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DILJA/1249: Konfliktlinien vorprogrammiert zwischen EU/USA und Lateinamerika (SB)


Die (ehemaligen) Kolonialmächte in Europa und den USA geben nicht auf

Vielfältige Weichenstellungen für eine Konfrontation mit Lateinamerika


Frei nach dem Motto "Ihr müßt draußen bleiben" beschlossen die Staatschefs der lateinamerikanischen und karibischen Staaten auf dem jüngsten Gipfel der Rio-Gruppe die Gründung einer neuen Allianz der gesamten Region unter Ausschluß der USA und Kanadas. Der Präsident Mexikos, Calderon, stellte als Vorsitzender der Rio-Gruppe klar, daß der Zusammenschluß, dessen formale Gründung auf einem "Gipfel der Einheit" am 5. Juli 2011 in der venezolanischen Hauptstadt Caracas oder ein Jahr später in Chile vollzogen werden könnte, vor allem der regionalen Kooperation und Integration gelten solle. Doch wie auch immer diese kontinentweite Allianz, deren konkrete Zielsetzungen zwischen den Teilnehmerstaaten noch ausdiskutiert werden sollen, in Hinsicht auf ihre tatsächliche politische Relevanz bewertet werden mögen, steht doch außer Frage, daß der Prozeß der Entkoppelung der Region von der Vormachtstellung der USA, aber auch den Zugriffsversuchen EU-Europas damit auf die nächsthöhere Stufe gehoben werden wird.

Schon jetzt ist diese Entwicklung weitaus weiter vorangeschritten, als es den alten Kolonialmächten genehm sein kann. Ihr bislang eigentlich aufgegangenes Konzept, die sichtbaren Fesseln direkter Kolonialherrschaft in umso wirksamere Schuldenstricke überzuführen, unter denen die formal dekolonialisierten Staaten der von ihnen als "Dritte Welt" definierten Peripherieregionen umso effizienter und unaufkündbarer am Gängelband geführt werden können, hat in Lateinamerika ganz offensichtlich Schiffbruch erlitten. Es versteht sich nahezu von selbst, daß die "alte Welt" nicht kampflos zusieht, wie der einstige Hinterhof der westlichen Führungsmacht USA nicht nur die Gefolgschaft und vermeintliche Abhängigkeit gegenüber Washington aufkündigt und nicht minder konsequent auch gegenüber der EU einen eigenständigen Kurs entwickelt, sondern noch dazu politische, wirtschaftliche und soziale Tatsachen zu schaffen im Begriff steht, die die fest auf marktwirtschaftlichen und neoliberalen Dogmen beharrende westliche Welt fürchten muß wie der Teufel das Weihwasser.

Ginge die Loslösung der gesamten Region Lateinamerikas wie auch der Karibik von jahrhundertelanger Vormundschaft westlicher Mächte damit einher, daß deren Herrschaftsprinzipien adaptiert und sozusagen in einheimischer Trägerschaft fortgesetzt werden würden, wäre das Problem halb so schlimm, weil immer noch dieselbe Sprache, nämlich die des Stärkeren, der seine Interessen zu Lasten schwächerer und von ihm abhängiger "Partner" im Zweifelsfalle stets gewaltsam durchzusetzen versteht, gesprochen werden würde. Hätten die wirtschaftlich, politisch und militärisch stärksten Staaten Lateinamerikas sich aufgeschwungen, um die verbliebenen Einflüsse der alten Kolonialmächte endgültig zu kappen, nur um sich selbst an deren Stelle zu setzen, wären die Eliten in Washington, Berlin und Brüssel sicherlich nicht über die Maßen besorgt, weil sie in einem solchen Freund-Feind-Handelsverhältnis immer noch am längeren Hebel sitzen und ihre Karten ausspielen können.

Die tatsächliche Katastrophe - und dies selbstverständlich nur aus Sicht der genannten Eliten und Nutznießer ihrer althergebrachten Privilegienordnung - besteht in der Entwicklung solidarisch-verbindlicher Kooperationen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht, die das für unmöglich Erklärte in greifbare Nähe rücken und längst faktische Beweise geliefert haben, die gegenüber den jahrzehntealten Versprechen von Entwicklungshilfe und Schuldenerlaß seitens der EU und Washingtons eine unbezweifelbar größere Plausibilität erreicht haben. Überlegungen dieser oder ähnlicher Art mögen den bundesdeutschen Außenminister Guido Westerwelle anläßlich seiner derzeitigen Lateinamerika-Reise dazu bewogen haben zu erklären, man wolle, wie schon im Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP festgelegt, die Beziehungen zu Lateinamerika verbessern.

