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LAIRE/1298: Fluchtfalle Melilla - "Erfolgreicher" Massenansturm endet in Auffanglager (SB)


Flüchtlinge überwinden die Grenzanlagen der spanischen Exklaven in Marokko



Die Wohlstandsregionen schotten sich immer ausgeklügelter gegenüber Menschen ab, die in der Flucht aus der Heimat häufig den einzigen Ausweg aus ihren elenden Lebensumständen sehen. So betreibt die Europäische Union einen enormen apparativen und logistischen Aufwand, um in einem komplexen System aus Abwehr- und Überwachungsmaßnahmen den Zuzug von Menschen aus Afrika und anderen Kontinenten auszumanövrieren. Mit Hilfe von rechtlichen Kategorisierungen wie "Wirtschaftsflüchtling" werden die Betroffenen davon abgehalten, ihrer Notlage zu entkommen. Lagerhaltung ist die verbreitetste Form der Verwahrung. Daß die Not in den Herkunftsländern der Flüchtlinge keine Folge eines vorgegebenen Schicksals, sondern nicht zuletzt Ergebnis einer Wirtschaftspolitik ist, die überhaupt erst zur Entstehung von Wohlstandsregionen und ihrem Pendant, den Armutsregionen, beigetragen hat, wird dabei geflissentlich ignoriert.

Diese Woche haben Hunderte Flüchtlinge aus Afrika versucht, die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an der marokkanischen Mittelmeerküste zu erreichen. In Melilla stürmten rund 300 Menschen die High-tech-Sperranlagen mit ihren sechs Meter hohen Stacheldrahtzäunen und rissen diese teilweise ein. 100 Flüchtlinge konnten die Anlage überwinden. Ihr Ziel erreicht haben sie nicht. Sie wurden in ein Auffanglager gebracht, wo darüber entschieden werden soll, was weiter mit ihnen geschieht. Auch über die rund 50 Menschen, die schwimmend Ceuta, die andere spanische Exklave in Marokko, erreicht haben und aufgegriffen wurden, wird noch befunden. [1]

Viele afrikanische Flüchtlinge werden wieder in ihre Heimat abgeschoben. So auch der offensichtlich sehr verzweifelte Algerier, der sich im Juni dieses Jahres knapp oberhalb einer Schiffsschraube auf einer Fähre von Tanger in Tunesien nach Tarifa in Südspanien angeklammert hatte und vor dem Andocken entdeckt worden war. [2]

Die Europäische Union ist ein Bollwerk mit abgestufter Grenzsicherung, wobei auch innerhalb der "Festung Europa" Unterschiede des Wohlstands geschaffen werden. Ausgerechnet die EU-Frontstaaten Spanien und Griechenland, in denen sehr viele Flüchtlinge ankommen, sind wirtschaftlich angeschlagen und auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen von Kräften und Interessen im "Gravitationszentrum" der Europäischen Union, wie es einst vom deutschen Außenminister Joseph Fischer als politisches Wunschmodell visioniert wurde, angewiesen. Das Manager-Magazin zitierte im Jahr 2000 aus der Rede des grünen Ex-Sponti an der Berliner Humboldt-Universität:

"Bei jeder Überlegung über die Option Gravitationszentrum muss eines klar sein: Diese Avantgarde darf niemals exklusiv, sondern muss für alle Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten der EU offen sein, wenn diese zu einem bestimmten Zeitpunkt teilnehmen wollen." [3]

Nun, die Exklusivität wurde verwirklicht. Über die Haushaltspolitik Griechenlands wird kaum noch in Athen entschieden. Niemand rechnet damit, daß sich die Lebensverhältnisse innerhalb der Europäischen Union wieder zu dem Stand zurückentwickeln, wie er vor Beginn der sogenannten Schuldenkrise vor einigen Jahren, als die Schuldherren begannen, die Schulden einzutreiben, vorherrschte.

