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DILJA/1347: Normalzustand Krieg - NATO-Staaten bombardieren Libyen vollkommen ungestört (SB)


"Schutzkrieg" der NATO in Libyen

Kriegsvorwände wohlweislich in Vergessenheit gebracht


Franco Frattini, der italienische Außenminister, forderte am Mittwoch vor einer Parlamentskommission seines Landes die "sofortige Einstellung" der Kampfhandlungen der NATO in Libyen und begründete dies damit, daß es bei den Militäraktionen zu "dramatischen Fehlern" gekommen sei. Damit reagierte der italienische Spitzenpolitiker auf die verheerenden Luftangriffe des westlichen Militärbündnisses auf Ziele in Libyen, denen immer mehr Zivilisten und damit nach Lesart der NATO-Staaten unschuldige Menschen zum Opfer gefallen sind. Dieser Appell, der die Dauerbombardierung des nordafrikanischen Staates nicht einmal zu unterbrechen imstande war, geschweige denn, es aufgrund seiner fundamentalen Fehlerhaftigkeit ganz zu beenden, ist offensichtlich dem Zweck geschuldet, die Akzeptanz dieses Krieges in den NATO-Staaten selbst aufrechtzuerhalten.

Allerdings ist es um diese derzeit kaum schlechter bestellt als in den gesamten drei Monaten eines Krieges, der von seinen Betreibern tunlichst nicht so bezeichnet wird. Dies Akzeptanz dieses Bombenkrieges, über den in den internationalen Medien nur marginal berichtet wird, könnte jedoch kippen, sobald sich seine Realität vor der westlichen Öffentlichkeit nicht länger verbergen läßt. So wurden, um ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder eine systematische Erfassung der Bombardierungen einige Meldungen aufzugreifen, die ihren Weg in die Nachrichtenkanäle der NATO-Staaten gefunden haben, einem 3sat-Bericht vom 15. Juni zufolge an diesem Tag in der libyschen Hauptstadt Tripolis militärische und zivile Einrichtungen in den Stadtteilen Firnag und Ain Sira zerstört und mehrere Menschen getötet. Berichte des libyschen Fernsehens, die NATO hätte am 15. Juni bei dem Beschuß eines Reisebusses, der in die libysche Stadt Kikla fuhr, zwölf Businsassen getötet, wurden vom Bündnis umgehend bestritten.

In den darauffolgenden Tagen und Nächten wurden die Luftangriffe fortgesetzt. Den Vorschlag Saif al Islam Ghaddafis, einem der Söhne des libyschen Revolutionsführers, international überwachte Wahlen durchzuführen, um die Krise in Libyen auf politischem Wege zu lösen, hatten sowohl die US-Regierung als auch die sogenannten libyschen "Rebellen" abgelehnt. Demnach war die libysche Führung sogar dazu bereit, eine Wahlbeobachtung durch internationale Gremien und sogar die NATO selbst zu akzeptieren. Auch Vermittlungsbemühungen Dritter, so etwa die Reisediplomatie des russischen Sondergesandten Michail Margelow, der in dieser Zeit in Libyen sowohl mit den Aufständischen als auch mit Repräsentanten des Ghaddafi-Regimes konferiert hatte, mußten ergebnislos bleiben, weil die NATO es auch angesichts der intensivierten Vermittlungsbemühungen vorzog, auch weiterhin die Luftwaffen ihrer direkt kriegsbeteiligten Mitglieder sprechen zu lassen.

Am Freitag, dem 17. Juni hatte die NATO ihre Luftangriffe auf Tripolis fortgesetzt und Ziele in den östlichen Stadtteilen Ain Sara und Tajura angegriffen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag fiel bei weiteren Luftangriffen auf Tripolis und Umgebung ein dreistöckiges Wohnhaus den Bombardierungen zum Opfer; getötet wurden dabei nach libyschen Angaben zwei Männer, eine Frau und zwei Kleinkinder. Die NATO konnte dazu zunächst keine Angaben machen. Am 19. Juni - die Luftangriffe wurden unvermindert fortgesetzt - meldete die BBC zwei Todesopfer in Tripolis. Wegen eines Angriffs auf einen Konvoi Aufständischer "entschuldigte" sich die NATO, sie haben diesen für Regierungstruppen gehalten. Am 20. Juni meldete die Nachrichtenagentur dapd, daß nach Angaben der libyschen Regierung in der Nacht zum Sonntag neun Menschen, unter ihnen zwei Kinder, getötet worden seien. Gänzlich leugnen ließ sich dies seitens der NATO nicht mehr, und so sprach der Kommandeur des Libyen-Einsatzes, Generalleutnant Charles Bouchard, von einem auf einen Fehler in den Waffensystemen zurückzuführenden "beklagenswerten Zwischenfall".

