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LAIRE/1279: Agrarfonds nicht für Bedürftige - Deutschland torpediert EU-Lebensmittelhilfe (SB)


Deutschland will nicht die Bedürftigkeit abschaffen, sondern das EU-Programm für Lebensmittelhilfe an Bedürftige


Das Europäische Lebensmittelhilfeprogramm für Bedürftige soll abgeschafft werden. Das streben die EU-Mitgliedsländer Deutschland, das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Tschechien an. Das 1986 vom früheren Vorsitzenden der Europäischen Kommission Jacques Delors initiierte Programm sah vor, bedürftige Bürger mit Lebensmitteln aus Interventionsbeständen zu versorgen. Diese Bestände wurden jedoch nach und nach abgebaut, so daß ersatzweise immer mehr Geldmittel aus dem Agrarfonds ausgegeben wurden, welche dann von den nationalen Hilfsorganisationen zum Erwerb von Lebensmitteln verwendet wurden.

In der Europäischen Union gelten 43 Mio. Bürger als arm, zur Zeit nutzen schätzungsweise 18 Mio. das EU-Lebensmittelhilfeprogramm. Man kann vermuten, daß die Empfänger darauf angewiesen sind und nicht ohne weiteres auf Ersatz zugreifen können, sollten die Mittel ausbleiben. Deutschland, das bislang noch keine Gelder aus diesem Teil des Agrarfonds in Anspruch genommen hat, hat erfolgreich beim Europäischen Gerichtshof gegen das Hilfsprogramm geklagt. Die Richter wiesen die EU-Kommission an, im kommenden Jahr das Programm von 480 auf 113 Mio. Euro zu verringern. Ab 2013 soll es vollständig gestrichen werden. Begründet wurde das Urteil damit, daß die Bedürftigenhilfe enger an die Intervention von Agrargütern gebunden werden müsse, so wie es ursprünglich vorgesehen war. Die Gruppe um Deutschland bildet im Ministerrat eine Sperrminorität und kann die Auszahlung von Geldern über den Gegenwert von 162.000 t Getreide und 54.000 t Milchpulver in Höhe von rund 130 Mio. Euro, auf die die Interventionsbestände der EU mittlerweile geschrumpft sind, verhindern.

"Sozialpolitik liegt in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten und dorthin gehört sie auch", wird der britische Landwirtschaftsminister Jim Paice von euronews zitiert. [1] Ins gleiche Horn stößt ein Vertreter der Bundesregierung:

"Staatssekretär Dr. Kloos betonte, dass Deutschland sich stets seiner sozialen Verantwortung gestellt habe, und dass sich an diesem Grundsatz nichts ändern werde. Es gebe auch in Deutschland zahlreiche Maßnahmen und Hilfsangebote, die in begrüßenswerter Weise den Bedürftigen zugute kämen. Deutschland sehe aber unverändert keine europäische Zuständigkeit für diese sozialpolitische Maßnahme." [2]

An dieser Stelle, an der es um die Bewahrung eines soziales Hilfsprogramms geht, fällt es der schwarz-gelben Bundesregierung plötzlich ein, daß die Versorgung der Bedürftigen mit Lebensmitteln keine Aufgabe der EU ist, sondern der nationalen Souveränität unterliegt. Ansonsten greift Deutschland via Brüssel massiv in die nationalen Sozialpolitiken ein, indem der makroökonomische Rahmen festgelegt und beispielsweise den Euro-Ländern eine Austeritätspolitik oktroyiert wird, die extreme soziale Folgen nach sich zieht. Krasses Beispiel dafür ist Griechenland, das mittels solcher Knebel an den Rand des Bürgerkriegs gedrängt wird, was wiederum eine Gegenreaktion durchs Militär provozieren könnte. Bekanntlich hat sich die Merkel-Westerwelle-Administration in besonderer Weise darin hervorgetan, daß die griechische Regierung weitreichende Einschnitte in die Sozialprogramme vornehmen mußte und diese Entwicklung weiter und weiter treibt.

Deutschland hat also nichts dagegen, wenn auf Druck der EU bittere soziale Einschnitte in einem Mitgliedsland vorgenommen werden, doch wenn es um eine vergleichsweise geringfügige soziale Unterstützung von Bedürftigen geht, soll die EU auf einmal nicht mehr zuständig sein.

Wenn Staatssekretär Kloos behauptet, daß sich Deutschland stets seiner sozialen Verantwortung gestellt habe, sagt er damit nicht, nach welchen Kriterien Deutschland überhaupt "Verantwortung" definiert! Bedenkt man, daß der reichste Staat der Europäischen Union die Verantwortung beispielsweise für die Versorgung von rund einer Million Bürgerinnen und Bürgern an private, unentgeltlich arbeitende Kräfte abgegeben hat - die Rede ist von rund 870 Tafeln, die Bedürftige mit noch einigermaßen genießbarem Lebensmittelmüll aus Supermärkten, Bäckereien, Metzgereien, etc. versorgen - und keinerlei Bestrebungen erkennen läßt, die Verantwortung für die offensichtlich mangelversorgte Bevölkerung zurückzuerlangen, wirkt die Begründung für die Blockade des EU-Hilfsprogramms vollkommen unglaubwürdig.