Diese Formulierung bedarf der Präzisierung, denn wären Bundesregierung und Brüssel an Beziehungen auf gleicher Augenhöhe interessiert, wäre es ihnen ein Leichtes, in Kooperation beispielsweise mit der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) zu treten oder auch mit dem im Dezember 2007 von Venezuela ins Leben gerufenen Wirtschaftsbündnis Petrocaribe, durch das die bislang 18 Mitgliedstaaten Lateinamerikas und der Karibik aus Caracas Erdöl zu Vorzugspreisen beziehen können. Doch nichts läge den EU-Oberen ferner, da nicht zuletzt gerade diese Zusammenschlüsse die von ihnen verteufelte und für bekämpfenswert erachtete Entwicklung repräsentieren. Beispielhaft nachzeichnen läßt sich diese Haltung Brüssels im Verhältnis zu dem mittelamerikanischen Staat Honduras, dessen rechtmäßiger Präsident Manuel Zelaya im Juni vergangenen Jahres weggeputscht wurde, um einen Anschluß auch dieses Landes an die Linksentwicklung der Region zu verhindern. Nach außen hin weinten sowohl die USA als auch die Europäer, von der bundesdeutschen liberalen Partei, die jetzt den Bundesaußenminister stellt, einmal abgesehen, Krokodilstränen.

Der Putsch wurde scheinbar einhellig verurteilt, doch die Bekundungen Washingtons sowie der EU, an Zelaya als demokratisch gewähltem Präsidenten festzuhalten und keinen unter Diktaturbedingungen "gewählten" Nachfolger zu akzeptieren, waren einzig der Momentaufnahme geschuldet, da es in der unmittelbaren Zeit nach dem Putsch den vermeintlichen Verfechtern demokratischer Werte mit Allmachtsanspruch denkbar schlecht zu Gesicht gestanden hätte, in aller Offenheit einen solchen Putsch zu unterstützen. Inzwischen wurden die Verhältnisse klargestellt bis hin zu der ungenierten Erklärung europäischer Parlamentarier, abgegeben gegenüber einer Delegation von Menschenrechtsaktivisten aus Honduras, daß die endgültige Anerkennung des aus den Putschwahlen vom November als neuer "Präsident" hervorgegangenen Unternehmers Porfirio Lobo nur noch eine Frage der Zeit sei. Konkret erklärte Bertha Oliva, Koordinatorin der Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Angehörigen von verschwundenen Verhafteten in Honduras) gegenüber der jungen Welt [1]:

Wir wollen über Menschenrechtsverletzungen in Honduras informieren. Dazu kamen wir unter anderem mit Vertretern des Europäischen Parlaments zusammen. In den Gesprächen ging es natürlich auch um die Frage, wie sich Brüssel gegenüber der seit etwa einem Monat amtierenden Regierung um Porfirio Lobo verhält. Man hat uns unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß die EU das Regime über kurz oder lang anerkennen wird. Das kritisieren wir aufs schärfste, aber es überrascht uns auch nicht.

Nein, überraschend ist dies nicht, wie auch unschwer vorherzusagen ist, daß die deutsche Bundesregierung, bestens informiert über die aktuelle Lage in Honduras, dem Beispiel Spaniens folgen und den Putschregenten anerkennen wird. In Lateinamerika hingegen stellen sich die Verhältnisse bezüglich Honduras' gänzlich anders dar. Nach wie vor gilt Manuel Zelaya als einzig rechtmäßiger Präsident des Landes, so beispielsweise für die Regierung Venezuelas. In Caracas sprach der gestürzte Präsident am vergangenen Samstag lange mit dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, mit dem Ergebnis, daß Zelaya in der Wirtschaftsgemeinschaft Petrocaribe ein neues Wirkungsfeld erhalten wird. Als Chefkoordinator des "Politischen Rats zur Verteidigung von Demokratie und Souveränität" wird er fortan in Caracas bei Petrocaribe tätig sein. Unmittelbar nach dem Staatsstreich hatte Venezuela die Öllieferungen an das Petrocaribe-Mitgliedsland Honduras eingestellt, um das Putschregime nicht zu unterstützen.

