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DILJA/1409: NATO-Bruchlinien, Lateinamerika und der Rest der Welt (SB)


Eklat auf UN-Vollversammlung

US-Abhörpraxis und Führungsanspruch des Westens massiv in Frage gestellt



In der vergangenen Woche fand ohne nennenswerten Widerhall in den westlichen Medien in New York die 68. Vollversammlung der Vereinten Nationen statt. Gegenüber dem Weltsicherheitsrat, mit dem sich die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bzw. die offiziellen Atomwaffenstaaten ein Gremium geschaffen haben, in dem sie selbst bar jeder demokratischen Kontrolle die alleinige Entscheidungsgewalt über militärische Einsätze auf der Basis der UN-Charta an sich gezogen haben, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen vom ersten Tag ihrer Existenz an ein gezielt herbeigeführtes Schattendasein geführt. In ihr sind zwar alle Staaten der Welt vertreten und können mit je einer Stimme gleichberechtigt abstimmen, ihre Beschlüsse und Entscheidungen haben jedoch nur einen empfehlenden Charakter.

Dieser Zustand hat das mit der Gründung der Vereinten Nationen gerade auch den vielen kleineren Staaten gegebene Versprechen, durch die Akzeptanz dieser dem Frieden verpflichteten und angeblich dienenden Weltorganisation vor militärischen Angriffen wirksam geschützt zu werden, nicht einzulösen vermocht. Davon zeugen nicht nur die vielen und opferreichen Kriege, die - fernab der Territorien der westlichen Staatenelite geführt - unter das Schlagwort eines "Kalten Krieges" subsumiert werden können, obwohl sie aus Sicht der von ihnen betroffenen Völker alles andere als "kalt" waren. Mit dem Untergang der Sowjetunion und damit auch dem Ende der Blockkonfrontation schien ein neues Zeitalter eingeläutet worden zu sein, ohne daß sich dies in der Struktur der Vereinten Nationen niedergeschlagen hätte beispielsweise durch die Auflösung des Weltsicherheitsrats zugunsten einer entscheidungsbefugten Generalversammlung, in der sich die Regierungen aller Staaten mit den drängenden Fragen und Problemen befassen und ggf. auch autorisiert wären, mit Waffengewalt ausgetragene Konflikte durch eigene Friedenstruppen zu beenden.

Daß all dies aus westlicher Sicht befremdlich und absurd wirkt, bezeugt vor allem, wie tief verankert der eigene Hegemonialanspruch und die Überzeugung, die übrigen Kontinente und Regionen im Rahmen einer Weltordnung, in der die führenden NATO-Staaten eine quasi natürliche Führungsrolle einnehmen, sich entwickeln zu lassen, immer noch sind. Aus Sicht der Länder der übrigen Kontinente, die von der westlichen Staatenelite gern als Entwicklungs- oder auch Schwellenländer bezeichnet werden, um kraft einer solchen Definition die asymmetrischen Verhältnisse festzuschreiben, stellt sich der Vormachtsanspruch westlicher Staaten nicht nur als anachronistisch, sondern als ungerechtfertigte Anmaßung, wenn nicht pure Frechheit dar. Längst zeichnet sich ab, daß sich die westlichen Führungsstaaten, die den Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte, die Bekämpfung des weltweiten Hungers und die Bewahrung des Friedens auf die Banner ihrer Truppen heften, in den Augen eines Großteils der Bevölkerungen der Erde selbst diskreditiert und ihre Reputation weitgehend verspielt haben.

Vor zwei Jahren noch hatte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle einen Versuch unternommen, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und ein klein wenig entgegenzutreten. Wie er gegenüber dem Bonner General-Anzeiger vom 19. Mai 2011 erklärt hatte, schade es der Autorität der Vereinten Nationen, daß "ganze Kontinente nicht vertreten seien und auch Asien im Sicherheitsrat unterrepräsentiert sei". [1] Westerwelle warnte vor einer Schwächung der UN, sollten nicht auch Länder Afrikas und Lateinamerikas ständige Sitze im Weltsicherheitsrat erhalten. Der damalige Vorstoß war offenbar dem Versuch geschuldet, sich als Fürsprecher dieser Staaten zu positionieren, um im Gegenzug deren Unterstützung für die Ambitionen Deutschlands, in den Sicherheitsrat aufzurücken, zu erwirtschaften. Bei der diesjährigen Vollversammlung waren solche Töne von dem nun scheidenden deutschen Außenminister nicht mehr zu vernehmen.

