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STANDPUNKT/948: Die Pandemie und die Mächte (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. April 2020
german-foreign-policy.com

Die Pandemie und die Mächte

Experten: Coronakrise kann ökonomischen und politischen Abstieg Deutschlands und des Westens beschleunigen.


BERLIN/WASHINGTON/BEIJING - Die Coronakrise kann den ökonomischen und politischen Abstieg Deutschlands und der westlichen Mächte beschleunigen. Dies geht aus den jüngsten Wirtschaftsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und aus Analysen von US-Außenpolitikexperten hervor. Wie es etwa in der US-Fachzeitschrift Foreign Policy heißt, habe das "peinliche Debakel" der Trump'schen Krisenpolitik den Ruf der Vereinigten Staaten als eines Landes, "das weiß, wie man etwas wirkungsvoll tut", empfindlich geschädigt. Andere Länder seien eher bereit, sich an Staaten zu orientieren, "die den Höhepunkt der Infektion hinter sich haben" - etwa an China, urteilt der Präsident des renommierten Council on Foreign Relations. Auch die EU habe in der Krise versagt. Ökonomisch wird China laut dem IWF weniger unter der Pandemie leiden als die westlichen Länder: Seine Wirtschaftsleistung werde schneller als vermutet diejenige der Eurozone hinter sich lassen und sich derjenigen der Vereinigten Staaten annähern. Die sich abzeichnende Machtverschiebung wird im Westen von aggressiver Stimmungsmache gegen China begleitet.

Vor dem Absturz

Besonders schwer wird der dramatische Absturz der Weltwirtschaft laut der jüngsten Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) die westlichen Industriestaaten und unter diesen vor allem die Länder der Eurozone treffen. Rechnet der IWF für das laufende Jahr mit dem Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung um 3,0 Prozent, so sagt er den Industriestaaten einen Einbruch um 6,1 Prozent voraus - 5,9 Prozent in den Vereinigten Staaten, 7,5 Prozent in der Eurozone. Deutschland steht demnach vor Einbußen beim Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 7,0 Prozent. Dabei hebt der IWF ausdrücklich hervor, dass seine Vorhersage nur für den Fall gilt, dass die Covid-19-Pandemie in diesem Quartal ihren Höhepunkt erreicht und anschließend ihre Eindämmung gelingt. Dann könne es möglich sein, in den Industriestaaten im kommenden Jahr ein Wachstum von 4,5 Prozent zu erreichen - jeweils 4,7 Prozent in den USA und in der Eurozone, 5,2 Prozent in Deutschland. Freilich läge auch dann die Wirtschaftsleistung des Jahres 2021 im Westen noch klar unterhalb der Wirtschaftsleistung von 2019.[1] Laut IWF sind allerdings, sollten die rasche Eindämmung der Pandemie scheitern oder eine zweite, womöglich gar eine dritte Welle um sich greifen, beträchlich schwerere wirtschaftliche Einbußen möglich.

"Überraschend gut erholt"

Mit den voraussichtlichen Einbrüchen im Westen konstrastiert recht deutlich die Entwicklung in China. Die dortige Regierung hat nach anfänglichen Fehlern noch im Januar scharf durchgegriffen und es mit harten Einschränkungen für Gesellschaft und Wirtschaft erreicht, dass die Pandemie eingedämmt werden konnte: Die einheimischen Neuinfektionen liegen nahe bei Null, während die Gesamtzahl der Infizierten und der Todesfälle inzwischen nicht nur von den Vereinigten Staaten, sondern auch von mehreren Ländern Europas übertroffen wird, darunter Deutschland. Zwar ist die chinesische Wirtschaft im ersten Quartal stark kollabiert; jüngste Schätzungen gehen von einem massiven Rückgang um 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum (Januar bis März 2019) respektive um 9,9 Prozent gegenüber dem Vorquartal (Oktober bis Dezember 2019) aus.[2] Doch gewinnt der Neustart längst wieder an Fahrt. Zu Monatsbeginn hieß es, die meisten chinesischen Fabriken arbeiteten bereits mit 80 Prozent ihrer Kapazitäten; einige näherten sich sogar schon 100 Prozent.[3] Der Vorsitzende der EU-Handelskammer in China, Jörg Wuttke, urteilt: "Das verarbeitende Gewerbe erholt sich ziemlich gut, überraschend gut".[4] Der IWF prognostiziert der Volksrepublik für das laufende Jahr ein Wachstum von 1,2 Prozent. Das wäre zwar so wenig wie noch nie seit 1976, aber immer noch signifikant besser als die dramatischen Einbrüche im Westen. Für 2021 hält der IWF ein Wachstum um 9,2 Prozent in China für erreichbar.[5]

