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LAIRE/1223: Entwicklung des Hungers wird präzise erfaßt ... und dann? (SB)


Hochmoderne Beobachtungssysteme der Hungerentwicklung, aber keine Beseitigung der Not


Wo schlägt die nächste Hungersnot zu? Diese fatalistische Frage treibt staatliche Institutionen ebenso um wie Hilfsorganisationen auf der ganzen Welt. Mittlerweile existiert ein Bündel an Werkzeugen zur Analyse von und raschen Reaktion auf den Nahrungsmangel. Indes, die Zahl der Hungernden wächst und wächst. Das ist alles andere als schicksalhaft.

In der Hoffnung, daß mit einer präzisen und umfassenden Einschätzung der Rahmenbedingungen, einschließlich der politischen, Hilfe gezielter eingeworben und geleistet werden kann, erarbeiten beispielsweise zur Zeit fünf führende deutsche Hilfsorganisationen an einem "WeltRisikoIndex". [1] Und die US-Forscherin Molly Brown von der Raumfahrtbehörde NASA hat kurze Zeit vor dem Höhepunkt der globalen Preisexplosion für Lebensmittel vor rund zwei Jahren gemeinsam mit Kollegen ein Verfahren entwickelt, bei dem Satellitenbilder zum Getreidewachstum mit den lokalen Lebensmittelpreisen korreliert werden. [2] Schließlich haben sich vor kurzem das Joint Research Centre (JRC) der Europäischen Kommission, die Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen und das Famine Early Warning Systems Network (FEWS NET) der US-Regierung zusammengeschlossen, um ein noch wirksameres Frühwarnsystem zu entwickeln als das bestehende, [3] um nur drei Beispiele von zahlreichen zu nennen, die der Beobachtung der Hungerentwicklung dienen.

In diesem Jahr soll die Zahl der Länder, die per Satellit nach ersten Hinweisen auf Ernteeinbußen überwacht werden, verdoppelt werden, hat die letztgenannte Initiative beschlossen. Das neue Integrated Phase Classification (IPC) System der EU und USA soll die Reaktionszeit auf Ernährungsunsicherheit mittels eines international anerkannten Klassifikationsschemas zum Ausmaß der Not verkürzen. "Die Identifikation der Zeiten und Orte, wo Hilfe gebraucht wird, ist entscheidend, um gezielte und wirksame Antworten zu geben", heißt es in einem Medienbericht über die Entwicklung. [3]

Es ist unstrittig, daß ein frühzeitiges Erkennen einer sich anbahnenden Hungersnot ungeheuer nützlich sein kann ... wenn den Betroffenen dann tatsächlich geholfen würde. Das ist jedoch nicht gewährleistet. Mehr als eine Milliarde Menschen leiden chronisch Hunger - da soll niemand sagen, davon habe er nicht rechtzeitig gewußt. Die Versuche, dem Hunger mit diversen Indices auf den Leib zu rücken, müssen scheitern, wenn der Hunger permanent systemisch produziert wird.

Es ist kein Zufall, daß sich die Umweltüberwachungssatelliten auf das östliche und südliche Afrika richten, denn dort ist am ehesten mit Dürre und somit Nahrungsmangel zu rechnen. Das muß man nicht jedes Jahr von neuem feststellen, um dann so zu tun, als hätte man den Hunger verhindern können, wenn man nur rechtzeitig Bescheid gewußt hätte.

Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, die Sinnhaftigkeit genauer Informationen über die Ernteentwicklung in Frage zu stellen. Doch was nutzt die frühzeitige Warnung, wenn dann keine Hilfe geleistet wird? Ein aktuelles Beispiel, an dem die Berechtigung dieser Frage deutlich wird, ist Niger. Hilfsorganisationen warnten bereits Anfang Februar, daß in dem Sahelstaat 7,8 Millionen von insgesamt 15 Millionen Einwohnern auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sind. Daran hat sich bis jetzt rein gar nichts geändert. Das Internationale Rote Kreuz teilte vor wenigen Tagen mit, daß rund acht Millionen Einwohner Nigers Hunger leiden.

Mag die internationale Gemeinschaft auch noch so exquisite Überwachungstechnologien installieren, ob die Hungerlage in Niger von zehn Satelliten oder gar keinem beobachtet wird, ist irrelevant, solange nichts gegen die Not unternommen wird. Der Überraschungsmoment hat weniger Einfluß auf die Entstehung von Hunger als die systemischen Voraussetzungen. Verhielte es sich andersherum so wäre nicht zu erklären, wieso die Zahl der Hungernden zunimmt.


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Anmerkungen:

[1] Näheres dazu im SB-Infopool unter UMWELT, REPORT: BERICHT/001: WeltRisikoIndex - Besuch einer Fachtagung (SB) INTERVIEW/001: Dr. Matthias Lüdeke, Klimaforscher (SB)

[2] "Satellite Data Can Warn Of Famine, NASA Researchers Find", ScienceDaily, 19. Juli 2007
http://www.sciencedaily.com/releases/2007/07/070719111414.htm

[3] "Where Will The Next Food Crisis Strike", 3. März 2010
http://www.seeddaily.com/reports/Where_Will_The_Next_Food_Crisis_Strike_999.html

25. März 2010