Laut und vernehmlich meldete sich mit Dilma Rousseff, die am 24. September die Eröffnungsrede zur diesjährigen 68. Vollversammlung der Vereinten Nationen hielt, die Präsidentin Brasiliens und damit des größten Staates Lateinamerikas zu Wort, die selbst Ziel der weltweiten und durch den Whistleblower Eduard Snowden aufgedeckten US-Abhörpraxis geworden war. Sie kritisierte vor den Vertretern der 193 UN-Mitgliedstaaten, unter ihnen auch US-Präsident Barack Obama, in scharfer Form die Spionagetätigkeit US-amerikanischer Geheimdienste. Die Völkergemeinschaft, so Rousseff, dürfe eine solche Verletzung des Völkerrechts und Mißachtung der Souveränität anderer Staaten nicht hinnehmen. Sie verlangte eine Entschuldigung Washingtons und forderte die USA auf, Vereinbarungen für ein Verbot solcher Spionage zu treffen.

Einen für den 23. Oktober ursprünglich geplanten Staatsbesuch in den USA sagte Rousseff ab, da Washington die erhobenen Vorwürfe nicht ausreichend aufgeklärt hatte. Die illegale Überwachung mit einem "Schutz vor Terrorismus" zu begründen, lehnte sie ab: "Das Recht der Sicherheit von Bürgern eines Staates darf niemals dadurch garantiert werden, die fundamentalen Menschenrechte von Bürgern eines anderen Staates zu verletzen". [2] Die brasilianische Präsidentin machte sich stark für eine multilaterale Vereinbarung zur Regulierung und Nutzung des Internets zu dem Zweck, Privatsphäre, Meinungsfreiheit und die Neutralität des Netzes zu gewährleisten. An die Adresse Washingtons gerichtet, unterbreitete Rousseff den Vorschlag eines bilateralen Abkommens zur Achtung der Souveränität beider Staaten, in dem Spionageaktivitäten verboten werden sollten. Allem Anschein nach sind die USA nicht bereit, von ihrer Allmachtsposition abzurücken oder auch nur Abstriche zu machen. Wie José Eduardo Cardozo, der Justizminister Brasiliens, nach Angaben der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina erklärte, soll Washington bereits angekündigt haben, die Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung abzulehnen.

Dilma Rousseff ist keineswegs die einzige, die auf der 68. UN-Generalversammlung den undemokratischen Geist der Vereinten Nationen und das illegitime Verhalten der USA angeprangert hat. Die Präsidentin bzw. die Präsidenten Argentiniens, Boliviens, Uruguays und weiterer Staaten der Region schlossen sich dieser Position an. Von den Vertretern Lateinamerikas und der Karibik wurde nicht nur die weltweite Spionagetätigkeit US-amerikanischer Dienste, sondern auch die aufgrund entsprechender Einflußnahmen Washingtons den Präsidentenmaschinen Boliviens und Venezuelas verweigerten Überflugrechte sowie die lateinamerikanischen Repräsentanten bei der Einreise in die USA verweigerten Visa einhellig kritisiert. Mehrere Staatspräsidenten unterstützten die Forderung, den Sitz der Vereinten Nationen von New York in ein anderes Land, das die Souveränitätsrechte unabhängiger Staaten und UN-Beschlüsse tatsächlich respektieren würde, zu verlegen.

Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández sprach in ihrer Rede von der Doppelzüngigkeit der Regierungen, die auf der UN-Vollversammlung von Frieden redeten, in Wirklichkeit jedoch Krieg führten. Fernández hatte schon im Juli die Staaten des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses MERCOSUR aufgefordert, sich entschieden gegen die US-Spionage auszusprechen. Dieses Freihandelsbündnis war 1991 zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründet worden. Inzwischen ist auch Venezuela beigetreten und weitere Staaten - Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien - sind assoziierte Mitglieder. Auf der UN-Vollversammlung hatte die Präsidentin Argentiniens auch die Institution des Weltsicherheitsrats kritisiert. Dieses Gremium, in dem fünf Staaten als ständige Mitglieder mit einem Vetorecht versehen sind und dem zehn weitere Staaten für eine befristete Zeit angehören, entspreche "einer Logik aus der Zeit des Kalten Krieges" und sei längst nicht mehr zeitgemäß und nicht effizient. [3]

Es steht nicht zu erwarten, daß die USA und/oder ihre NATO-Verbündeten die geballte, in der UN-Vollversammlung von lateinamerikanischen Staaten vorgebrachte sowie von den Repräsentanten weiterer Kontinente unterstützte Kritik zu einer Änderung oder auch nur Überprüfung ihrer Politik nutzen werden. Allem Anschein nach hat sich an den Hegemonialbestrebungen dieser Staatengruppe nicht das Mindeste geändert. Offenbar wird in Washington immer noch nach den verteidigungspolitischen Leitlinien verfahren, die 1992 in der "Defense Planning Guidance" festgelegt worden waren. In einem von der New York Times im März 1992 veröffentlichten Geheimentwurf des Pentagon [4] hatte es zum Thema "Regionale Bedrohungen und Risiken" geheißen, daß sich die USA nach dem Verschwinden einer globalen militärischen Bedrohung (durch die Sowjetunion) künftig mit "regionalen Bedrohungen" beschäftigen würden. Zu den Regionen, die für die Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten als entscheidend angesehen wurden, zählten neben Europa, Ostasien, dem Nahen Osten und Südwestasien auch Lateinamerika, Ozeanien und das südliche Afrika, wobei es für die USA darum gehe, "der Beherrschung dieser Schlüsselregionen durch eine feindliche Macht zuvorzukommen". [4]

