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LAIRE/1078: Kampagne gegen Dicke - aber kein Geld für Schulobstprogramm (SB)


Bundesregierung lehnt Beteiligung am EU-Schulobstprogramm strikt ab

Ärmere Familien am stärksten betroffen


Die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, sich finanziell am EU-Schulobstprogramm zu beteiligen, beweist, daß ihr Klagen über angeblich zu dicke Kinder, deren ungesunde Ernährung und überhaupt die Leistungsschwäche an den Schulen - Stichwort: PISA - nicht auf das Beheben der behaupteten Mißstände abzielt, sondern auf die Bezichtigung von Personengruppen.

Im November 2008 hatten die EU-Agrarminister beschlossen, jährlich 90 Millionen Euro für ein freiwilliges Schulobstprogramm zur Verfügung zu stellen. Da das Geld nicht ausreicht, um allen Vor- und Grundschülern innerhalb der Union jeden Tag mindestens eine Frucht zukommen zu lassen, sollten die Gelder mit öffentlichen und privaten Mitteln ergänzt werden. Das Programm soll vom kommenden Schuljahr an, von Informations- und Aufklärungskampagnen begleitet, anlaufen. Vor rund zwei Wochen wurde es vom Bundesrat angenommen, doch die Bundesregierung lehnt es strikt ab, sich daran mit Kosten in Höhe von 12,5 Mio. Euro, also der gleichen Summe, die von der EU für Deutschland bereitgestellt wird, zu beteiligen. Das falle allein in die Zuständigkeit der Bundesländer, sie sollten dafür aufkommen oder aber private Mittel auftreiben, argumentiert der Bund. Die Länder wiederum halten dagegen, daß das Programm auch der Absatzförderung für die Landwirtschaft und Marktstützung diene, deshalb stehe der Bund in der Pflicht einer finanziellen Beteiligung.

Der schon länger schwelende Streit zwischen Bund und Ländern über die Finanzierung des Schulobstprogramms wird dazu führen, daß es nicht wie geplant im Schuljahr 2009/2010 starten kann. Zumal die Schulspeisung auch durch die von der EU verlangte Aufklärungskampagne zu gesunder Ernährung begleitet werden soll. Leidtragende der Pfennigfuchserei sind vor allem die Kinder aus sozial benachteiligten Familien, da für diese der regelmäßige Erwerb von Obst und Gemüse unerschwinglich ist und sie ohnehin weniger davon verzehren.

Da sich der Bund strikt weigert, die Kofinanzierung zu übernehmen, die Länder aber ebenfalls mauern, droht das gesamte Programm zu scheitern. Oder aber es kommt zu bundesweit uneinheitlichen Regelungen, je nachdem, welches Bundesland die Finanzierung übernimmt und welches nicht. Zudem besteht die Möglichkeit, daß die Länder die Eltern nötigen, sich finanziell an dem Programm zu beteiligen, was dann ebenfalls die ärmeren Familien, sofern sie keine gesonderte Unterstützung erhalten, härter treffen würde.

Es wäre jedoch zu simpel, die mangelnde Bereitschaft der Finanzierung des Schulobstprogramms lediglich als Widerspruch zur sonstigen Politik von Bund und Ländern, die ja nicht müde werden, über eine ihrer Meinung nach mangelnde Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu klagen, zu bezeichnen. Das Gegenteil trifft zu. Beides liegt auf einer Linie. In beiden Fällen geht es nicht um das Wohl der Heranwachsenden. Die Beschwerde über angeblich zu dicke Kinder dient der pauschalen Bezichtigung, es ist eine Schuldzuweisung durch die Behörden, die wahlweise den Eltern, Kindern, Schulen oder dem sonstigen sozialen Umfeld Fehlverhalten vorwerfen. Auch Fernsehen, Computerspiele, vermeintlicher Bewegungsmangel und andere Konsum- und Lebensweisen stehen ganz oben auf der Schuldliste der selbsternannten Sittenwächter.

Übergewichtige zu bezichtigen, daß sie dem Gesundheitssystem auf der Tasche liegen, mehr noch, daß sie sogar für den Klimawandel verantwortlich sind - jedenfalls mehr als die Magerhaken -, hat längst gesellschaftlichen Kampagnecharakter angenommen. Damit wird der behördliche Zweck verfolgt, bestimmte Leistungen nicht mehr erbringen zu müssen. Wobei hierbei die Willkür, also die Möglichkeit, jederzeit Zwangsmaßnahmen durchführen zu können, als administratives Kerninteresse zu verorten ist. Die Verunsicherung der Menschen hinsichtlich richtigen und falschen Verhaltens setzt diese einer permanenten Zwangslage aus, da ihnen unmöglich zu erreichende Ideale vorgesetzt werden - getragen durch den Begriff "Gesundheit". Das Scheitern ist vorprogrammiert, und so wird die Frage der Schuld in einem Atemzug aufgeworfen und beantwortet. So sollen die Rolle des Richters und die des Delinquenten auf alle Zeit und unüberwindbar zugewiesen werden.

29. Mai 2009