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STANDPUNKT/1007: Die Zeit der Unruhen (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 5. September 2022
german-foreign-policy.com

Die Zeit der Unruhen

Risikoberater sagt "beispiellose Zunahme innerer Unruhen" in vielen Staaten weltweit voraus; ein hohes Risiko bestehe in Deutschland. Erste Massenproteste gegen breite Verarmung haben in Großbritannien begonnen.


BERLIN/LONDON - Ein britisches Risikoberatungsunternehmen sagt eine "beispiellose Zunahme innerer Unruhen" in mehr als der Hälfte aller Staaten weltweit voraus, darunter vor allem zahlreiche Staaten Europas. Wie es in einer aktuellen Untersuchung der Firma Verisk Maplecroft heißt, erreichten die "sozioökonomischen Risiken" mit einer Inflation von über sechs Prozent in "mehr als 80 Prozent aller Länder weltweit" derzeit ein "kritisches Niveau"; man könne davon ausgehen, dass "der Ernst und die Häufigkeit von Protesten und von Arbeiteraktivismus sich in den kommenden Monaten weiter intensivieren". Wohlhabende Länder würden versuchen, die Massen mit Ausgabenprogramen stillzustellen, während in ärmeren Ländern mit härterer Repression zu rechnen sei. Zu den Ländern, die am stärksten vom Risiko innerer Unruhen betroffen sind, gehört laut Veritas Maplecroft Deutschland. Die Bundesregierung hat soeben ihr drittes "Entlastungspaket" beschlossen. In Großbritannien hat unterdessen die wohl größte Streik- und Protestwelle seit Jahrzehnten begonnen. Am Wochenende gingen erstmals auch in der EU Zehntausende gegen die drohende Verarmung auf die Straße - in Prag.

Auf kritischem Niveau

Weiten Teilen der Welt steht eine "beispiellose Zunahme innerer Unruhen" bevor. Zu diesem Ergebnis kommt das Risikoberatungsunternehmen Verisk Maplecroft mit Hauptsitz in Bath (Großbritannien) in der jüngsten Ausgabe seines Civil Unrest Index, einer Untersuchung, die aktuelle globale Risiken analysiert. Wie es in der Untersuchung heißt, stieg bereits im vergangenen Vierteljahr die Wahrscheinlichkeit, dass es zu inneren Unruhen kommt, in der Mehrheit der untersuchten 198 Länder an. In den nächsten sechs Monaten sei in einer großen Zahl an Staaten mit "einer weiteren Verschlechterung" zu rechnen, schreibt die Firma [1]: In "mehr als 80 Prozent aller Länder weltweit" liege die Inflation oberhalb von sechs Prozent; die "soziökonomischen Risiken" erreichten "kritisches Niveau". Rund die Hälfte aller Länder würden im Civil Unrest Index als Länder mit "hohem" oder "extremem Risiko" eingestuft. Während sich in einer wachsenden Zahl an Staaten die Bedingungen für innere Unruhen herausbildeten, könne man davon ausgehen, dass "der Ernst und die Häufigkeit von Protesten und von Arbeiteraktivismus sich in den kommenden Monaten weiter intensivieren", erklärt das Unternehmen.

Schlimmer als gedacht

Veritas Maplecroft weist darauf hin, dass sich die Lage weltweit bereits während der Krisen der vergangenen Jahre stärker zugespitzt hat als vermutet. Das Unternehmen hatte Ende 2020 prognostiziert, bis August 2022 werde das "Risiko innerer Unruhen" in 75 Ländern zunehmen.[2] "Die Realität ist viel schlimmer gewesen", konstatiert Veritas Maplecroft: 120 Länder hätten einen Anstieg der Spannungen in der eigenen Bevölkerung erlebt.[3] Von der aktuellen Prognose seien in hohem Maße die Staaten Europas betroffen. In der Tat spitzen sich die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent infolge des Kriegs in der Ukraine und der westlichen Russland-Sanktionen erheblich zu. Am stärksten vom Risiko innerer Unruhen betroffen sind laut Veritas Maplecroft etwa Deutschland, die Niederlande, die Schweiz, Bosnien-Herzegowina und die Ukraine.

