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DILJA/1217: Mörderische EU - Der "nasse Tod" in Europas Außengewässern (SB)


"Grenzschutz" der EU bedeutet, unliebsame Flüchtlinge ertrinken zu lassen

Der "nasse Tod" hat womöglich schon tausende Menschen umgebracht


Am 13. September 2009 traf der bolivianische Präsident Evo Morales zu Gesprächen mit dem spanischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero und König Juan Carlos, aber auch Vertretern europäischer Unternehmen, in Madrid ein. Doch bevor er zu den offiziellen Gesprächen in der spanischen Hauptstadt erschien, hielt er in dem Madrider Vorort Leganés auf einer von linken wie auch Immigranten-Organisationen organisierten Kundgebung vor rund 10.000 Menschen eine Rede, in der er den zunehmenden Druck, den die EU auf Einwanderer aus anderen Kontinenten ausübe, kritisierte. Morales fordert in Hinsicht auf die seinerzeit kurz bevorstehende Vollversammlung der Vereinten Nationen die Anerkennung des allgemeinen Rechts, sich überall auf der Welt niederzulassen. Der Präsident Boliviens ging insbesondere mit der Migrationspolitik der EU hart ins Gericht und machte deutlich, daß er nicht verstehen könne, daß Bürger südamerikanischer Staaten in Europa illegalisiert werden, "während unsere Großeltern sie nie für illegal erklärt haben", als sie in zurückliegenden Jahrzehnten vor Hunger und Krieg nach Lateinamerika geflohen waren.

Die EU betreibt eine rigorose Abschottungspolitik gegenüber den Opfern bzw. Nachfahren der Leidtragenden ihrer Kolonialisierungskriege, Raubzüge und Annektionen und scheint dabei nicht einmal davor zurückzuschrecken, in ihrem nackten Überleben bedrohte Flüchtlinge "sterben zu lassen". Juristisch gesehen kann eine unterlassene Hilfeleistung eine schwere Straftat darstellen und einem Tötungsdelikt gleichkommen, und so prüft die zuständige Staatsanwaltschaft in Agrigento auf Sizilien, ob die Verdachtsmomente in dem Fall eines 77fachen Ertrinken afrikanischer Flüchtlinge im August dieses Jahres für die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen unterlassener Hilfe ausreichen. Ob Evo Morales zu dem Zeitpunkt, an dem er die Abschottungspolitik der EU gegenüber Flüchtlingen aus anderen Kontinenten geißelte, über diese Tragödie informiert war, mag dahingestellt bleiben.

Dieser "Fall" unterstreicht exemplarisch die buchstäblich "mörderischen" Verhältnisse an den Außengrenzen der EU und insbesondere in den EU-nahen Meeren. Nach Angaben aus Brüssel haben im Jahr 2008 80.000 Menschen versucht, auf dem Seeweg europäischen Boden zu erreichen. Über die Zahl der mutmaßlich dabei Ertrunkenen schweigen sich die EU-Behörden aus; andere Quellen schätzen sie auf mehrere Tausend. Im August ereignete sich eine Tragödie, die im Gegensatz zu vielen anderen nicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden konnte und der 77 Menschen aus Eritrea, Äthiopien und Nigeria zum Opfer fielen. Am 28. Juli hatten insgesamt 82 Flüchtlinge von Libyen aus versucht, mit einem Schlauchboot Europa zu erreichen. Auf See verloren sie die Orientierung. Nach Rücksprache mit dem Verkäufer des Bootes steuerten sie Malta an. Da sie jedoch die Insel nicht erreichten, forderte eine deutsche Flüchtlingsorganisation die maltesischen Behörden Mitte August auf, eine Suchaktion nach den Vermißten durchzuführen.

