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DILJA/1151: Die BRD feiert sich selbst - garniert mit neuesten "Stasi-Enthüllungen" (SB)


Pünktlich zum Tag der Feiern zum 60jährigen Bestehen der BRD werden angeblich neue Enthüllungen über die Stasi veröffentlicht

Schießen Linke auf Linke? Der Polizist, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg erschoß, soll inoffizieller Stasi-Mitarbeiter gewesen sein


Am vergangenen Freitag wurde in einem feierlichen Staatsakt im Berliner Konzerthaus das 60jährige Bestehen der Republik begangen. Vor Politikern und Diplomaten stellte der alte und neue Bundespräsident Horst Köhler als einziger Redner auf die angeblich "friedliche Revolution" von 1989 ab, wie die endgültige Vereinnahmung der DDR durch den Weststaat BRD in politisch korrektem (Amts-) Deutsch genannt wird, und stellte die Behauptung auf, diese habe das Ansehen Deutschlands in der Welt unendlich gesteigert. Am selben Tag - da mag an einen Zufall glauben, wer will - sorgte eine Meldung für Furore, die auf den ersten Blick nichts oder zumindest nicht viel mit dem 60jährigen Geburtstag der Bundesrepublik und ihres Grundgesetzes zu tun hat.

Mit den Worten "Linker erschoss Linken" brachte die Berliner Zeitung auf den Punkt, was die eigentliche Botschaft der jüngsten, keineswegs nur auf die so-und-so-vielte Diskreditierung der DDR, sondern auf die Entsolidarisierung linker Oppositionsgruppen und -strömungen, so sie sich als in der Geschichte der Studentenbewegung stehend begreifen, abzielenden Kampagne zu sein scheint. Im Kern geht es um Enthüllungen der mit der Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen befaßten Birthler-Behörde, denenzufolge der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 am Rande der damaligen Demonstrationen in Westberlin gegen den Besuch des Schahs den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, langjähriger Stasi-Mitarbeiter gewesen sei. Bekanntlich wurde der damalige Polizeiobermeister und heute 81jährige mehrfach vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen; die Westberliner Justiz hielt ihm, wie in Fällen polizeilicher Übergriffe auf unbewaffnete Bürger bis heute üblich, zugute, aus "Notwehr" gehandelt, sprich geschossen zu haben.

Gegenüber der "Bild am Sonntag" soll Kurras entgegen seiner vorherigen, gegenteiligen Beteuerungen inzwischen eingeräumt haben, sowohl Mitglied der SED als auch informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen zu sein. Ihm könnte nun eine erneute Strafverfolgung drohen. Wie ein Sprecher des Landgerichts Berlin bestätigte, könnte die Staatsanwaltschaft, sollten sich aus den Materialien neue Erkenntnisse ergeben, die auf einen Mordverdacht schließen lassen, Ermittlungen aufnehmen, obwohl der ursprüngliche Vorwurf der fahrlässigen Tötung inzwischen verjährt ist. Zwei Strafanzeigen von sogenannten Opferverbänden sind gegen Kurras bereits gestellt worden. Sie stammen aus der Feder von Carl-Wolfgang Holzapfel, dem Vorsitzenden der Vereinigung 17. Juni 1953 und stellvertretenden Vorsitzenden der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, der mit den Worten "Mord verjährt nicht" vor die Presse trat und erklärte: "Wir wollen erreichen, daß der Fall neu aufgerollt wird und mögliche Verstrickungen der Stasi aufgeklärt werden."