Der rumänische EU-Landwirtschaftskommissar Dacian Ciolos kritisiert den Vorstoß der sechs Staaten: "Die Union erlebt eine ihrer schwersten Wirtschaftskrisen seit Jahrhunderten. Deshalb sind immer mehr Bürger auf solche Hilfen angewiesen." [3] Er hofft, daß sich der Ministerrat im Oktober auf die Fortsetzung des Programms mit jährlich rund 500 Mio. Euro einigen wird.

Die Interventionsbestände der EU (bzw. der Vorgänger-Administrationen EG und EWG) besaßen die Funktion, Preisstabilität herzustellen und die Versorgung zu sichern, und waren damit auch gegen Gefahren aufgrund des Preisschwankungen unterliegenden Weltmarkts gerichtet. Die Bezeichnung "Überschuß" vermag nur unzureichend Ausmaß und Zweck der Interventionsbestände zu beschreiben.

Die europäische Landwirtschaft hat selbstverständlich nicht vollkommen losgelöst vom übrigen Weltmarkt agiert, sondern über Subventionen, Zollschranken und andere Lenkungsmittel den Weltmarkt zum eigenen Vorteil in Anspruch genommen. Von einem Überschuß dürfte man nur dann sprechen, wenn alle Menschen satt sind und dann noch etwas übrig wäre. Da aber auch früher schon viele hundert Millionen Menschen gehungert haben, verschleiert der Begriff die Produktionsverhältnisse, die auf der einen Seite zu Reichtum, aber der anderen zu Mangel führen und diese Spanne aufrechterhalten. "Überschuß" existiert somit nur aus einer verkürzte Sicht dann, wenn man akzeptiert hat, daß bedürftigen Menschen Nahrung vorenthalten wird. Ob deren Not durch den sogenannten Weltmarkt organisiert wird oder durch welche Institutionen auch immer: Überschuß bleibt der gehortete und gegenüber Hungerleidenden verteidigte Vorrat, solange nicht alle Menschen genügend zu essen haben.

Der Glaube, die EU habe in der Vergangenheit Überschüsse produziert, deckt sich mit ähnlichen Fehlannahmen der Produktions von Lebensmitteln. Quer durch alle politischen Parteien herrscht die Vorstellung vor, daß weltweit im Prinzip genügend Nahrungsmittel für alle Menschen erzeugt werden und niemand hungern müßte. Im marktwirtschaftlich orientierten Lager wird als Maßnahme zur Bekämpfung des Hungers erwartungsgemäß empfohlen, die Marktkräfte zu stimulieren, im linken Lager dagegen wird eine gerechtere Verteilung gefordert.

Die Vertreter erstgenannter Position unterliegen insofern einem Irrtum, als daß die meisten Hungernden ökonomisch gesehen gar keine Nachfrage leisten können. Sie verfügen schlichtweg nicht über die finanziellen Mittel, um genügend Lebensmittel erwerben zu können, und werden dementsprechend von Ökonomen gar nicht erst als Nachfragefaktor gerechnet. Die Marktkräfte zu stimulieren hieße somit, daß der Verbrauch von Nahrung weiterhin an den Bedürftigsten der Bedürftigen vorbei organisiert würde. Mit anderen Worten, den Bedürftigen wird - wie bei den EU-Überschüssen - die für sie existentiell wichtige Nahrung vorenthalten, da andere Interessen die Vorherrschaft über die Produktion innehaben und bestrebt sind, ihre Pfründe zu sichern, also Nahrung nur an jene abzugeben, von denen sie sich Vorteile versprechen.

Ums Teilen geht es auch beim zweiten Ansatz. Im Namen von Recht und Gerechtigkeit soll die angeblich für alle ausreichend vorhandene Nahrung so verteilt werden, daß kein Mensch hungern muß. Es wird aber heute schon verteilt! Das Verteilen ist nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Bei der Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit bleiben grundsätzliche Fragen ungestellt: Wer darf teilen und wer wird vom Teilen abgehalten? Mit welcher Begründung und mit welchen Mitteln wird jemand vom Teilen abgehalten? Aufgrund wessen Rechtsverständnisses wird geteilt? Sollen weiterhin Nahrungs- und Futtermittel verbrannt werden, um Motoren in Bewegung zu setzen, und wer entscheidet darüber?

