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DILJA/1392: Des einen Opposition ist des anderen Helfershelfer - Kurden in der Türkei ohne Lobby (SB)


Mammutprozeß gegen kurdische Oppositionelle ohne internationale Relevanz



Die Zeit der Blockkonfrontation bot für kleine Völker oder Volksgruppen, die in dem Staat, auf dessen Territorium sie als schlecht gelittene, diskriminierte oder verfolgte Minderheit lebten, einen gewissen Schutz. Oppositionsgruppen von einiger Relevanz konnten sich an die jeweils gegnerische Großmacht wenden und versuchen, sie als Schutzmacht für sich zu gewinnen mit dem Kalkül, daß der eigene Unterdrückerstaat dann gewisse Grenzen respektieren würde, um die Spannungen zwischen den Großmächten nicht noch weiter eskalieren zu lassen. Ob dieser Schutz oder vielmehr dieses Schutzversprechen tatsächlich hielt, was sich Minderheiten von ihm haben versprechen lassen und ob es tatsächlich ihren Interessen zuträglich war, sich in dieser weltumspannenden Systemauseinandersetzung auf eine der beiden Seiten zu schlagen und aus dieser Zugehörigkeit einen wie auch immer gearteten Nutzen zu ziehen, ist eine Frage, die wohl nur auf der Basis umfangreicher historischer Untersuchungen geklärt werden könnte.

Die Kurden allerdings sind mit einer inzwischen auf rund 24 Millionen Menschen geschätzten Bevölkerung das wohl mit Abstand größte Volk Europas, das sich zu keinem Zeitpunkt in einem eigenen Staat organisieren konnte. Viergeteilt liegen die Gebiete mit überwiegend kurdischer Bevölkerung in der Türkei, im Irak, in Iran und in Syrien. Von der politischen und sozialen Lage oder ihrer eigenen Geschichte kann in Hinsicht auf "die Kurden" nur äußerst unpräzise gesprochen werden, weil die Kurdinnen und Kurden je nachdem, in welchem Staat sie zu leben sich gezwungen sehen, völlig anderen Bedingungen und Verhältnissen unterworfen sind. Dies liegt nicht allein an den Unterschieden, die es zwischen den vier Staaten ohnehin gibt, sondern auch an der geopolitischen Situation dieser Staaten, genauer gesagt den Interessen und Absichten, die noch wieder andere Staaten und Staatengruppen ihnen gegenüber hegen.

Selbstverständlich könnten "die Kurden und Kurdinnen" in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran als Opposition bzw. eigenständige Volksgruppe aufgefaßt werden. In Staaten, die von den westlichen Frontstaaten zum Regimewechsel auserkoren wurden und diese Prozedur, wie der Irak, schon hinter sich gebracht haben, ist es der kurdischen Volksgruppe vergönnt, so sie sich dementsprechend instrumentalisieren ließ, endlich einen Status zu erhalten, der es ihr wie anderen Bevölkerungsteilen erlaubt, ein relativ "normales Leben" zu führen. Die Kurden im Nordirak haben sich als so verläßliche Helfershelfer der USA erwiesen, daß sie - im Vergleich zu der kurdischen Bevölkerung insbesondere in der Türkei - in höchste Regierungsämter aufsteigen konnten und bestens in das gesellschaftliche Leben integriert wurden. In Syrien und dem Iran ist diese Entwicklung längst noch nicht so weit vorangeschritten; gleichwohl darf geargwöhnt werden, daß sie mehr oder minder potentielle Helfershelfer derjenigen ausländischen Kräfte sind, die - um es einmal vorsichtig auszudrücken - letzten Endes auch vor dem Einsatz militärischer Mittel nicht zurückschrecken werden, um eine ihnen genehme Regierung zu installieren.

Allein die in der Türkei lebenden Kurdinnen und Kurden scheinen sich in der bizarren Situation zu befinden, daß kein Nachbarstaat und keine sonstige ausländische Macht das geringste Interesse daran hat, sie für sich einzuspannen oder - in welcher Hinsicht und mit welchen Absichten auch immer - zu instrumentalisieren. Die Türkei ist ein NATO-Staat, noch dazu ein Brückenpfeiler der westlichen Staaten in der gesamten Region des Nahen und Mittleren Ostens und eine aufstrebende Regionalmacht, die ihre westlichen Verbündeten durch ihren eine gewisse Eigenständigkeit reklamierenden Politikstil durchaus auch vor den Kopf stößt. Weit und breit findet sich kein Staat, keine Staatengruppe und keine internationale Organisation von nennenswertem Einfluß, die es für zweckmäßig in Hinsicht auf ihre Interessen erachtet, die Sache der in der Türkei lebenden Kurden und Kurdinnen zu ihrer eigenen zu machen.