Hinweise darauf, daß aus den Stasi-Unterlagen, mit denen die Birthler-Behörde ausgerechnet am Tag der 60-Jahr-Feierlichkeiten aufwartete, wie um den inzwischen 20jährigen Sieg über die DDR gleich gebührend mitzufeiern, auch ein Mordauftrag der Stasi an Kurras hervorgegangen sei, liegen zwar nicht vor, doch das hindert die Wortführer dieser Kampagne nicht daran, auf ihr eigentliches Ziel loszusteuern. Wenn Kurras ein IM der Stasi war, wie umfangreiche Materialien bestätigen sollen und Kurras selbst inzwischen einräumt, könnte die DDR doch auf verschlungenen Pfaden auch für die Erschießung Benno Ohnesorgs verantwortlich gemacht werden. Stefan Aust stellte gegenüber NDR Info am 22. Mai 2009 Überlegungen an, die zwar nicht auf "harten Fakten" beruhen, aber sehr wohl erkennen lassen, mit welcher Stoßrichtung die derzeitige, unter die Frage: Muß die Geschichte der Studentenbewegung neu geschrieben werden? gestellte Kampagne geführt wird:

Wir wissen im Augenblick nicht, ob er [gemeint ist Kurras, Anm. der SB-Redaktion] aus freien Stücken, ob er aus Versehen, ob er verwirrt oder aus welchen Gründen auch immer er geschossen hat, oder ob er einen Auftrag bekommen hat. Und deswegen, glaube ich, muß man ein bißchen vorsichtig sein das zu behaupten, aber die Umstände sind natürlich so, daß man durchaus auf den Gedanken kommen kann, daß der nicht ganz aus freien Stücken gehandelt hat. Denn natürlich hat die DDR ein Interesse oder jedenfalls Teile in der DDR ein Interesse an einer Destabilisierung der Bundesrepublik und speziell von West-Berlin gehabt. Daß die dann möglicherweise zu solchen Methoden greifen oder die billigend in Kauf nehmen, das hätte man sich eigentlich kaum vorstellen können.

Stefan Aust, den der NDR als "Journalisten" und "RAF-Experten" bezeichnete, sprach sich denn folgerichtig auch für Mordermittlungen gegen den 81jährigen aus. In der FAZ argumentierte Aust in bester Zirkelschlüssigkeit mit dem Argument, daß die Tatsache, daß Kurras "in der Masse rebellierender vorwiegend linker Studenten gleichsam unter 'Freunden und Genossen' war", seine Aussage vor Gericht, er habe sich bedroht gefühlt, noch unwahrscheinlicher macht. Führt man Austs Argumentationsstrang weiter, läge die Frage nahe, ob denn nicht auch die Richter, die Kurras die Generalabsolution erteilten, die deutschen Polizisten in aller Regel zuteil wird, wenn sie in Ausübung ihrer beruflichen Pflichten anderen Menschen schwere Schäden zufügen, informelle Mitarbeiter der Stasi gewesen sein könnten. Das der DDR-Führung unterstellte Motiv, aktiv an der Destabilisierung der politischen Lage in der Bundesrepublik und speziell der in Westberlin mitgewirkt zu haben, ließe sich ebenso gut dahin ausdeuten, daß der Freispruch des Todesschützen Kurras die Wut der Studenten angestachelt hat, weil damit die politische (und juristische) Führung der Bundesrepublik die kaltblütige Erschießung eines der ihren gedeckt hat.

Die Geschichte der Ermordung Ohnesorgs, ja, die der gesamten Studentenbewegung bzw. der außerparlamentarischen Opposition müsse, so der Standpunkt vorherrschender Medien, neu bewertet und geschrieben werden. Ein solcher Vorschlag offenbart in erster Linie die Absicht, die DDR durch eine solchen, wenn auch noch inoffizellen Mordverdacht nach 20 Jahren, in denen "die Zeit" keineswegs für das bundesrepublikanische System gearbeitet hat, das unter einer zunehmenden Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzkrise zu "leiden" hat, zu verunglimpfen, und zwar speziell in Hinsicht auf die heutige Linke bzw. den in seiner Zahl schwer abzuschätzenden kritischen Anteil der Bevölkerung, der sich auf der Basis von Hartz-IV- und sonstigen Armutserfahrungen für die Idee der Gesellschaftsutopie Sozialismus zu interessieren beginnt.