In Anbetracht der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Europäische Union vollends auf die Seite des Kapitals geschlagen, dessen Projekt sie von Anfang an war und das durchaus von der gegenwärtigen Krisenentwicklung profitiert. In jüngerer Zeit wurden Hunderte Milliarden Euro zur Rettung von Banken ausgegeben. Diese Summen lassen sich unmittelbar in Verluste umrechnen, die gegen Länder wie Griechenland in Stellung gebracht werden, um erstens die Arbeit zu entwerten und die Menschen zu noch mehr Anstrengungen anzutreiben, sprich: sie stärker auszubeuten als je zuvor, und sich zweitens weiter aus der staatlichen Verantwortung zu stehlen. Die erweist sich nun sehr deutlich als das, was sie schon immer war, ein bloßes Versprechen.

Deutschland und andere Staaten greifen viel tiefer und folgenschwerer in die Sozialgesetzgebung der Mitgliedsländer ein als durch jene 500 Mio. Euro jährlich aus dem Agrarfonds für das Programm zur Lebensmittelhilfe. So fließen ebenfalls aus dem Agrarfonds Millionenbeträge an Lebensmittelkonzerne, Banken, reiche Einzelpersonen, etc., auch wenn sie in der von ihnen betriebenen Landwirtschaft Arbeitsplätze wegrationalisieren oder sich dank der kapitalfreundlichen EU-Politik anderweitig bereichern. Daraus muß man schließen, daß der EU-Agrarfonds sehr wohl dazu dient, denen, die mit Milliarden jonglieren, sich auf dem Weltmarkt tummeln und nach neuen Acquisemöglichkeiten umschauen, Gelder zuzuschanzen, aber nicht jenen, auf deren vielen Rücken Unternehmen ihr Kapital akkumulieren und die dennoch nicht ohne Lebensmittelhilfe über die Runden kommen.

An dieser Stelle der Sozialfeindlichkeit überschneiden sich die oben beschriebenen zwei Entwicklungen a) des Abbaus der Interventionsbestände mit der Folge, daß nun auch das EU-Lebensmittelprogramm abgeschafft werden soll und b) die globale Zunahme des Lebensmittelmangels. Wie bereits erwähnt, findet bereits eine Verteilung der vorhandenen Menge an produzierter Nahrung statt. Eine andere Verteilung zu fordern hieße entweder, die Stelle, an der verteilt wird, für sich zu beanspruchen, oder zu ignorieren, daß bereits verteilt wird und sich Kräfte durchgesetzt haben, die davon profitieren. Mit einer Reform des Systems wäre es somit nicht getan, man spielte nur jenen Interessen in die Hände.

Der Abbau der Interventionsbestände ist eines der Merkmale eines globalen Trends in Richtung Zunahme des Mangels oder, um es mit dem philippinischen Soziologieprofessor Walden Bello zu sagen, einer "Politik des Hungers" [4]. Er beschreibt darin treffend das Verhältnis der reichen Länder gegenüber den ärmeren, aber die Mittel und Methoden der Mangeladministration innerhalb der reichen Länder sind nicht sein Thema. Die globalen Lagerbestände an Getreide schrumpfen fast kontinuierlich von Jahr zu Jahr, umgekehrt steigt die Zahl der Hungernden. Ein erheblicher Teil des produzierten Getreides wird zu Treibstoff verarbeitet, und landwirtschaftliche Flächen werden mit "Energiepflanzen" belegt. Der globale Mangel wächst zwar nicht gleichmäßig, aber allerorten, da bildet die EU keine Ausnahme, wie die geplante Streichung des Lebensmittelprogramms für Bedürftige zeigt. So wird ein Überlebensdruck auf die Bevölkerung auch in den Wohlstandsregionen aufgebaut und kontinuierlich erhöht.


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Fußnoten:

[1] "EU-Lebensmittelhilfe für Arme wackelt", euronews, 20. September 2011
http://de.euronews.net/2011/09/20/eu-lebensmittelhilfe-fuer-arme-wackelt/

[2] Tagung des Rates (Landwirtschaft und Fischerei) am 20. September 2011 in Brüssel, Ergebnisbericht, Leitung der deutschen Delegation: Staatssekretär Dr. Kloos. Online abgerufen am 26. September 2011
http://www.bmelv.de/SharedDocs/Standardartikel/Service/Publikationen/EURatsberichte/2011/10_Bruessel.html;jsessionid=418855A6B82CD7B69500275A5FDA6FEF.2_cid163#doc2265068bodyText2

[3] "Lebensmittelhilfe für Bedürftige. Schwarz-Gelb macht Europa hungrig", taz, 20. September 2011
http://www.taz.de/!78482/

[4] Eine Rezension dieses Buchs finden Sie im INFOPOOL unter BUCH → SACHBUCH:
REZENSION/531: Walden Bello - Politik des Hungers (SB)

26. September 2011