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LAIRE/1290: Globale Hungerkrise - Zu Lester R. Browns Appell an die Politik (SB)


... denn sie wissen sehr genau, was sie tun

Einige Anmerkungen zu einem vermutlich vergeblichen Versuch, die Politiker wachzurütteln



Klimawandel, Nahrungsmangel, erschöpfte Erdölquellen - hartnäckig hält sich das Gerücht, Politiker seien unzureichend über krisenhafte Entwicklungen globalen Ausmaßes informiert und wüßten nicht, was sie tun. Das kann in der Regel ausgeschlossen werden. Politiker und Regierungsmitglieder verfügen über Berater, die Experten auf den verschiedensten Gebieten sind, und wissen, was in der Welt geschieht. So auch hinsichtlich der sich gegenwärtig rapide auswachsenden globalen Nahrungsmittelkrise, deren Vorbote bereits den (ehemaligen?) Wohlstandsraum Europa erreicht hat. Ausgehend von einem hohen Niveau von derzeit etwa einer Milliarde Menschen weltweit, die nicht genügend zu essen hat, künden dunkle Wolken am Horizont vom Heraufziehen einer noch viel schwereren Hungerkrise an.

Ein typisches Beispiel für die Verkennung des Wissensstands der Politiker bietet Lester R. Brown, Präsident des Earth Policy Institutes in Washington, in einem Bericht der britischen Zeitung "The Guardian" von Dienstag. Seit vielen Jahren liefert Brown hervorragende Berichte zu drängenden Menschheitsprobleme in Bereichen wie Bevölkerungspolitik, Wirtschaft und Umwelt. Doch wenn er zum globalen Nahrungsmangel schreibt, daß "die Welt an der Ernährungsfront in ernsthaften Schwierigkeiten steckt" und es "wenig Indizien gibt, daß die politischen Führer das Ausmaß dessen begreifen, was vor sich geht" [1], dann steckt hinter dieser Aussage eine Fehleinschätzung. Denn Brown unterstellt, daß Politiker, wenn sie nur über die Gefahr des Hungers Bescheid wüßten, quasi automatisch entschiedene Maßnahmen zu seiner Beendigung ergriffen. Umgekehrt legt seine Aussage nahe, daß Politiker nicht dazu in der Lage wären, bewußt und absichtsvoll Entscheidungen zu treffen, durch die Menschen dem Hunger überantwortet werden.

Browns Einschätzung wird durch die tagtägliche Praxis Lügen gestraft. Der Hunger in der Welt ist gemacht oder, noch zugespitzter formuliert, er wird von Menschen gegen Menschen in Stellung gebracht. Wie das geschieht, schildert beispielsweise der Autor Mike Davis in dem lesenswerten Buch "Die Geburt der Dritten Welt - Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter" [2] aus dem Jahr 2004.

Davis beschreibt und analysiert die drei großen Hungerwellen zum Ende des 19. Jahrhunderts und richtet seinen Blick dabei insbesondere auf die Länder China und Indien. Das British Empire des Viktorianischen Zeitalters und andere Mächte hätten den Hungertod vieler Millionen Menschen - die Schätzungen liegen zwischen 31,7 und 61,3 Mio. in den Zeiträumen 1876-79 und 1896-1900 - absichtlich herbeigeführt. Selbst in den schwersten Dürrejahren habe die britische Kronkolonie Indien große Mengen Getreide nach England ausgeführt. Die Landwirtschaft sei zwangsweise für die Produktion von Cash Crops wie Baumwolle oder Weizen, die allein für den Export bestimmt waren, umstrukturiert und die Subsistenzwirtschaft immer weiter abgeschafft worden. Denn diese habe keinen Mehrwert geliefert, sei also für die Kolonialherren uninteressant gewesen.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber das zivilisationsgeschichtlich schon sehr alte Herrschaftsstreben bedient sich offenbar gleicher Mittel. Daß die Verelendungspolitik des British Empire nicht obsolet ist, zeigt der philippinische Soziologieprofessor Walden Bello in "Politik des Hungers" [3] sehr anschaulich an Beispielen aus der aktuellen Zeit auf.