Tatsächlich würde die Behauptung, der IM Kurras habe womöglich mit Wissen und Wollen der Stasi den Studenten Benno Ohnesorg erschossen, keinen Anhaltspunkt für eine Korrektur der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung liefern. Die Erschießung Ohnesorgs in einen monokausalen Zusammenhang mit der Studentenbewegung und speziell ihrer späteren Radikalisierung zu stellen, zeugt nicht nur von historischer Unkenntnis, sondern von bestimmten, höchst aktuellen Absichten. Stellvertretend für die vorherrschende historische Darstellung der "Studentenbewegung" soll folgendes Zitat die Überprüfung der Frage ermöglichen, ob der behaupteten SED-Mitgliedschaft und Stasi-Mitarbeit des Todesschützen Kurras ein historisch bedeutsamer Stellenwert beizumessen sei:

Studentenbewegung

Aus Protesten an den bundesrepublikanischen Hochschulen gegen unzureichende Studienbedingungen und erstarrte hierarchische Strukturen an den Universitäten erwächst nach Bildung der Großen Koalition 1966 eine politische Bewegung unter den Studenten. Als Teil der Außerparlamentarischen Opposition greift sie bald über die Hochschulen hinaus und bestimmt zwischen 1967 und den frühen siebziger Jahren das politische Klima in der Bundesrepublik wesentlich mit.

Kristallisationspunkte des Protests, der sich von Campusrevolten in anderen westlichen Ländern inspirieren ließ, sind vor allem der Krieg der USA in Vietnam, der antikolonialistische Befreiungskampf in der Dritten Welt und die restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik, die insbesondere an der ausgebliebenen gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Nationalsozialismus, dem Wiederaufleben des deutschen Militarismus und der geplanten Notstandsgesetzgebung festgemacht werden. (...)

Die zunehmende Diskreditierung der Bewegung durch die etablierten politischen Parteien und große Teile der Medien, insbesondere der Springer-Presse trägt zur Radikalisierung der Oppositionsbewegung bei. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg durch Polizeischüsse am 2.6.1967, das Attentat auf Rudi Dutschke durch einen Rechtsradikalen am 11.4.1968 und die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30.5.1969 markieren für einen Teil der Studentenbewegung Wendepunkte zum Kampf gegen Staat und Gesellschaft. Ab 1970 zerfällt die Studentenbewegung u.a. als Folge der Bildung einer sozialliberalen Koalition am 22.10.1969, die mit gesellschaftlichen Reformen der Studentenbewegung die Stoßkraft nimmt. (...)

aus: Deutschland '49-'99, Die Fischer Chronik Deutschland 1949-1999, Ereignisse Personen Daten, herausgegeben von der Weltalmanach-Redaktion, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Mai 1999, Spalte 397/398

Daß über 40 Jahre nach dem 2. Juni 1967 der in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Berlin tätige Historiker Helmut Müller-Enbergs "zufällig" auf 17 Aktenbände im Bestand des Ministeriums für Staatssicherheit allein zu Kurras gestoßen sein will, wurde einer vermeintlichen Sensation gleich in der Presse präsentiert, ohne daß die Frage aufgeworfen wird, wie der seltsame "Zufall", daß ausgerechnet am Tag der Gedenkfeierlichkeiten zum 60jährigen Bestehen der Bundesrepublik mit derartigen Enthüllungen aufgewartet wird, anders erklärt werden könnte als durch die These, daß es sich dabei um zwei Achsen einer miteinander verzahnten Kampagne handelt, die nicht nur die DDR, sondern die Linke schlechthin diskreditieren soll - da kommt die vermeintlich historisch in dem Kontext der deutsch-deutschen Geschichte belegbare These, daß ein "Linker" einen "Linken" erschossen habe, wie gerufen.

25. Mai 2009