt, hofft er, Stimmen vom rechten Flügel zu gewinnen.

Sein Vorgänger Yitzhak Herzog hat sich öffentlich beklagt, dass zu viele Leute die Labor-Partei beschuldigen, sie bestehe aus "Araber-Liebhabern". Schrecklich.


FALLS IRGENDJEMAND gehofft hatte, dass dies ein einmaliger Ausrutscher gewesen sei, so belehrte Gabbay ihn eines Besseren. Nach dem ersten Schlag kamen weitere.

Er erklärte: "Wir haben keinen Partner für den Frieden". Das ist die gefährlichste Parole der Populisten. "Kein Partner" bedeutet, dass es keinen Sinn hat, sich zu bemühen. Es wird keinen Frieden geben. Niemals.

Er erklärte, dass Gott Abraham das ganze Land zwischen dem Meer und dem Jordan versprochen hat. Das ist nicht ganz korrekt. Gott hat uns alles Land vom Euphrat bis zum Fluss Ägyptens versprochen. Gott hat dieses Versprechen nie gehalten.

Letzte Woche erklärte Gabbay, dass in einem zukünftigen Friedensabkommen mit den Palästinensern keine einzige Siedlung in der Westbank geräumt werden würde.

Bis jetzt gibt es ein schweigendes Übereinkommen zwischen israelischen und palästinensischen Friedensaktivisten, dass Frieden einen begrenzten Gebietsaustausch zur Grundlage haben werde. Die sogenannten "Siedlungsblocks" (Gruppen von Siedlungen nahe der Grünen Linie) werden Israel angeschlossen und ein gleichgroßes Stück israelisches Land (z.B. entlang dem Gazastreifen) wird Palästina angeschlossen. Das würde dazu führen, dass einige Dutzend "isolierter" Siedlungen in der Westbank, die im Allgemeinen von fanatisch-religiösen Rechten bewohnt werden, mit Gewalt geräumt werden müssten.

Gabbays neue Erklärung bedeutet, dass nach einem Friedensabkommen diese Inseln rassistischen Extremismus dort weiterexistieren, wo sie jetzt sind. Kein Palästinenser wird damit einverstanden sein. Dies macht den Frieden allein schon theoretisch unmöglich.

Im Allgemeinen stimmt Gabbay der "Zwei-Staaten-Lösung" zu - aber nur unter gewissen Bedingungen. Erstens, die israelische Armee müsste im ganzen entmilitarisierten palästinensischen Staat frei handeln dürfen. Sie würde auch entlang des Jordans in Stellung gebracht und damit den palästinensischen "Staat" zu einer Art Enklave machen.

Dies ist ein "Friedensplan" ohne Interessenten. Gabbay ist viel zu klug, um dies nicht zu realisieren. Aber all dies ist nicht für arabische Ohren gedacht. Es soll rechte Israelis anlocken. Da eine von Labor geführte "Zentrum-Linke"-Koalition rechte oder religiöse Stimmen braucht, sieht die Beweisführung vernünftig aus. Sie ist es aber nicht.

Es besteht keine Aussicht, dass eine bedeutende Anzahl Rechter sich nach links bewegt, selbst wenn die Linke von einer Person wie Gabbay geführt wird. Die Rechten verabscheuen die Labor-Partei nicht erst seit gestern, sondern seit Generationen.


DIE LABOR-PARTEI wurde vor hundert Jahren geboren. Sie war die politische Hauptkraft, die zur Gründung des jüdischen Staates führte und ihn fast dreißig Jahre lang führte. Ihre Macht war gewaltig, viele (auch ich) beschuldigten sie diktatorischer Tendenzen.

Während all dieser Jahre war die Hauptbeschäftigung der zionistischen Führung der historische Kampf gegen das palästinensische Volk um den Besitz des Landes. Abgesehen von einer winzigen Minderheit war die Partei immer nationalistisch, sogar militaristisch. Sie war nur in ihren sozialen Aktivitäten links. Sie schuf die jüdische Arbeiterbewegung, die mächtige Handelsunion (die "Histadrut"), die Kibbuzim und vieles mehr.

Dieses soziale Netzwerk ist seit langem degeneriert. Korruption herrschte vor, viele Skandale wurden aufgedeckt (vor allem von meinem Nachrichten-Magazin). Als der rechte Flügel unter Menachem Begin 1977 die Regierung übernahm, war die Labor-Partei bereits ein lebender Leichnam. Sie hat viele Male den Namen geändert (ihr derzeitiger Name ist "das zionistische Lager"), aber sie ist trotzdem von einer Wahl zur anderen geschrumpft.


KANN DIE Labor-Partei überhaupt noch gerettet werden? Ich bezweifle es.

Nach einem kraftvollen, spontanen sozialen Aufstand schien es während der letzten Wahlen eine neue Chance zu geben. Einige der neuen Führer und Führerinnen, die aus dem Nichts erschienen, traten der Labor-Partei bei und kamen in die Knesset. Sie sind echte Linke und Friedensaktivisten. Aber irgendwie wurden ihre Stimmen immer gedämpfter. Statt die Partei zu inspirieren, machte die Partei sie mundtot. Das ist anscheinend nicht rückgängig zu machen.

Eine nie gestellte Frage ist, will die Partei wirklich die Macht übernehmen? Wie es aussieht, ist die Antwort: Ja, natürlich. Ist dies nicht das höchste politische Ziel?

Nun, ich bezweifle es. Die Existenz einer parlamentarischen Opposition ist sehr bequem. Ich weiß es, weil ich zehn Jahre lang in dieser Situation war. Die Knesset ist ein guter Platz, man wird die ganze Zeit von den Saaldienern verwöhnt, man bekommt ein gutes Gehalt und ein Büro, man hat überhaupt keine Verantwortung zu tragen (falls man sich nicht selbst welche schafft). Man muss sich natürlich bemühen, alle vier Jahre wieder gewählt zu werden. Deshalb rührt man sich nicht vom Fleck, wenn man nicht geradewegs wild darauf ist, Minister zu werden, also ein Mensch mit viel Arbeit und Verantwortlichkeiten, der noch dazu der Kritik der Öffentlichkeit ausgesetzt ist.


WAS IST nun die praktische Schlussfolgerung daraus? Vergessen wir die Labor-Partei und schaffen eine neue politische Kraft.

Wir brauchen neue, junge, charismatische und entschlossene Führer, die dem Friedenslager mit eindeutigen Zielen neuen Schwung geben.

Ich bin nicht der Meinung manch eines anderen, dass die Öffentlichkeit in eine rechte Mehrheit und eine linke Minderheit, die Orthodoxen auf der einen Seite und die Araber auf der anderen Seite gespalten wäre.

Ich bin davon überzeugt, dass es eine rechte Minderheit und eine linke Minderheit gibt. Zwischen beiden gibt es eine große Menge Leute, die auf eine Botschaft warten, die sich Frieden wünschen, jedoch einer Gehirnwäsche unterzogen wurden und nun glauben, dass Frieden unmöglich ist ("es gibt keinen Partner").

Was wir dringend benötigen, ist ein neuer Anfang.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 21.10.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2017

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