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DILJA/1123: Lateinamerika - Den USA sind die Felle längst weggeschwommen (SB)


Lateinamerika - eine ehemalige Kolonialregion entzieht sich der westlichen Vorherrschaft

Der einstige "Hinterhof" droht in Zeiten der Krise zu einem Beispiel zu werden, das es nach Ansicht Washingtons nicht geben darf


Der venezolanische Präsident Hugo Chávez dürfte in den Agenturen westlicher Hegemonialbestrebungen, seien sie nun auf militärischer, politischer, wirtschaftlicher oder globaladministrativer Ebene tätig und in Metropolenstädten wie Washington oder Brüssel zu verorten, der wohl verhaßteste amtierende Staatschef sein. Dies muß keineswegs daran liegen, daß der als "Populist" höchst wirkungslos gescholtene Präsident eines lateinamerikanischen Staates, von dem die selbsternannte Weltführungsmacht USA einen nicht unerheblichen Teil ihres Erdöls bezieht, als Licht- oder vielmehr Schattengestalt von einem anderen Stern stammen oder ein gegenüber der westlich-demokratischen Staatenwelt vollkommen inkompatibles politisches Programm vertreten würde. Nein, die in den Regierungsämtern der westlichen Frontstaaten so schwer zu verhehlende tiefe Abneigung gegen Chávez dürfte vielmehr daher rühren, daß daß heutige Venezuela, genauer gesagt die Bolivarische Republik Venezuela, Versprechen erfüllt, die in der alten kapitalistischen Welt zwar auch benutzt, jedoch nicht einmal annäherungsweise mit greifbaren Ergebnissen in Verbindung gebracht werden können.

So hat die Regierung Venezuelas, bestärkt durch das am 15. Februar gewonnene Referendum, das eine zeitlich unbegrenzte Wiederwählbarkeit aller Amtsträger erbrachte, betont, den in Angriff genommenen Weg hin zu einer sozialistischen Gesellschaft mit allen nur denkbaren Anstrengungen fortzusetzen. Gemessen an der Frage, ob Privateigentum an Produktionsmitteln möglich ist und tatsächlich auch besteht, kann und muß Venezuela als ein kapitalistisches Land bezeichnet werden, auch wenn die Regierung Chávez in den zurückliegenden Jahren mehr und mehr Unternehmen nicht nur im Erdölbereich, sondern auch in anderen Produktions- und Landwirtschaftsbereichen verstaatlicht hat. Als ein (noch?) kapitalistisches Land mit demokratisch-sozialistischer Regierung könnte Venezuela ungeachtet der noch keineswegs gelösten Probleme des Landes - so konnte die Armut in den bisherigen zehn Jahren des Bolivarischen Revolutionsprozesses zwar erheblich reduziert, doch keineswegs überwunden werden -, als ein Präzedenzfall angesehen werden insbesondere auch für sozialdemokratisch regierte Staaten in Europa, die ausnahmslos von einem systematischen Abbau sozialer Rechte und Leistungen gekennzeichnet sind mit der Folge eines rapiden Anstiegs einer zuvor angesichts sozialstaatlicher Standards für überwunden erklärten Armut.

Somit entlarvt das als "populistisch" diffamierte Venezuela durch seine bloße Existenz als nicht nur erfolgversprechender, sondern nachweisbare soziale Erfolge erzielender Reformstaat die Hinhaltetaktik westeuropäischer Sozialstaaten, die ein elementares Interesse daran haben müssen, die rapiden Verluste an Lebensqualität und Überlebenssicherheit durch eine vermeintliche Sachzwangslogik, gewürzt mit der Weltwirtschaftskrise, begründen zu können. Wenn dann ein mittelgroßer Staat einer früheren Kolonialregion Fortschritte statt Rückschritte im sozialen Bereich erzielt, ist dies in höchstem Maße kontraproduktiv und schädlich für die Kernbehauptungen der westlichen Führungsstaaten. Erschwerend kommt dann noch hinzu, daß die Regierung Chávez die vornehmlich auf dem Ölexport landeseigener Sourcen beruhenden staatlichen Mittel nicht nur einsetzt, um die zuvor marginalisierte und verarmte Bevölkerung des eigenen Landes teilhaben zu lassen, sondern wirtschaftliche Beziehungen zu den übrigen Staaten Lateinamerikas aufbaut, durch die Venezuela nicht den eigenen Vorteil zu Lasten anderer, ärmerer Länder mehren, sondern deren Entwicklung unterstützen und fördern will.

