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DILJA/1231: Verhärtete Fronten in Nepal - Maoisten kämpfen um die Demokratie (SB)


Generalstreik und Massenproteste, Ausrufung autonomer Staaten - die Maoisten kämpfen mit zivilen Mitteln um die Demokratie

Das Friedensabkommen von 2006 entpuppt sich als Hinhaltemanöver gegen die maoistische Kommunistische Partei Nepals


Wie tief die Kommunistische Partei Nepals (Maoisten), die mit Abstand stärkste Fraktion in dem Verfassungskonvent genannten Parlament des Landes, in der nepalesischen Bevölkerung verankert ist, stellte sie mit ihrer inzwischen in die dritte Stufe übergeführten Protestkampagne um die "zivile Oberhoheit" eindrucksvoll unter Beweis. Schon in den ersten beiden Stufen waren ihre Aufrufe zur Mobilisierung der Massen befolgt worden. Mit Demonstrationen, Massenkundgebungen und Straßenblockaden haben die Maoisten, nachdem sie sich im Mai dieses Jahres gezwungen gesehen hatten, die ihr laut Wählervotum zustehende Regierungsgewalt abzugeben, ihren Kampf um die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen mehr und mehr auf die Straßen des ganzen Landes verlagert. So hatten im November zehntausende Menschen, die dem Aufruf der Vereinigten KP Nepals (Maoistisch) - VKPN (M) - gefolgt waren, zwei Tage lang den Regierungssitz in der Hauptstadt Kathmandu blockiert.

Pushpa Kamal Dahal Prachanda, Parteivorsitzender der maoistischen KP und bis zu seinem Rücktritt am 19. April 2009 erster demokratisch gewählter Ministerpräsident des Landes, hatte seinen politischen Gegenspielern in der aus 22 Parteien gebildeten Koalition ein Ultimatum bis zum 20. November gestellt, um zu einer gemeinsamen Regierungsbildung unter Vorsitz der Maoisten sowie einer Sicherung der "zivilen Oberhoheit" zu kommen. Was sich hinter den von der maoistischen KP gestellten Bedingungen verbirgt, ist ein Kampf um nicht weniger als die demokratische Entwicklung der jungen Republik, die noch gar nicht zur vollen Entfaltung gebracht werden konnte. Nach 240 Jahren Feudalmonarchie stellte Nepal einen Anachronismus dar, an dessen zutiefst undemokratischer Beschaffenheit die internationale Staatenwelt, die im übrigen gern für sich in Anspruch nimmt, jeden Winkel der Erde, und sei es mit flammendem Schwert, zur Demokratie zu bekehren, erstaunlich wenig Anstoß nahm.

Die Erklärung ist denkbar einfach, hatten doch die Maoisten seit 1996 einen bewaffneten Kampf gegen die Streitkräfte des Königreichs geführt, um die Forderung nach Abschaffung der Monarchie durchzusetzen. Zehn Jahre später zeichnete sich ab, daß dieser von der Bevölkerung mehrheitlich unterstützte und getragene Kampf mit einem Sieg der Maoisten zu enden "drohte" - "drohte" aus Sicht der in ihrem Herrschaftsanspruch im Kern in Frage gestellten alten Eliten, zu denen sich neben Monarch und Monarchisten auch die Parteien der bürgerlichen Mitte gesellten, die sich in einem vom Monarchen bestimmten scheinparlamentarischen Rahmen als Königshelfer zu profilieren gewußt haben. Dieser politischen Mitte war es denn aus Sicht der antikommunistischen Kräfte im In- und Ausland zu verdanken, daß der Super-GAU, also die Übergabe der Regierungsgewalt auf der Basis demokratischer Wahlen an die maoistische KP, verhindert werden konnte.

Die Maoisten ließen sich nach zehnjährigem Bürgerkrieg, den baldmöglichst zu beenden angesichts der vielen Opfer ihnen eine humanitäre Pflicht war, 2006 auf ein Friedensabkommen ein, das einen Übergang zur Demokratie versprach [1]. König Gyanendra, der letzte amtierende Monarch, mußte im Frühjahr 2008 nach Massenprotesten abtreten. Im April 2008 wurden die ersten Parlamentswahlen zur Einberufung des Verfassungskonvents abgehalten. Aus ihnen gingen die Maoisten als mit Abstand stärkste Fraktion hervor, weshalb ihr Vorsitzender Prachanda als der erste demokratisch legitimierte Ministerpräsident des Landes zu bezeichnen ist. Die Rolle des antikommunistischen bzw., wie im Falle Nepals zu sagen wäre, antimaoistischen Konters übernahm nach dem Abgesang der Monarchie ein breites Bündnis der übrigen konservativen bis links-konservativen Parteien, wobei mit letzterem die Kommunistische Partei Nepals Vereinte Marxisten und Leninisten KPN (VML) gemeint ist.