Der Abschuß einer türkischen Militärmaschine durch Syrien fand ein großes internationales Echo basierend auf der hochexplosiven Situation, in der sich beide wie auch weitere Staaten ohnehin befinden. Der Angriff der israelischen Armee auf ein Schiff der Gaza-Flotille im Jahr 2010, bei dem in internationalen Gewässern neun türkische Staatsbürger getötet wurden, hat zu gravierenden Folgen in den israelisch-türkischen Beziehungen geführt und hatte auch international ein gewisses Nachspiel. Wenn es um den Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der in der türkischen Republik lebenden kurdischen Bevölkerung geht, ist jedoch Funkstille angesagt.

Auch bei militärischen Auseinandersetzungen, die zu vereinzelten Agenturmeldungen führen, wie aktuell beispielsweise über einen Überfall der kurdischen PKK im vergangenen Monat, bei dem acht türkische Soldaten getötet worden sein sollen, oder über das Eindringen türkischer Militärmaschinen in den irakischen Luftraum in der Zeit zwischen dem 26. und 30. Juni, um dort vermutete Stellungen der PKK zu bombardieren, werden niemals internationale Vermittler tätig. Die Vereinten Nationen, die in anderen, auch asymmetrischen Konflikten durchaus in Erscheinung treten, setzen keine Untersuchungskommission ein, die Vorschläge für eine politische Lösung dieses Konflikts erarbeiten soll. Dieses internationale Nicht-zur-Kenntnis-nehmen-Wollen des kurdisch-türkischen Konflikts führt in der Folge allem Anschein nach auch dazu, daß einer der größten Prozesse, der gegen kurdische Oppositionelle in der Türkei geführt wird, sang- und klanglos über die Bühne geht.

Wie unter Bezugnahme auf die türkische Nachrichtenagentur Anadolu von westlichen Medien berichtet wurde, hat an diesem Montag vor einem türkischen Gericht der Prozeß gegen 205 kurdische Angeklagte begonnen. Ihnen allen wird vorgeworfen, die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) unterstützt zu haben [1]. Damit drohen den Angeklagten, von denen sich 140 in Untersuchungshaft befinden, langjährige Haftstrafen. Unter ihnen befinden sich Wissenschaftler und Menschenrechtsaktivisten, so zum Beispiel die Politologin Büsra Ersanli und der Verleger Ragip Zarakoglu, für die die Anklage bereits 15 bzw. 10 Jahre Haft beantragt hat. Die türkischen Ermittler behaupten, sie alle würden von der PKK gesteuert werden und im Osten der Türkei "parallele Staatsstrukturen" aufbauen wollen.

Da der kurdischen Bevölkerung auf internationaler Bühne jegliche "Lobby" fehlt, mangelt es in den westlichen Medien schon an Aufklärung darüber, daß beispielsweise Ersanli, eine weit über die türkischen Staatsgrenzen hinaus renommierte Politikwissenschaftlerin von der Marmara-Universität in Istanbul, Vorlesungen zum Vorwurf gemacht werden, die sie an kurdischen Akademien gehalten hat. Aus Sicht des türkischen Staates, der sich in dieser Frage offensichtlich der stillschweigenden Rückendeckung seiner westlichen Verbündeten sicher sein kann, scheinen alle Bestrebungen und Bemühungen der kurdischen Zivilgesellschaft, die eigene Kultur zu fördern und zu entwickeln, mit dem Label "PKK" versehen und auf diesem Wege kriminalisiert zu werden. Dieselben Aktivitäten wären, kämen sie von dem in Syrien oder im Iran lebenden kurdischen Bevölkerungsteil, den westlichen Staaten hochwillkommen, böten sie doch dann Anknüpfungspunkte, um die Kurden und Kurdinnen gegen die zum "Regimechange" auserkorenen Staaten zu instrumentalisieren.

Anmerkung:

[1] Siehe auch im Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN:
DILJA/1380: "Demokratisierung" der Türkei bei gleichzeitig exzessiver Repression gegen Kurden (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/meinung/polm1380.html


4. Juli 2012