In einer Weltordnung, in der das Überleben zu Lasten anderer von den Profiteuren, Nutznießern und Teilhabern einer solchen Hierarchie zum quasi naturgesetzlichen Zustand erhoben wurde, müssen Ansätze solidarischen Verhaltens wie Keimlinge eines möglichen gesellschaftlichen Gegenentwurfs für Unruhe sorgen; schließlich könnten Idee und Beispiel Schule machen und mit jedem weiteren Schritt an Überzeugungskraft gewinnen. In ganz Lateinamerika - sieht man einmal von der letzten kleinen Bastion verbliebener US-Hegemonie, nämlich Kolumbien, ab - ist eine, wie ihre politischen Gegner es nennen, "Linksentwicklung" zu verzeichnen, die keineswegs von Venezuela (allein) initiiert wurde, auch wenn die Regierung Chávez sie mit aller Kraft unterstützt und vorantreibt.

Sie kann in Washington von der alten Bush- wie auch der neuen Obama-Administration eigentlich nur als Alptraum erlebt werden, weil eine Grundprämisse US-amerikanischer Herrschaftslogik, nämlich die Annahme, über Lateinamerika wie über einen Hinterhof, dessen man sich vollkommen sicher sein zu können glaubte, verfügen zu können, schon lange keine reale Basis mehr hat. Diese "Sicherheit" hatte in den 1960er und 1970er Jahren ihre gewaltgestützte Basis, war es den USA doch gelungen, sich die Regierungen der formal in die Unabhängigkeit entlassenen ehemaligen Kolonien Lateinamerikas gefügig zu machen bzw. Folterregime einzusetzen und auszubilden, die jede eigenständige politische Entwicklung in der Region blutig im Keim erstickten.

Kaum ein Land Lateinamerikas, das nicht im politisch-historischen Bewußtsein seiner Bevölkerung tiefe Narben aus dieser dunklen Zeit aufweist, weshalb die Unumkehrbarkeit eines Prozesses, dessen Verlauf es den USA mehr und mehr unmöglich macht, die verlorengegangenen Hinterhof-Verhältnisse wiederherzustellen, nur um so vehementer ausfällt. Während das Versprechen von Freiheit, Wohlstand und Glück, das in der westlichen Welt nach wie vor mit der nahezu uneingeschränkten Verfügung über sämtliche Produktionsmittel und materiellen Lebensgrundlagen durch die jeweiligen Eigentümer verknüpft wird, wofür der Staat die erforderlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten habe, sind in Lateinamerika unter weitaus schlechteren Voraussetzungen Fortschritte erzielt worden, die die ihrer Natur nach unerfüllbaren Versprechen kapitalistischer Heilslehren bis ins Mark demaskieren.

Dies erklärt, warum der krisengeschüttelte Westen nicht das geringste Interesse gegenüber der Frage aufbringt, wie es beispielsweise Venezuela gelingen konnte, die Inflationsrate von 2,3 Prozent im Januar auf nur noch 1,3 Prozent im Februar zu reduzieren. So wenig, wie solch ein Anhaltspunkt verallgemeiner- und vergleichbar mit der spezifischen Situation anderer Staaten sein mag, so auffällig ist doch, daß dies mit Eingriffen in die Verfügungsgewalt der Kapitaleigner im Zusammenhang zu stehen scheint, die in der westlichen Welt als gröbste Verletzung marktheiliger Grundsätze abgelehnt worden wären.

Nach Darstellung der venezolanischen Regierung wurde die einsetzende Verknappung von Lebensmitteln im Lande künstlich herbeigeführt, weil viele Lebensmittelketten versucht hätten, die staatliche Preisbindung zu umgehen. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß viele Reisproduzenten keinen Naturreis mehr produzierten, weil dieser einem staatlichen Preisgebot unterlag, und auf weiterverarbeitete Reisprodukte auswichen, um höhere Preise und damit größere Gewinne erwirtschaften zu können, griff die Regierung Chávez rigoros durch, ließ Reisplantagen durch die Nationalgarde besetzen und einige Fabriken sogar enteignen, um eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu erschwinglichen Preisen sicherzustellen.