Geld oder Repression

Mit Blick auf Europa geht Veritas Maplecroft fest davon aus, die betroffenen Regierungen würden versuchen, Unruhen mit Ausgabenprogrammen zu verhindern. Wo das nicht möglich sei, könne blanke Repression zur "hauptsächlichen Antwort auf Proteste gegen Regierungen" werden.[4] Repression berge freilich ihre eigenen Risiken: Sie hinterlasse "unzufriedene Bevölkerungen mit weniger Mechanismen", ihren Unmut "zu kanalisieren". Es komme noch hinzu, dass sich das Wetter als entscheidender Faktor erweisen könne: "Ein kalter Herbst und Winter in Europa würde eine schon gravierende Energie- und Lebenshaltungskostenkrise verschlimmern." Dabei werde schon jetzt damit gerechnet, dass die Inflation im kommenden Jahr diejenige des laufenden Jahres übersteigen werde. "Nur eine signifikante Reduzierung der globalen Lebensmittel- und Energiepreise kann den negativen globalen Trend beim Risiko innerer Unruhen stoppen", sagt Veritas Maplecroft voraus; andernfalls könnten sich "die kommenden sechs Monate als noch disruptiver" erweisen als vermutet.

Genug ist genug

Als erstes Land Europas ist Großbritannien von einer Streik- und Protestwelle erfasst worden. Dort hat vor kurzem eine Umfrage ergeben, dass sich 23 Prozent der volljährigen Briten darauf einstellen, im kommenden Winter aus Kostengründen ihre Heizung überhaupt nicht anzuschalten. 70 Prozent geben an, sie wollten weniger heizen als zuvor.[5] Seit einigen Wochen mobilisiert eine von Gewerkschaftern und mehreren Initiativen getragene Kampagne ("Enough is Enough") gegen die "cost of living crisis" ("Lebenshaltungskostenkrise"); hat Enough is Enough innerhalb von nur 24 Stunden mehr als 100.000 Unterstützer gewinnen können, so haben mittlerweile eine halbe Million Menschen per Unterschrift ihre Beteiligung an der Kampagne erklärt. Der Protest schlägt sich in zahlreichen Streiks nieder - etwa im Nah- und Fernverkehr, bei der Post oder in Häfen; sogar ein Generalstreik ist im Gespräch.[6] Eine weitere Initiative ("Don't Pay UK") fordert dazu auf, im Herbst die Lastschrifteinzüge für Energieversorger zu kündigen und gegebenenfalls die Energierechnungen nicht mehr zu begleichen, sollte eine ausreichende Zahl an Unterstützern - eine Million - zustandekommen. Einer aktuellen Umfrage zufolge kann die Initiative bereits auf 1,7 Millionen Unterstüzer hoffen.[7]

Delegitimierungsversuche

Am Wochenende kam es nun erstmals auch in der EU zu Massenprotesten gegen die drohende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. In Prag gingen am Samstag rund 70.000 Menschen auf die Straße - mit der Forderung, die Regierungskoalition solle endlich die Energiepreise unter Kontrolle bringen. Ansonsten drohten sie noch "in diesem Herbst unsere Wirtschaft zu zerstören", wurde der Organisator der Veranstaltung zitiert.[8] Angeprangert wurde zudem die massive Unterstützung von EU und NATO für den Ukraine-Krieg. Laut Berichten setzten sich die Proteste in Prag - anders als in Großbritannien - aus heterogenen politischen Spektren zusammen, die auf der einen Seite die Kommunistische Partei, auf der anderen Seite aber auch Kräfte der äußersten Rechten umfassten. Premierminister Petr Fiala war bemüht, die Demonstranten mit der Aussage zu delegitimieren, es handle sich um "prorussische Kräfte", die "gegen die Interessen der Tschechischen Republik" handelten.[9] Ob die Beschuldigung, wer gegen die rasant steigenden Preise protestiere, diene damit angeblichen russischen Interessen, im Angesicht drohender Verelendung auf Dauer verfängt, wird sich zeigen. Erste kleinere Proteste finden inzwischen in einer Reihe weiterer EU-Staaten statt.


Anmerkungen:

[1] Torbjorn Soltvedt: 101 countries witness rise in civil unrest in last quarter. maplecroft.com 01.09.2022.

[2] Tim Campbell, Miha Hribernik: A dangerous new era of civil unrest is dawning in the United States and around the world. maplecroft.com 10.12.2020.

[3], [4] Torbjorn Soltvedt: 101 countries witness rise in civil unrest in last quarter. maplecroft.com 01.09.2022.

[5] Kalyeena Makortoff: Nearly a quarter of UK adults plan to keep heating off this winter, poll finds. theguardian.com 29.08.2022.

[6] Donald Macintyre: 'People are much angrier now': why Britain is going on strike. theguardian.com 28.08.2022.

[7] Severia Bel: Don't Pay UK has the right idea - but it's not enough. opendemocracy.net 01.09.2022.

[8], [9] 70,000 Czechs take to the streets against government, EU and NATO. euronews.com 04.09.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 5. September 2022

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