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STANDPUNKT/1020: Ukraine - Die Kriegsziele des Westens (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 15. Februar 2023
german-foreign-policy.com

Die Kriegsziele des Westens

Deutscher Diplomat fordert Einigung der NATO auf "westliche Kriegsziele" in der Ukraine. Neue Quellen belegen: Der Westen verhinderte im Frühjahr 2022 ein rasches Kriegsende.


BERLIN/WASHINGTON/KIEW - Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, fordert eine Einigung in der NATO auf "die westlichen [!] Kriegsziele" im Ukraine-Krieg. Um diese festzulegen, solle "eine politisch-strategische Kontaktgruppe" eingerichtet werden, erklärt der deutsche Diplomat. So müsse etwa festgestellt werden, ob man "die Ukraine ermuntern" wolle, "die Krim militärisch zurückzuerobern". Mit der Bildung einer solchen "Kontaktgruppe" übernähme der Westen faktisch völlig offen die Kontrolle über das ukrainische Vorgehen in dem Krieg, dessen frühzeitige Beendigung er zahlreichen Quellen zufolge Ende März bzw. Anfang April vergangenen Jahres erfolgreich sabotierte. Das zeigen Berichte britischer und ukrainischer Medien wie auch Schilderungen bekannter US-Russland-Expertinnen und des früheren israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, die von Recherchen des ehemaligen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg bestätigt werden. Demnach scheiterte ein fast fertig ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen vor zehneinhalb Kriegsmonaten an hartnäckigen Einwänden der NATO und insbesondere Großbritanniens.

Abzug gegen Neutralität

Die Gespräche über ein Waffenstillstands- oder sogar Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland waren im März 2022 tatsächlich relativ weit gediehen. Das ließ sich damals Berichten diverser Leitmedien aus mehreren westlichen Staaten klar entnehmen. So zitierte etwa der britische Daily Telegraph am 3. April 2022 eine Äußerung, die David Arachamija, einer der ukrainischen Verhandlungsführer, im ukrainischen Fernsehen getätigt hatte: "Die Russische Föderation hat eine offizielle Antwort auf alle unsere Vorschläge gegeben"; Moskau habe "die ukrainische Position akzeptiert außer der Krimfrage".[1] Die ukrainische Position bestand vor allem darin, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abziehe - bis auf den Donbass und die Krim. Der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski wiederum wurde mit der Aussage zitiert, Kiew habe sich darauf eingelassen, was Moskau bereits seit 2014 fordere; gemeint war, wie der Daily Telegraph erläuterte, vor allem die Neutralität der Ukraine. Arachamija ergänzte, man werde die Sache nun in trockene Tücher bringen; dann könnten die Präsidenten beider Länder zusammenkommen und alles auf höchster Ebene abschließen. Er habe bei alledem allerdings "das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien die letzten sein werden, die sich darauf einlassen" - wohl erst dann, "wenn sie sehen, dass alle anderen zustimmen".[2]

"Die Ukraine braucht Frieden"

Mit dem Bericht des Daily Telegraph decken sich Schilderungen diverser ehemaliger US-Regierungsmitarbeiter, die zwei bekannte US-Russland-Expertinnen, Fiona Hill und Angela Stent, im September in der US-Zeitschrift Foreign Affairs wiedergaben. Hill war mehrere Jahre lang im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten tätig gewesen. Den US-Regierungsmitarbeitern zufolge "schienen sich russische und ukrainische Verhandler auf die Umrisse einer vorläufigen Verhandlungslösung geeinigt zu haben", laut der Russland sich "auf seine Stellungen vom 23. Februar zurückziehen" werde, während die Ukraine "zusage, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und sich stattdessen um Sicherheitsgarantien einer Reihe von Staaten" zu bemühen.[3] Aufbauend auf diesem Verhandlungsstand sprach sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch am Abend des 4. April 2022 für einen schnellen Waffenstillstand aus. Selenskyj forderte bei einem Besuch in der Stadt Butscha: "Die Ukraine muss Frieden bekommen."[4]

Der Wunsch nach Waffenstillstand

Weitere Aufschlüsse bringen Aussagen aus einem Interview mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der sich Anfang März vergangenen Jahres als Vermittler zwischen Moskau und Kiew betätigte. Bennett berichtet, damals seien sowohl der russische Präsident Wladimir Putin als auch Selenskyj zu Zugeständnissen bereit gewesen, um den Krieg zu stoppen: Putin habe die Forderung nach "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" der Ukraine zurückgezogen - Letzteres zielte auf einen Regime Change -, während Selenskyj bereit gewesen sei, auf die ukrainische NATO-Mitgliedschaft zu verzichten. Beide seien "pragmatisch" aufgetreten und hätten seinem Eindruck nach "stark einen Waffenstillstand" gewünscht; in einem Verhandlungsmarathon seien zahlreiche Entwürfe für ein Abkommen erarbeitet worden. Dann jedoch hätten die westlichen Mächte die Verhandlungen gestoppt.[5] Er sei sich sicher, es habe "eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gegeben", bekräftigt Bennett, der auf die entsprechende Nachfrage des Interviewers ("wenn sie", die westlichen Mächte, "das nicht gedrosselt hätten?") nickt.