Rund zwei Jahrzehnte lang hätten IWF und Weltbank mehr als 90 Entwicklungs- und Schwellenländern "Strukturanpassungsprogramme" aufgedrückt und deren Landwirtschaftssektoren schwerste Schäden zugefügt. Die relative Versorgungssicherheit des Kleinbauerntums sei von der einer Unsicherheit erzeugenden kapitalistisch-industriellen Landwirtschaft abgelöst worden, schreibt Bello. So seien die Philippinen nach der Marcos-Diktatur zur Annahme einer "Musterschuldner-Strategie" genötigt worden. Zwischen 1986 und 1993 seien acht bis zehn Prozent des philippinischen Bruttosozialprodukts jährlich als Schuldendienst ins Ausland abgeflossen - insgesamt beinahe beinahe 30 Milliarden Dollar. Die Auslandsschulden der Philippinen hätten sich 1986 jedoch nur auf 21,5 Milliarden Dollar belaufen.

Der Schuldendienst übertraf also die Summe der ursprünglichen Schulden bei weitem! Wer sich jemals nach einem Beispiel für das Ausbluten der Länder des Südens durch die des Nordens gesucht hat, hier ist es. Walden Bello führt die philippinische Reiskrise im Jahre 2007/2008, zur Zeit der globalen Preisexplosion für Getreide und andere Nahrungsmittel mit Unruhen in mehreren Dutzend Ländern, auf die Folgen der Strukturanpassungsmaßnahmen zurück, hatte sich doch das südostasiatische Land von einem Reisexporteur zu einem -importeur gewandelt.

Zwei Beispiele aus zwei verschiedenen Epochen, die deutlich machen, daß der Hunger in der Welt kein unvermeidbarer Kollateralschaden einer Wirtschaftsordnung ist, von der Interessen profitieren, die sich dem unbedingten Erhalt des Lebens verdingt hätten.

Ungeachtet einer durchaus verbreiteten Gutgläubigkeit, was die vorherrschenden Interessen der politischen Entscheidungsträger betrifft, macht Lester R. Brown in seinem Aufsatz auf einige folgenschweren Trends aufmerksam: Mais hat einen Anteil von 80 Prozent an der Getreideernte der Vereinigten Staaten und übertrifft von der Menge her sogar Chinas Produktion von Reis und Weizen zusammengenommen. Ausgerechnet im Maisgürtel der USA herrscht zur Zeit Dürre - dabei ist Mais eine besonders wasserbedürftige Pflanze. Die Bodenfeuchte in der Anbauregion ist die niedrigste jemals gemessene.

Rund ein Drittel der Maisernte der Vereinigten Staaten fließt in die Produktion von Treibstoff. Spekulationsgeschäfte treiben die Nahrungsmittelpreise nach oben (was aber nicht den Bauern zugute kommt, sondern den Händlern und Konzernen). Auch darin drückt sich eine generelle Politik des Hungers aus.

Obwohl die Welt gehofft habe, durch eine gute US-Ernte würden die gefährlich niedrigen Lagerbestände aufgefüllt werden, sei davon nicht mehr die Rede, schreibt Brown. Die Getreidereserven würden gegen Ende der Saison weiter fallen, was die Ernährungssituationen noch verschärfe. Die Preise für Nahrungsmittel, die bereits zulegten, würden der Preissteigerung für Mais folgen, höchstwahrscheinlich auf Rekordniveau. Nicht nur die gegenwärtige Ernährungslage verschlechtere sich, sondern das globale Ernährungssystem insgesamt. Nahrungsexportländer würden Ausfuhrbeschränkungen verhängen, Importländer in Panik geraten. Brown schreibt mit einem Schuß Galgenhumor: "Willkommen in der neuen Geopolitik des Nahrungsmangels. Während die Nahrungsversorgung enger wird, steuern wir in eine neue Nahrungsära, in der jedes Land auf sich allein gestellt ist."

Die Dürre in den USA ist die schlimmste seit über 50 Jahren, und noch immer fördern das Landwirtschafts- und das Energieministerium unverdrossen die Produktion von Biosprit aus Mais und anderen Nahrungs- bzw. Futtermitteln, wie einer Presseerklärung des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) vom Mittwoch zu entnehmen ist [4]. Am selben Tag erklärt Landwirtschaftsminister Tom Vilsack weitere 76 Counties in sechs Bundesstaaten zum Katastrophengebiet [5]. Damit beläuft sich die Zahl der von Dürre schwer betroffenen Counties auf 1369, die sich auf 31 Bundesstaaten verteilen.