Auf dem Weg zur Spitze

Damit zeichnet sich ab, dass China bereits zum zweiten Mal seit dem Kollaps der Finanzmärkte im Jahr 2008 eine globale Krise besser übersteht als die westlichen Mächte und letztlich gestärkt aus ihr hervorgeht. Treffen die Prognosen des IWF zu, dann wird das chinesische Bruttoinlandsprodukt von 14,2 Billionen US-Dollar im Jahr 2019 auf 15,69 Billionen US-Dollar im Jahr 2021 wachsen und sich schneller als bisher vermutet dem Bruttoinlandsprodukt der USA nähern, das von 21,2 Billionen US-Dollar (2019) auf 20,89 Billionen US-Dollar (2021) schrumpfen wird. Die Eurozone, deren Wirtschaftsleistung 2019 14,0 Billionen US-Dollar erreichte, wird weiter zurückfallen - auf nur noch 13,56 Billionen US-Dollar im Jahr 2021. Während die westlichen Staaten nicht umhin kämen, harte Ausgabenkürzungen vorzunehmen, könnte Beijing weiter in seinen ökonomisch-technologischen Aufschwung investieren. Sein Aufstieg zur weltstärksten Wirtschaftsmacht erhielte durch die Krise einen erneuten Schub. Entsprechend setzen Berlin und Washington alles daran, den Neustart von Industrie und Handel zu beschleunigen, um die krisenbedingten Geschäftsausfälle im Westen zu minimieren. Dabei gehen sie hohe Risiken ein: Ließen sie schon im März mit ihrem - letztlich gescheiterten - Versuch, Einschränkungen des öffentlichen Lebens mit Rücksicht auf kurzfristige Unternehmensinteressen zu vermeiden, die Covid-19-Pandemie viel weiter ausgreifen als China (german-foreign-policy.com berichtete [6]), so droht jetzt eine allzu frühe Aufhebung der Einschränkungen einer zweiten Welle der Pandemie Vorschub zu leisten.

"Ein peinliches Debakel"

Neben dem wirtschaftlichen zeichnet sich immer deutlicher auch ein politischer Einflussverlust der westlichen Mächte ab. Ursache ist nicht zuletzt ihre unzulängliche Vorbereitung auf die seit Mitte Januar erkennbar ausgreifende Pandemie: Während sie schlimmer unter Covid-19 leiden als die Volksrepublik und bis heute nicht einmal über ausreichend Schutzausrüstung verfügen - weder für ihr medizinisches Personal noch für ihre Bevölkerung -, hält China nach seiner erfolgreichen Eindämmung des Virus nicht nur Blaupausen für den Kampf gegen die Pandemie, sondern auch die notwendige medizinische Ausstattung bereit, die per Hilfslieferung oder per Verkauf zur Verfügung gestellt wird.[7] Bereits im März wiesen Außenpolitikexperten in den USA darauf hin, dass der Umgang der Trump-Administration mit der Krise - ein "peinliches Debakel" - den Ruf der Vereinigten Staaten als eines Landes, "das weiß, wie man etwas wirkungsvoll tut", stark geschädigt habe: "Andere Stimmen", chinesische etwa, erhielten nun "respektvollere Aufmerksamkeit", erklärt etwa Stephen M. Walt, Professor für internationale Beziehungen an der renommierten Harvard University, in der Fachzeitschrift Foreign Policy.[8] In Ermangelung von "US-Führung" wendeten sich andere Länder auf der Suche nach Hilfe nun denjenigen Staaten zu, "die den Höhepunkt der Infektion hinter sich haben, so wie China", konstatiert exemplarisch Richard Haas, Präsident des renommierten Council on Foreign Relations (CFR), in der Fachzeitschrift Foreign Affairs.[9] Haas weist zudem darauf hin, dass notleidende Länder Europas kaum Hilfe von der EU und ihren Mitgliedstaaten erhalten; Unterstützung bekommen sie hingegen aus Beijing.[10]

"Das chinesische Virus"

Der wohl bevorstehende Einflussverlust der absteigenden westlichen Mächte geht mit massiv zunehmender Aggressivität gegenüber dem weiter aufsteigenden China einher. Hatte US-Präsident Donald Trump im Januar noch erklärt, seine Regierung habe das Virus "unter Kontrolle" und er sei mit der Informationspolitik der chinesischen Behörden recht zufrieden [11], so hat er inzwischen begonnen, China die Schuld am Ausbruch der Pandemie in die Schuhe zu schieben sowie vom "chinesischen Virus" zu reden [12]. Ein vergleichbares Anschwellen aggressiv gegen China gerichteter Äußerungen ist in Deutschland zu konstatieren; german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.


Anmerkungen:

[1] International Monetary Fund: World Economic Outlook. April 2020.

[2] Kevin Yao: Coronavirus to push China's first-quarter GDP into first decline on record: Reuters poll. reuters.com 15.04.2020.

[3] How to reopen factories after covid-19. economist.com 08.04.2020.

[4] Produktion in China läuft gut an - EU-Firmen besorgt über Nachfrage. handelsblatt.com 13.04.2020.

[5] International Monetary Fund: World Economic Outlook. April 2020.

[6] S. dazu Berliner Prioritäten
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8214/
und Berliner Prioritäten (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8223/

[7] S. dazu Die Solidarität der EU
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8218/
und Annahme verweigert
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8224/

[8] Stephen M. Walt: The Death of American Competence. foreignpolicy.com 23.03.2020.

[9] Richard Haas: The Pandemic Will Accelerate History Rather Than Reshape It. foreignaffairs.com 07.04.2020.

[10] S. dazu Die neuen globalen Gesundheitsmächte
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8229/

[11] Matthew J. Belvedere: Trump says he trusts China’s Xi on coronavirus and the US has it 'totally under control'. cnbc.com 22.01.2020.

[12] Mario Parker, Billy House: Trump's GOP Blames China for Coronavirus With Eye on 2020. bloomberg.com 15.04.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2020

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