Beklagens- oder bedauernswert, ganz wie man möchte, ist jedoch nicht nur dieses zum "Zwischenfall" erklärte und damit vom übrigen Geschehen isolierte Ereignis, sondern dieser Krieg insgesamt. In ihm wurden seitens der angreifenden Allianz westlicher Staaten in den bisherigen drei Monaten über 10.000 Luftangriffe durchgeführt, bei denen fast 4.400 Angriffe auf Einrichtungen der libyschen Regierung stattgefunden haben sollen. Da der eigentliche Kriegszweck, nämlich der Sturz Ghaddafis sowie die Implementierung einer gegenüber den westlichen Forderungen willfährigen Regierung, noch immer nicht erreicht werden konnte, scheinen den NATO-Planern "die Ziele auszugehen". Vermutlich müssen sie, da sie die offiziellen Einrichtungen der von ihnen zum gewaltsamen Umsturz bestimmten Regierung schon wieder und wieder attackiert haben, auf "zivile" Ziele ausweichen, um den "Druck" auf Ghaddafi, wie sie es nennen, dennoch weiter erhöhen zu können.

Unterdessen hat Ghaddafis Sohn zwar klargestellt, daß die libysche Regierung die Europäische Union, die Afrikanische Union oder sogar die NATO bei den vorgeschlagenen freien Wahlen im Land akzeptieren würde, doch dies ist keine Option, auf die sich die kriegführenden Staaten einlassen wollen. Erst nach Ghaddafis "Abgang", so verlautete ein Sprecher des US-Außenministeriums, ohne zu bedenken, wie anmaßend und undemokratisch eine solche Erklärung tatsächlich ist, werde es in Libyen Wahlen geben. Die Kriegsvorwände, die vor gar nicht langer Zeit, nämlich zu Beginn des Luftkrieges, vorgebracht worden waren, um eine völkerechtliche Legitimation zu erwirtschaften, sind längst in Vergessenheit geraten bzw. gebracht worden. An sie zu erinnern, kommt bereits einem Akt der Insubordination gleich. Zur Erinnerung: Am 16. März hatte sich der Weltsicherheitsrat mit der von der Arabischen Liga geforderten Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen befaßt. Mit einer entsprechenden UN-Resolution, so hatte es seinerzeit geheißen, sollte der Luftraum über Libyen gesperrt werden, damit die libysche Luftwaffe keine Angriffe mehr auf die Bevölkerung durchführen könne.

In einer Regierungserklärung der deutschen Bundesregierung hatte Bundesaußenminister Guido Westerwelle eine kritische Haltung dazu eingenommen und erklärt, daß die Einrichtung einer solchen Zone eine militärische Intervention wäre und daß sich Deutschland daran nicht beteiligen würde. Gleichwohl verhängte der Weltsicherheitsrat am 17. März die kriegsermächtigende Resolution 1973, derzufolge eine Flugverbotszone erzwungen werden dürfe. Die Bombardierungen libyscher Flughäfen, der Luftwaffe und Luftabwehrstellungen war damit, formal betrachtet, legalisiert, wobei der eigentliche Zweck dieser militärischen Maßnahmen selbstverständlich darin bestanden haben soll, die libysche Bevölkerung vor (Luft-) Angriffen der eigenen Regierung zu schützen.

Tatsächlich erfolgte die Ausschaltung der libyschen Luftabwehr binnen kürzester Zeit, was zur Folge hatte, daß der nordafrikanische Staat den Angriffen der stärksten Kriegsallianz militärisch nicht das geringste entgegenzusetzen hatte. Die Bombardierungen, mit denen die NATO den Wüstenstaat seither überzieht, können von den libyschen Regierungstruppen nicht verhindert werden. Ihren Auftrag, das Land gegen Angriffe von außen zu verteidigen, können sie nicht erfüllen; sie befinden sich gegenüber der NATO insofern in einer absolut unterlegenen Position, die dem Bündnis jedoch keineswegs zum Erfolg gereicht. Daß Ghaddafi noch immer nicht kapituliert oder das Land verlassen hat, sondern nach wie vor den Angreifern einen "erbitterten Kampf" androht, was von der NATO empört zurückgewiesen wurde mit dem Argument, er, Ghaddafi (und nicht sie, die NATO) würde "systematisch und brutal" das libysche Volk angreifen, deutet darauf hin, daß die Verhältnisse im Land keineswegs so sind, wie es die Kriegsallianz glauben machen möchte.

Würde die NATO die von Ghaddafis Sohn vorgeschlagenen Wahlen, noch dazu unter Kontrolle des Westens, zulassen, würde sich der Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen sofort herausstellen. Die libysche Bevölkerung, so sie denn das Regime des nach westlichen Einschätzungen so sehr verhaßten Ghaddafi-Clans tatsächlich mehrheitlich ablehnt, würde, so müßte man annehmen, diese Gelegenheit sofort ergreifen, um per Wahlzettel eine Regierung ihres Vertrauens ins Amt zu bringen. Für die Weigerung der USA und der sogenannten Rebellen, die innerhalb der NATO-Staaten schon als neue Regierung behandelt und von der deutschen Regierung bereits offiziell anerkannt wurden, sich einer solchen Wahl zu stellen, kann es eigentlich nur eine Erklärung geben: Die Kriegsallianz fürchtet eine verheerende politische Niederlage, wohlwissend, daß sie sich durch den bisherigen, dreimonatigen Luftkrieg bei den Menschen in Libyen verhaßter gemacht hat, als sie es zuvor gewesen sein mag. Von den positiven Wirkungen des Schutzkrieges, den die NATO im Interesse der libyschen Bevölkerung und gedeckt durch UN-Resolution 1973 angeblich führt, scheinen die Strategen in Brüssel, Berlin und Washington selbst nicht überzeugt zu sein.


23. Juni 2011