Da einer Mitgliedschaft lateinamerikanischer Staaten in der NATO durch den Wortlaut von Art. 10 des Nordatlantik-Paktes, der diese auf Europa und Nordamerika beschränkt, nicht möglich ist, wurden und werden andere Wege der militärischen Ausdehnung und Einflußnahme gesucht und gefunden. So werden in vielen Staaten der Region Militärbasen westlicher Staaten unterhalten - nicht nur von den USA, sondern auch durch Frankreich und Großbritannien. Die Regierung Ecuadors allerdings hatte 2008 beschlossen, den im Jahr darauf auslaufenden Nutzungsvertrag mit den USA über den Luftwaffenstützpunkt Manta nicht mehr zu verlängern. Für internationales Aufsehen und viel Kritik innerhalb Lateinamerikas hatte die Entscheidung der kolumbianischen Regierung gesorgt, den USA auf ihrem Territorium die Errichtung von gleich sieben Militärstützpunkten, darunter drei Flughäfen, zwei Armeebasen und zwei Häfen, zu gestatten.

Die weitverbreitete und -verzweigte Militärpräsenz der USA und anderer westlicher Staaten in Lateinamerika und der Karibik darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Staaten der Region ihre eigene Verteidigungsbereitschaft längst eigenständig und in Kooperation miteinander organisieren. Daß die USA immer noch, wie US-Außenminister John Kerry 17. April 2013 bei einer Anhörung im Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten bestätigt hatte, Lateinamerika als ihren Hinterhof betrachten (und dementsprechend behandeln), bedeutet keineswegs, daß der vermeintliche "Hinterhof" diese Anmaßung unter wie auch immer gearteten Umständen hinzunehmen bereit ist. José Mujica, der Präsident Uruguays, stellte bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen klar, daß sein Land nicht nach New York gekommen sei, um "dort Kaffee zu servieren".

Die Staaten der Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR), die 2008 gegründet wurde, um einen "Raum der kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Integration und Union zwischen ihren Völkern" zu schaffen, hatten wie auch die Mitglieder der Bolivarianischen Allianz (ALBA) einen Boykott der 68. UN-Vollversammlung in Erwägung gezogen, nachdem Mitte September dem venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro die Überflugrechte über Puerto Rico verweigert worden waren. Dieser und vorherige ähnliche Vorfälle hatte Evo Morales, den Präsidenten Boliviens, veranlaßt, in seiner Rede vor den Vereinten Nationen ein Verfahren vor einem noch zu schaffenden internationalen Völkergerichtshof gegen den US-Präsidenten Barack Obama zu fordern, dem er vorwarf, für internationale Spionage, Luftpiraterie sowie Verletzungen der diplomatischen Immunität und staatlicher Souveränitätsrechte verantwortlich zu sein.

Gewiß würde sich Präsident Obama derartigen Nachstellungen, sollte es denn dazu kommen, entziehen können. Dem scharfen Wind allerdings, der seiner Administration sowie, wenn auch in deutlich abgeschwächter Form, seinen westlichen Verbündeten auf der UN-Vollversammlung entgegenwehte, deutet allerdings auf eine Entwicklung hin, die allem Anschein nach nicht einmal mehr durch die militärischen Overkill-Kapazitäten der US-Streitkräfte aufzuhalten ist. Die UNASUR-Staaten haben längst einen Verteidigungsrat gebildet, durch den sich Südamerika als ein Raum des Friedens konsolidieren will. In Art. 4 seiner Statuten ist die Stärkung der regionalen Kooperation im Bereich der Verteidigung vorgesehen. Mit jedem weiteren militärischen Schritt, der von den Staaten der Region als militärische Aggression oder politische Anmaßung aufgefaßt werden könnte, würden die USA bzw. die NATO nur weiter an Einfluß und Akzeptanz verlieren. Wie wenig sie es bis heute gelernt haben, mit Kritik konstruktiv umzugehen und politisch zu kooperieren, wenn ihnen der Sinn nach Vorherrschaft steht, haben sie auf der UN-Generalversammlung anschaulich demonstriert.


Fußnoten:

[1] http://www.stern.de/news2/aktuell/westerwelle-mahnt-un-reform-an-1687474.html

[2] http://amerika21.de/2013/09/89836/rousseff-prangert-us-spionage

[3] www.jungewelt.de/2013/09-27/030.php

[4] http://www.glasnost.de/militaer/92norivals.html


1. Oktober 2013