Das Friedensabkommen von 2006, das als Durchbruch zur Konfliktbeilegung von historischem Ausmaß gefeiert worden war, erwies sich, mehr oder minder schleichend, als eine Mogelpackung, um die Maoisten mit einer Regierungsgewalt abzuspeisen, die ihnen im weiteren Verlauf wieder abspenstig gemacht wurde. So hatte zu den Zusagen, die den Maoisten in diesem Abkommen gemacht worden waren, die Reintegration ihrer bewaffneten Kämpfer in die Gesellschaft bzw. die reguläre Armee Nepals gehört. Nur unter dieser Voraussetzung hatte sich die maoistische KP überhaupt bereiterklärt, den bewaffneten Kampf gegen die Monarchie einzustellen. Inzwischen sind weit über drei Jahre vergangen, ohne daß diese Zusage eingehalten worden wäre, mit der für die Betroffenen völlig inakzeptablen Folge einer Quasi-Internierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen.

Da "die Macht aus den Gewehrläufen kommt" ist dieser Punkt kein Streitpunkt unter vielen, wenngleich sich in dem getrübten Verhältnis zwischen den im Parlament vertretenen politischen Kräften des Landes selbstverständlich noch mehr Konfliktlinien herauskristallisierten. Hinter der Forderung der Maoisten, die nach wie vor die stärkste Fraktion im Verfassungskonvent stellen, die dortige parlamentarische Arbeit jedoch aus Protest boykottieren, nach "ziviler Oberhoheit" verbirgt sich die Forderung nach der Beendigung eines Komplotts zwischen der bürgerlichen Parteienallianz, Staatspräsident Ram Baran Yadav, dem Militär und dem Höchsten Gericht des Landes. Der Streitpunkt, der den seit Jahren schwelenden Konflikt im Mai zum Überkochen brachte und Prachanda veranlaßte, von seinem Amt als Ministerpräsident zurückzutreten, war die offene Brüskierung der durch ihn vertretenen, demokratisch gewählten Regierung durch das Militär.

Genauer gesagt durch den inzwischen in den Altersruhestand versetzten General Rukmangad Katawal, der 40 Jahre seines dienstlichen Lebens der Monarchie treu gedient und Anordnungen der Regierung Prachanda mehrfach ignoriert hatte. Dies wäre in etwa vergleichbar mit Befehlsverweigerungen der obersten Führung der Bundeswehr gegenüber der Bundesregierung und stellt, auch in Nepal, einen absoluten Bruch mit den demokratischen Prinzipien dar, zu denen sich das Land auf der Basis des Friedensabkommens von 2006 bekannt hat. Als dann auch noch Staatspräsident Yadav Katawal Rückendeckung gab und auch das Oberste Gericht sich an dem Possenspiel beteiligte, zog Ministerpräsident Prachanda die Konsequenz und zog sich aus einem Regierungsgeschäft zurück, das ihm und den Maoisten, wie sich an der prekären Frage der Reintegrierung der maoistischen Kämpfer ablesen ließ, nur zum Schein übertragen worden war.

Die politischen Gegner Prachandas sehen all dies selbstverständlich vollkommen anders. Das nun vakante Amt des Ministerpräsidenten okkupierte Madhav Kumar Nepal von der KP der Vereinten Marxisten und Leninisten, obwohl er bei den Wahlen von 2008 glatt durchgefallen war. Wegen des Parlamentsboykotts der Maoisten kommt die Arbeit an einer neuen Verfassung, die laut Friedensabkommen im Sommer 2010 hätte fertiggestellt werden sollen, was aufgrund der tatsächlichen Entwicklung längst ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist, nicht voran. Die Maoisten machen ihre mögliche Mitarbeit an den Verfassungsvorbereitungen wie auch der Parlamentsarbeit davon abhängig, daß Präsident Yadav sein Veto, mit dem er die Entlassung General Katawals im Frühjahr durch die Regierung Prachanda blockiert hatte, zurücknimmt oder daß die politischen Parteien dessen Entscheidung als verfassungswidrig bezeichnen.

Die Maoisten werfen, und das mit gutem Grund, den übrigen Parteien vor, eine "militärische Oberhoheit" zu fördern, und stellen dem ihre Forderung nach einer "zivilen Oberhoheit" entgegen. In einem Staatswesen, das den Anspruch für sich reklamiert, eine Demokratie zu sein, dürfte eine solche Frage überhaupt kein Diskussionsgegenstand und schon gar nicht ein Streitpunkt sein, mit dem sich die gewählte Regierung auseinanderzusetzen hat. Da die politischen Gegner der Maoisten sehr wohl um deren Potential wissen, die Bevölkerung zu mobilisieren, hat es an Versuchen, sie in eine gemeinsame Regierung einzubinden, in der allerdings nicht wieder Prachanda, sondern der Chef der KPN (VML), der jetzige "Ministerpräsident" Madhav Kumar Nepal, eine dominierende Rolle einnehmen würde, gemangelt.