Daß noch immer jedes Jahr Tausende Menschen den lebensgefährlichen Weg aus Afrika nach Europa einschlagen, dürfte als Indiz dafür anzusehen sein, daß sich die Überlebensmöglichkeiten in den Ländern des Südens noch schlechter entwickeln als in Südeuropa. Wobei gegenwärtig auch sehr viele Griechen, Spanier und Portugiesen (aber auch Bulgaren und Rumänen) ihre Heimat verlassen und weiter nach Norden ziehen. Als Reaktion darauf werden inzwischen von "kerneuropäischen" Politikern schon Überlegungen angestellt, die Freizügigkeitsregelung der Europäischen Union wieder rückgängig zu machen.

Solch ein Abschotten innerhalb eines abgeschotteten Bereichs gab es auch auf mittelalterlichen Festungen: Wer innerhalb der Mauern lebte, konnte sich als privilegiert gegenüber den in Lehnsknechtschaft gehaltenen und ausgeplünderten Bewohnern außerhalb der Festungsmauern ansehen. Aber das bedeutete noch lange nicht, daß er seinen Fuß in die Räumlichkeiten der Herrschaften setzen durfte.

Man erinnere sich: In den neunziger Jahren waren die EU-Apologeten den Skeptikern solch einer Union mit dem Argument entgegengetreten, wie fortschrittlich und zukunftsgewandt es doch sei, daß in der EU nach Jahrhunderten der Kriege und Konflikte nun die Grenzen geöffnet werden. Jetzt sollen die Grenzbäume wieder heruntergelassen werden. Mit diesem Hinweis soll nicht gewissen Parteien, die zur Bundestagswahl 2013 angetreten sind, das Wort geredet werden, denn sie verschleiern mit Formulierungen nach der Art wie "unser Geld für die Griechen - damit muß Schluß sein", daß die Bundesrepublik zum eigenen Vorteil an der Verschlechterung der Lebensverhältnisse in Griechenland beteiligt ist.

Der geplante Zusammenschluß des nordamerikanischen mit dem europäischen Wirtschaftsraum, der durch Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) und der EU mit den USA (TTIP) besiegelt werden soll, befestigt die globale ökonomische Hierarchie weiter. Das zu erwartende Win-win-Geschäft der westlichen Wirtschaftsmächte speist sich aus den Verlusten, die dadurch bei allen anderen generiert werden. Afrika wird weiterhin vor allem als Ressourcenkontinent wahrgenommen: "Afrikas Rohstoffmärkte gewinnen zunehmend an Bedeutung und stehen heute im Fokus von Milliardeninvestitionen der Erdöl-, Erdgas- und Bergbaufirmen", schreibt der Afrika-Verein anläßlich einer Veranstaltung im Juni dieses Jahres. [4]

Das bedeutet wohl, daß Spanien in Zukunft seine Grenzzäune gegenüber Marokko doppelt so hoch machen muß, um die Flüchtlinge abzuhalten. Die haben mitunter einen monatelangen Fußweg, teils durch die Wüste, hinter sich, wenn sie in Marokko ankommen. Möglicherweise mußten sie auch ihre ganze Habe Schleppern übergeben. In den Camps außerhalb Melillas und Ceutas lassen sich die Flüchtlinge wochen- oder monatelang nieder, um auf eine passende Fluchtchance zu warten.

Aus der Sicht eines Flüchtlings, der die Grenzanlagen überwunden hat, war schon das ein riesiger Erfolg. Und doch sind die Chancen hoch, daß er wieder zurückgeschickt wird, also eigentlich gar nichts erreicht hat. Als noch größerer Erfolg gilt es, wenn ein Flüchtling spanisches Festland erreicht und für ein lächerlich kleines Handgeld einen Saisonjob als Obstpflücker ergattert. Wenn eine derart gesundheitlich ruinöse Arbeit das Traumziel der Flüchtlinge ist, stellt sich die Frage, wie hoffnungslos müssen dann erst die Lebensverhältnisse in den Ländern sein, aus denen diese Menschen stammen?


Fußnoten:

[1] http://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge342.html

[2] http://de.euronews.com/2013/06/10/illegaler-einwanderer-klebt-aussen-am-schiff/

[3] http://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/a-76268.html

[4] http://www.afrikaverein.de/kalender/veranstaltungen/detail/?id=942d4fbf-d540-bb29-58f0-51a379766b08

20. September 2013