Es war jahrzehntelang ausgewiesene Politik der US-Regierung, die Entwicklungsländer anzuhalten, Agrarprodukte vor allem für den Export zu erzeugen und die heimische Nahrungsproduktion zu vernachlässigen, im Vertrauen darauf, daß sie relativ preisgünstig Getreide aus den USA erwerben können. Nun haben die armen Länder das Nachsehen, denn sie sind gezwungen, sich Nahrung auf dem Weltmarkt zu Preisen zu besorgen, die teilweise die während der globalen Nahrungskrise 2007/2008 übersteigen.

In den westlichen Industriestaaten geben die Bewohner etwa 15 Prozent ihrer Einnahmen für Lebensmittel aus, in den Entwicklungsländern dagegen 75 Prozent. Geklammert wird dieses Verhältnis durch eine vom neoliberalen Wirtschaftsmodell bestimmte Weltordnung, der sich kaum ein Staat entziehen kann. Die meisten politischen Entscheidungsträger gehen mit der globalen Nahrungskrise ähnlich um wie mit dem Klimawandel: Solange sie nicht gefährdet sind, weder durch den Mangel selbst noch durch in Not geratene Menschen, die sich gegen die Verwalter des Mangels erheben, bleibt das Problem weit unten auf der Skala der Dringlichkeit. So wie innerhalb einer Gesellschaft ein Unterschied zwischen Menschen besteht, die bestens versorgt sind und die am Hungertuch nagen, wird auch die sogenannte internationale Staatengemeinschaft nach Gewinnern und Verlierern sortiert.

Nahrung in ausreichender Menge und Qualität zu sich zu nehmen ist für jedes Lebewesen von existentieller Bedeutung. Wenn sich also Menschen in der Erwartung einer zuverlässigeren Überlebenssicherung zu großen Gesellschaften zusammenschließen, dann sollten deren Mitglieder eigentlich erwarten dürfen, daß sie vor existentiellen Nöten wie Hunger bewahrt werden. Ein so offenkundiger Irrtum, daß er schon nicht mehr gesehen wird. Nicht das Thema Hunger füllt vornehmlich die Seiten jeder beliebigen Tageszeitung, sondern Krieg, Wirtschaftskämpfe, soziale Verelendung und allerlei Aktivitäten, die unter "Brot und Spiele" subsumiert werden können. Aber Hunger? Kaum. Nur hier und da aus aktuellem Anlaß Berichte über die aktuelle Dürre in den USA, die Überschwemmungen in Rußland und drohende Nahrungsprobleme. Aber immer aus der vermeintlichen Distanz heraus beschrieben.

Wenn Nahrungsmangel kein Thema ist, das Tag für Tag die Titelseiten einnimmt, bis das nahezu wichtigste aller Probleme der Menschheit behoben ist, und beispielsweise die sogenannten Volksvertreter viel Zeit mit Wahlkampf und der Verteidigung ihrer Posten verbringen, statt sich - ganz im Sinne der Behauptung, daß die Vergesellschaftung des Menschen unverzichtbar und nur zu dessen Vorteil sei - um die Beendigung der existentiellen Not zu kümmern, dann kann doch etwas sehr Grundsätzliches mit der vorherrschenden Ordnung, die den Menschen als alternativlos verkauft wird, nicht stimmen. Eine Inangriffnahme der Ernährungs-, Umwelt- und Energiekrise wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse, inklusive der Teilhaberschaft jedes einzelnen, unangetastet blieben.


Fußnoten:

[1] "The world is closer to a food crisis than most people realise", The Guardian, 24. Jul. 2012
http://www.guardian.co.uk/environment/2012/jul/24/world-food-crisis-closer

[2] "Die Geburt der Dritten Welt - Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter", Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2004.
Eine Rezension im Schattenblick unter:
http://schattenblick.com/infopool/buch/sachbuch/busar224.html

[3] "Politik des Hungers", Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010.
Eine Rezension im Schattenblick unter:
http://schattenblick.com/infopool/buch/sachbuch/busar531.html

[4] "Agriculture and Energy Departments Announce New Investments to Drive Innovations in Biofuels and Biobased Products", News Release No. 0251.12, 25. Juli 2012
http://www.usda.gov/wps/portal/usda/usdahome?contentid=2012/07/0251.xml&contentidonly=true

[5] "USDA Designates an Additional 76 Counties in 6 States as Primary Natural Disaster Areas Due to Worsening Drought", News Release No. 0250.12, 25. Juli 2012
http://www.usda.gov/wps/portal/usda/usdahome?contentid=2012/07/0250.xml&contentidonly=true

26. Juli 2012