Die Maoisten ließen sich darauf nicht ein, boten allerdings ihrerseits die Bildung einer Gemeinsamen Regierung unter der Leitung Prachandas an. Da sich hinter all diesen vermeintlichen Ränkespielen der Kampf um die militärische Kontrolle des Landes verbirgt, sind die Probleme um Regierungsbildung und Verfassungsgebung nicht zu lösen, solange nicht in den militärischen Fragen eine tatsächliche und nicht nur eine vorgetäuschte Übereinkunft gefunden wurde. Als ein Erfolg, der offensichtlich nur den Zweck erfüllen soll, die Maoisten von einer Verschärfung ihrer landesweit organisierten und intensivierten Proteste abzuhalten, wurde eine Vereinbarung präsentiert, die die Entkasernierung zumindest der minderjährigen ehemaligen Guerillakämpfer zum Gegenstand haben soll. So unterzeichneten die Maoisten und die jetzige "Regierung" am 16. Dezember ein Abkommen, das die Freilassung von dreitausend jugendlichen ehemaligen Kämpfern vorsieht. Die Rückführung der Betroffenen soll am 27. Dezember beginnen und nach 40 Tagen abgeschlossen sei, wobei den früheren Guerillakämpfern ein Schulbesuch, eine Ausbildung oder die Möglichkeit, ein Geschäft zu eröffnen, angeboten werden soll.

Dies stellt nach so langer Zeit eine eher kosmetische Maßnahme an, zumal das Schicksal all der übrigen, nicht minderjährigen Kämpfer noch immer völlig ungeklärt ist. Die Tatsache, daß die politischen Kontrahenten der Maoistischen Kommunistischen Partei, die als Wahlsiegerin von 2008 die mit Abstand stärkste demokratische Legitimation aufweisen kann, in diesem Punkt eine verschworene Gemeinschaft bilden, läßt nur den Rückschluß zu, daß sie die Maoisten dauerhaft "über den Tisch ziehen" wollen und deshalb alle Hebel in Bewegung setzen, um die inzwischen seit über drei Jahren internierten Kämpfer, die längst in die reguläre Armee, so sie dies denn wollten, integriert oder ins Zivilleben hätten entlassen werden können, weiterhin unter Verschluß zu halten. Wie stark der Widerstand ist, die nicht nur die maoistische KP, sondern die Bevölkerung Nepals diesen Kräften entgegenbringt, zeigte sich in den letzten Tagen.

Durch einen für drei Tage vom 20. bis 22. Dezember von den Maoisten ausgerufenen Generalstreik kam das öffentliche Leben in Nepal zum Erliegen. Die antimaostischen Kräfte, die derzeit die Regierungsämter innehaben, zögerten nicht, mit Polizeigewalt gegen die protestierenden Menschen vorzugehen. Nachdem schon am ersten Streiktag 120 Personen festgenommen worden waren und die Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die wütenden Menschen vorgingen, sah sich das UN-Büro für Menschenrechte veranlaßt, wegen der "Anwendung exzessiver Gewalt" seitens der Polizei zur Zurückhaltung aufzurufen. Dreizehn Bundesstaaten haben die Maoisten einseitig zu autonomen Staaten erklärt, was wie auch die andauernden Massenproteste und der dreitägige Generalstreik zur dritten Stufe ihrer Protestkampagne gehört, die sie solange fortsetzen wollen, bis Regierung und Präsident zurückgetreten sind.

All diese Schritte werden, wie auch die Proklamation der 13 autonomen Bundesstaaten, von der Regierungskoalition als vermeintliche Verletzung des Friedensabkommens von 2006 durch die Maoisten angeprangert, so als wären es nicht gerade diese Kräfte, die die Umsetzung der darin gemachten Zusagen schon seit Jahren verweigern. Die bürgerlich-konservative Partei Nepali Congress (NC) und die Kommunistische Partei der Vereinten Marxisten und Leninisten (KPN - VML) werfen den Maoisten sogar vor, daß es ihre Schuld sei, daß ihre einstige Guerilla immer noch in UN-überwachten Lagern leben müsse. Prachanda hatte schon im September bei einer Massenkundgebung in Kathmandu erklärt, daß die Zeit reif sei für eine "neue kommunistische Revolution". Seit Ende November, als die Regierungskoalition ein von den Maoisten zur politischen Beilegung der Krise gestelltes Ultimatum verstreichen ließen, spricht Prachanda davon, daß seine Partei nun die Bildung einer "parallelen" Regierung nicht mehr ausschließe.

Von einer "Befriedung" der hochangespannten Lage in Nepal kann derzeit nicht ansatzweise gesprochen werden. Der Weg des konservativen Lagers, die Maoisten mit Versprechen, die einzuhalten sie nicht gewillt sind, hinters Licht zu führen, ist zudem verbaut, denn derlei Machenschaften wird sich die maoistische KP nicht noch einmal bieten lassen, und so ist eine weitere Zuspitzung der Konfrontation unschwer vorherzusagen, wobei das Schweigen der Weltöffentlichkeit gewiß nicht darauf zurückzuführen ist, daß Nepal "auf dem Dach der Welt" liegt, sondern damit, daß der Antikommunismus, der sich hier Bahn bricht, sich selbstverständlich der vollen Unterstützung der führenden westlichen Staaten sicher sein kann.

[1] Siehe auch im Schattenblick -> INFOPOOL -> POLITIK -> MEINUNGEN:
DILJA/1149: Putschgefahr in Nepal - Affront der Rechten gegen regierende Maoisten (SB)

24. Dezember 2009