Nach westlichen Wertvorstellungen, in denen ein "Raubtierkapitalismus" postuliert wird, um die angebliche Alternativlosigkeit des gegenwärtig vorherrschenden Systems, dem nur in seinen vermeintlichen Auswüchsen etwas Raubtierhaftes anhafte, zu unterstreichen, hätte Venezuela aufgrund dieser staatlichen Interventionen geradezu bejubelt werden müssen. Die kapitalistischen Lebensmittelunternehmen wurden erst in dem Moment, in dem sie in besonders extremer Weise den Interessen der Bevölkerung zuwider handelten und deren Nahrungssicherheit aufs Spiel setzten, in ihren eigentumsgestützten Ausbeutungsrechten beschnitten. Insofern könnte man die jüngste Entwicklung in Venezuela als Schritt einer sozial verantwortlichen Regierung bezeichnen, den "Raubtierkapitalismus" auf ein sozial verträgliches Maß zurückzustutzen und damit zugleich auch dessen Grundvoraussetzungen am Leben zu erhalten.

In den USA allerdings scheinen die Bemühungen, einen freundlicheren Tonfall gegenüber den "linken" Regierungen Lateinamerikas - inklusive der Venezuelas - anzuschlagen, keineswegs einer tatsächlichen politischen Kurskorrektur, sondern einzig und allein taktischen Erwägungen geschuldet zu sein. Da die Felle, die Washington keineswegs nur im Verhältnis zu Caracas längst weggeschwommen sind, mit militärischen Mitteln und/oder politischem Druck keineswegs wieder eingefangen werden können, scheint die neue Administration, die sich ihrer Abhängigkeit von Lateinamerika und speziell den von dort bezogenen Energiesourcen durchaus bewußt zu sein scheint, nach neuen Wegen der Einflußnahme und Interessendurchsetzung zu suchen.

Eine offen erkennbare Fortsetzung des von der Bush-Administration eingeschlagenen Kurses westlicher Suprematie würde die Staaten und Völker Lateinamerikas nur umso mehr gegen den Westen aufbringen und sie in ihrem innerkontinentalen Solidaritätskurs bestärken. Dieser ist allerdings inzwischen schon so weit vorangeschritten, daß kaum eine Regierung Lateinamerikas heute noch glauben und danach handeln wird, vom Wohlwollen der USA oder auch der europäischen Staaten abhängig zu sein und sich deren politischen, wirtschaftlichen oder auch militärischen Forderungen oder Angeboten unterordnen zu müssen.

Derzeit wird in Santiago de Chile von den zwölf Verteidigungsministern der lateinamerikanischen Staaten ein Südamerikanischer Verteidigungsrat gegründet. Diese Idee hatte ein Jahr zuvor auf Vorschlag Brasiliens Gestalt angenommen, nachdem die Truppen des einzigen US-Verbündeten in der Region - Kolumbien - in das Nachbarland Ecuador eingedrungen und dort einen Führer der kolumbianischen Guerilla FARC ermordet hatten. Drei Staaten, Ecuador, Venezuela und Nicaragua, brachen daraufhin ihre diplomatischen Beziehungen zu Kolumbien ab und entsandten Truppen in die jeweiligen Grenzgebiete. Doch bevor diese Krise in einen innerlateinamerikanischen Krieg münden konnte, wurde sie auf einem Gipfeltreffen der Rio-Gruppe beigelegt.

Die politische Botschaft an die Regierung Kolumbiens und damit auch an deren Verbündeten USA, der den Übergriff auf Ecuador unterstützt hatte, war allerdings eindeutig: Die Staaten Lateinamerikas werden weder diesen noch irgendeinen anderen Versuch dulden, die territoriale Integrität eines ihrer Länder zu verletzen. Der Südamerikanische Verteidigungsrat wird das Seine dazu beitragen, um durch militärische Kooperationen - gedacht ist auch an eine Abkopplung der eigenen Rüstungsindustrie von transatlantischen, d.h. von der westlichen Staatenwelt dominierten Konzernen - ein Rollback in graue Hinterhof-Zeiten dauerhaft zu verhindern.

12. März 2009