Doch nichts geschah. Als schließlich 20. August ein italienisches Schiff die Schiffbrüchigen aufnahmen, waren nur noch fünf Überlebende an Bord - alle anderen waren ertrunken bzw. vor Erschöpfung gestorben und über Bord geworfen worden. Die Überlebenden gaben Zeugnis ab über ihre dreiwöchige Irrfahrt und schilderten, daß sie jeden Tag zehn Schiffe und andere Boote gesehen hätten. Doch niemand hatte den in Seenot befindlichen Flüchtlingen helfen wollen. Sogar ein deutscher Hubschrauber, im Einsatz für die EU-Außensicherung im Rahmen der Grenzschutzagentur Frontex, habe sie gesichtet, ohne Schritte zu ihrer Rettung einzuleiten. Als sich ihnen schließlich doch ein Boot näherte, war es ein Schiff der maltesischen Marine mit Männern in weißen Schutzanzügen, die sie zwar mit Wasser und Lebensmitteln versorgten, doch nicht an Bord nahmen. Wie die junge Welt berichtet [1], klagt nun eine Interessengemeinschaft "Boatpeople Malta-Italy" in einem Offenen Brief an den Europäischen Kommissar für Menschenrechte in Strasbourg dieses Vorgehen an.

Tragödien dieser Art sind "menschengemacht" insbesondere deshalb, weil die Kapitäne vorbeifahrender Schiffe, von denen keineswegs angenommen werden kann, daß sie das mit Flüchtlingen beladene Schlauchboot nicht gesehen hätten, durchaus Gründe haben, sich der Erfüllung der wohl elementarsten Pflicht auf See anderen Menschen gegenüber auf für die Betroffenen so grausame und tödliche Weise zu entziehen. Denn genau wegen einer solchen Rettungsaktion wurde anderen Seeleuten bereits der Prozeß gemacht. Der wohl bekannteste, aber keineswegs einzige dürfte das Verfahren gegen den Lübecker Stefan Schmidt, den Kapitän der "Cap Anamur", die im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 Menschen in Seenot gerettet hatte, sein. Kapitän Schmidt war deshalb, zusammen mit dem damaligen Vorsitzenden der gleichnamigen Hilfsorganisation, Elias Bierdel, und seinem ersten Offizier, Vladimir Daschkewitsch, in Italien wegen "Beihilfe zur illegalen Einreise" vor Gericht gestellt worden war. In dem dreijährigen Mammutprozeß wurden die Angeklagten am 7. Oktober dieses Jahres schließlich freigesprochen; gleichwohl wird gerade dieser Prozeß seine beabsichtigte abschreckende Wirkung auf Kapitäne und Seeleute in vergleichbarer Situation nicht verfehlt haben. Darauf deutet auch der Prozeßverlauf hin, den Schmidt in einem Interview schilderte. Auf die Frage, wie er den Prozeß rückwirkend sieht und erlebt hat, antwortete der frühere Kapitän der Cap Anamur [2]:

Ich habe ihn so erlebt, dass er schon ganz am Anfang hätte zuende sein können. In den Akten des Staatsanwaltes stand überhaupt nichts gegen uns drin. Unsere italienischen Anwälte haben die Akten durchgelesen, ein Stapel Papier von 50 Zentimeter Höhe, und die haben gesagt, wieso, es steht nichts drin, es gibt keine Beweise für einen Gesetzesverstoß. Während des Prozesses haben sechzig Zeugen ausgesagt, die der Staatsanwalt bestellt hatte, und kein einziger hat die Version des Staatsanwaltes bestätigt. Man hätte ganz zu Anfang sagen können, was soll das überhaupt. Der Prozess war politisch gewollt, deshalb wurde er durchgeführt.

Zu Beginn war die Richterin, 'alle drei Richter unbeleckt, sie wussten gar nichts. Das Blatt hat sich erst gewendet, als ich 2007 meine Aussage machen durfte. Das war die erste Aussage von jemandem, der wirklich dabei war. Ich saß dort von morgens um neun bis neunzehn Uhr mit einer kleinen Pause auf dem heißen Stuhl, und danach wurde die Richterin ganz anders. Vorher war sie unseren Anwälten öfters über den Mund gefahren, wollte nicht zulassen, dass sie was sagen. Aber danach war sie relativ friedlich. Man merkte, dass die Richter überlegten, was eigentlich passiert ist.