Die NATO interveniert

Dass die reale Chance auf einen Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen damals von den westlichen Mächten verhindert wurde, bestätigen auch Recherchen des Diplomaten Michael von der Schulenburg, eines ehemaligen Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen. Laut von der Schulenburg sollte die Einigung auf ein Abkommen - Rückzug der russischen Truppen, Verzicht der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft und auf Errichtung westlicher Militärstützpunkte auf ihrem Territorium - am 29. März in Istanbul beschlossen werden.[6] Auf einem Sondergipfel am 23. März in Brüssel verlangte die NATO dann allerdings, schon vor weiteren Verhandlungen müsse Russland die Waffen schweigen lassen und seine Truppen abziehen; ein möglicher Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wurde nicht erwähnt.[7] Von der Schulenburg stuft dies als letztlich erfolgreichen Versuch ein, "die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden". Wenig später, stellt der Diplomat fest, änderte Russland seine Strategie und setzte nun darauf, "durch die Besetzung ukrainischen Territoriums den Beitritt der Ukraine zur NATO verhindern und seinen Zugang zum Schwarzen Meer schützen zu können".

Boris Johnson reist nach Kiew

Dazu, wie der Westen seine Gegnerschaft zu einem frühen Ende des Krieges nach Kiew übermittelte, liegen ebenfalls mehrere offen zugängliche Quellen vor, insbesondere britische und ukrainische Medienberichte. So hieß es in der britischen Times, die Regierung in London sei "besorgt" gewesen, "einige Verbündete" - genannt wurden vor allem Deutschland und Frankreich - seien "allzu begierig" gewesen, dass Selenskyj eine Vereinbarung unterzeichne. Premierminister Boris Johnson habe deshalb am letzten Märzwochenende 2022 Selenskyj angerufen und ihn vor weiteren Verhandlungen "gewarnt"; zugleich habe London Kiew neue Waffen in Aussicht gestellt, etwa Drohnen.[8] Auch die Ukrainska Prawda brachte Johnson mit dem Ende der Friedensverhandlungen in Verbindung: Als der britische Premierminister am 9. April persönlich in Kiew eingetroffen sei, habe er die "Botschaft" mitgebracht, der Westen sei zu der Auffassung gekommen, Putin sei nicht so mächtig, wie man zuvor gedacht habe, und es gebe eine Chance, ihn "unter Druck zu setzen".[9] Drei Tage danach, stellt die Ukrainska Prawda fest, teilte Putin offiziell mit, die Gespräche mit der Ukraine über ein Waffenstillstandsabkommen steckten "in einer Sackgasse". Dabei blieb es.

Wo entschieden wird

Gestern, fast ein Jahr nach Kriegsbeginn und zehneinhalb Monate nach der Sabotage des russisch-ukrainischen Waffenstillstandsabkommens durch den Westen, beklagte der einstige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in der NATO gebe es gegenwärtig, was den auf Insistieren führender NATO-Mitglieder nicht beendeten Krieg anbelange, keine einheitliche Linie. "Deswegen bin ich der Meinung", teilte Ischinger mit, es sei notwendig, "eine politisch-strategische Kontaktgruppe" einzurichten, "um die westlichen [!] Kriegsziele so klar zu definieren, dass wir alle wissen ..., wo es hingeht".[10] Man müsse sich etwa festlegen: "Wollen wir tatsächlich die Ukraine ermuntern, die Krim militärisch zurückzuerobern?" Dazu gebe es gegenwärtig "ein weites Spektrum unterschiedlicher Meinungen". Über sie entschieden wird letzten Endes nicht in Kiew, sondern im Westen.


Anmerkungen:

[1], [2] Nataliya Vasilyeva: Russia has agreed to almost all of our peace proposals, says Ukrainian negotiator. telegraph.co.uk 03.04.2022.
S. auch "Alles unterhalb eines Kriegseintritts".
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8891

[3] Fiona Hill, Angela Stent: The World Putin Wants. Foreign Affairs, September/October 2022. S. 108-1022.

[4] Verhandlungen im Ukraine-Krieg: Selenskyj äußert sich zu möglichen Gesprächen. fr.de 04.04.2022.

[5] Branko Marcetic: The Grinding War in Ukraine Could Have Ended a Long Time Ago. jacobin.com 08.02.2023.

[6] Michael von der Schulenburg: Es geht darum, den Frieden zu gewinnen - nicht den Krieg. makroskop.eu 11.10.2022.

[7] Statement by NATO Heads of State and Government. nato.int 24.03.2022.

[8] Steven Swinford, Larisa Brown, Bruno Waterfield: Don't back down, Britain urges Ukraine. thetimes.co.uk 31.03.2022.

[9] Iryna Balachuk, Roman Romaniuk: Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson's visit - UP sources. pravda.com.u 05.05.2022.

[10] Ischinger fordert Klarheit über Kriegsziele des Westens. tagesschau.de 14.02.2023.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 17. Februar 2023

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