Die angedeuteten Konflikt- und Konfrontationslinien zwischen den alteingesessenen imperialistischen Staaten des Westens und dem "neuen" Lateinamerika lassen die bundesdeutsche Hauptstadt keineswegs aus, nimmt doch Berlin gerade auch in Hinsicht auf den Umsturz in Honduras ein führende Rolle ein. Deutsche Liberale, die schon unmittelbar nach dem Putsch unangenehm aufgefallen waren, stehen auch jetzt an vorderster Front, wenn es gilt, die Weste des Lobo-Regimes durch die Diffamierung seiner Gegner weißzuwaschen. So erklärte der Lateinamerikavertreter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, Christian Lüth, daß sich die honduranischen Menschenrechtsvertreter Oliva und Garza "ethischer Verbrechen" schuldig gemacht hätten, weil sie "durch die Welt" reisten, "um die eigene Regierung der doppelten Moral zu bezichtigen und das Land so weiter zu spalten, anstatt es zu einen". Für die persönliche Sicherheit der Genannten könnten diese in einer dem neuen Regime positiv gegenüberstehenden Tageszeitung in Honduras gemachten Äußerungen schwerwiegende Konsequenzen haben.

Doch all dies ficht die schwarz-gelbe Bundesregierung selbstverständlich nicht an, hat sie sich doch klar positioniert in einer Auseinandersetzung, an deren deutlicher Benennung - zumindest auf europäischer und US-amerikanischer Seite - bislang noch kein starkes Interesse zu bestehen scheint. In den Ländern der zum Zielobjekt neoimperialistischer Subordinationsmaßnahmen längst auserkorenen Region Lateinamerikas sowie der Karibik sieht das selbstverständlich anders aus, und so werden dort auch kaum nennenswerte Mißverständnisse über die tatsächlichen Absichten entstehen können, die der deutsche Außenminister auf seiner derzeitigen Reise durch Lateinamerika verfolgt. Die Verbesserung der Beziehungen (Deutschlands) zu dieser Region werden in dieser Region kaum als wohlwollende Unterstützung oder auch nur respektvolle Nichteinmischung in den derzeitigen Entwicklungsprozeß Lateinamerikas mißdeutet werden, wozu der deutsche Außenminister durch dankenswert klare Worte beigetragen hat, als er vor der deutsch-argentinischen Handelskammer klipp und klar ankündigte, sich für die "Interessen deutscher Unternehmen" einzusetzen.

In Caracas hingegen hatte der gestürzte und angeblich einst von den westlichen Staaten unterstützte Präsident von Honduras, Manuel Zelaya, am Rande eines außerordentlichen Kongresses der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV), deren Vorsitzender der amtierende Staatspräsident Hugo Chávez ist, die Bereitschaft der Völker Lateinamerikas zur Zusammenarbeit mit den Worten unterstrichen: "Nur vereint können die Völker den Sieg erringen, deswegen geht der Kampf weiter." Die Wiederherstellung der Demokratie in Honduras stellt für die Regierung Venezuelas wie auch viele andere Staaten der Region eine unterstützenswerte Selbstverständlichkeit dar. Im internationalen Rahmen, konkret im Konfliktfeld mit den USA und der EU, ist es um eine solche Selbstverständlichkeit allerdings denkbar schlecht bestellt, und so durchkreuzt die unverbrüchliche Haltung des "neuen" Lateinamerikas in der Honduras-Frage den heimlichen Schulterschluß, den die westlichen Staaten mit den Putschisten längst vollzogen haben. Unter den PSUV-Kongreßteilnehmern herrschte hingegen die Auffassung vor, einer "imperialistischen Gegenoffensive gegen den regionalen Einigungsprozeß" gegenüberzustehen.

Anmerkung

[1] "Lobos Antwort auf Widerstand ist Repression", Putschpräsident in Honduras von EU anerkannt - trotz Menschenrechtsverletzungen, Gespräch mit Bertha Oliva, von Johannes Schulten, junge Welt, 6.3.2010, S. 2

10. März 2010