Der Staatsanwalt wurde auch freundlicher, wurde dann ausgewechselt. Insgesamt haben wir vier Staatsanwälte verschlissen. Der vierte Staatsanwalt jetzt hat in seinem Plädoyer lange erzählt, dass er uns ganz sympathisch findet, dass er gut findet, was wir getan haben, und hat uns eine halbe Stunde gelobt. Dann sollte er zu dem Strafmaß kommen, das er sich anscheinend nicht selbst ausgedacht hat. Er hat die Akte seiner Assistentin in die Hand gedrückt und ist mit Tränen in den Augen auf den Flur gelaufen. Und die Assistentin hat dann vier Jahre Gefängnis und 400.000 Euro Strafe gefordert, allerdings keinen einzigen Paragraphen eines Gesetzes genannt, gegen den wir verstoßen hätten. Sie konnte also nicht sagen, wofür wir ins Gefängnis gehen sollten, überhaupt nichts.

Das Verfahren gegen Schmidt und Bierdel hat, einzig begründet durch die Popularität der Angeklagten, die Mauer des Schweigens, die im allgemeinen über Vorfälle dieser Art und namentlich solche Strafverfahren gelegt wird, durchbrochen, was zu deren Freispruch beigetragen haben mag. Seit nunmehr zwei Jahren findet, fast ohne mediale Begleitung, im sizilianischen Agrigento ein ähnlicher Prozeß statt. Sieben tunesische Fischer sind hier angeklagt, 44 afrikanische Flüchtlinge nach Italien "geschleust" zu haben. Wegen Beihilfe zur illegalen Einreise und Widerstand gegen die Staatsgewalt hat die Staatsanwaltschaft drei Jahre Haft und 440.000 Euro Geldstrafe beantragt. Die Fischer hatten mit ihren zwei Booten am 8. August 2007 bei rauher See ein Schlauchboot mit 44 Flüchtlingen im Kanal von Sizilien entdeckt und die Schiffbrüchigen auf die 30 Seemeilen entfernte italienische Insel Lampedusa gebracht.

Unterwegs waren sie ihrerseits von der italienischen Küstenwache und Marine aufgebracht worden. Nachdem ein Militärarzt behauptet hatte, den Flüchtlingen ginge es so gut, daß sie nach Tunesien zurückfahren konnten, wollte die Marine ihre vermeintliche "Pflicht, die Einfahrt in italienische Gewässer zu verhindern" durchsetzen. Die tunesischen Fischer allerdings widersetzten sich und steuerten mit den Flüchtlingen Lampedusa an. Dort stellte sich heraus, daß es zwei von ihnen, einer schwangeren Frau und einem Kind, so schlecht ging, daß sie in ein Krankenhaus geflogen werden mußten. Die sieben Fischer wurden gleichwohl als mutmaßliche Schleuser verhaftet und erst Wochen später aus der Untersuchungshaft entlassen. Einer von ihnen unternahm einen Suizidversuch, nun stehen sie vor Gericht. Mit ihrer Verurteilung muß gerechnet werden, denn nach wie vor hat die EU ein "mörderisches" Interesse daran, Flüchtlinge auf See abzuwehren, und dazu muß auf Schiffsbesatzungen, -Eigner und -Kapitäne ein extrem massiver Druck ausgeübt werden.

Anmerkungen:

[1] 77facher Tod auf See. Flüchtlingen aus Afrika wochenlang Hilfe versagt, von Judith Gleitze, Palermo, junge Welt, 16.11.2009, S. 7

[2] Kapitän Schmidt in Italien freigesprochen: "Ein ganzer Staat war gegen uns, und unser eigener Staat hat überhaupt nichts gemacht", Interview mit Stefan Schmidt, von Reinhard Pohl, Gegenwind Nr. 254, Nov. 2009, S. 34-37; im Schattenblick in -> MEDIEN -> ALTERNATIVPRESSE unter GEGENWIND/393: Kapitän Schmidt in Italien freigesprochen - Interview

16. November 2009