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DILJA/1424: Eurogrenze Januskopf (SB)



Afrika. Nicht selten wird der Begriff in den europäischen Regionen relativen Wohllebens mit verbrannter Erde, korruptionsbedingter Unterentwicklung, zerfallenden Staaten, hungernden Menschen, aber auch seinen für hochindustrialisierte Produktionszwecke unverzichtbaren Rohstoffen assoziiert. Mit welchen vorgeblichen und tatsächlichen Absichten die Bundesregierung den Nachbarkontinent in den Fokus der Weltpolitik zu rücken sucht, ist eine noch offene Frage. Das Jahr 2017 wurde zum "Afrikajahr" erklärt, Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) kündigte einen Marshallplan für Afrika an. Man wolle weg vom "Gießkannenprinzip" und hin zu "Reformpartnerschaften". Erforderlich seien "Investitionen in Infrastruktur, Arbeitsplätze, in die Stärkung der Frauenrechte und vor allem in Bildung", gehe es doch darum, so Müller, den jungen Menschen "eine Perspektive vor Ort zu eröffnen, damit diese sich nicht auf den Weg nach Europa machten". [1]

Auch EU-Parlamentspräsident Antonio Tajanin sprach sich für einen milliardenschweren Marshallplan für Afrika aus, um den Zustrom offenbar unerwünschter Menschen zu verhindern: "Entweder wir handeln jetzt, oder es werden in den kommenden 20 Jahren Millionen Afrikaner nach Europa strömen." [2] Tajani erklärte Ende Februar, daß "wir jetzt mehrere Milliarden Euro dort investieren" müssen, und nannte damit einen mit den 4,4 Milliarden Dollar, die angeblich ausreichen, um den über 20 Millionen akut vom Hungertod bedrohten Menschen in Nordnigeria, Südsudan, Somalia und Jemen helfen zu können, annähernd vergleichbaren Betrag. [3]

Auf den dringenden Appell von UN-Generalsekretär António Guterres, der die Lage am 22. Februar als äußerst verzweifelt geschildert und zu einer großen Kraftanstrengung der internationalen Gemeinschaft aufgefordert hatte, wurde in diesem Zusammenhang nicht Bezug genommen. Stellt der mögliche Zustrom vieler Menschen aus afrikanischen Staaten nach Europa in den kommenden 20 Jahren nach Einschätzung der politischen Eliten in Berlin und Brüssel ein größeres Schreckensszenario dar als das unmittelbar bevorstehende bzw. bereits eingetretene Verhungern von Millionen Menschen?


Über eine Million Flüchtlinge in der Sahara gestorben?

Am 9. Februar 2016 zitierten mehrere Medien den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Thomas Silberhorn (CSU), mit den Worten: "Nach vorsichtigen Schätzungen sind über eine Million Menschen in der Sahara ums Leben gekommen." Es sei sehr schwierig, solche Zahlen zu verifizieren. "Wir können aber sicher davon ausgehen, dass sehr viel mehr Menschen auf dem Weg durch die Sahara gestorben sind als im Mittelmeer", so Silberhorn. [4] 2015 sind bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen, über 3.700 Menschen ertrunken [5], für 2016 wird eine Zahl von mindestens 4.500 angegeben. [6] Auf welche Quellen Silberhorn sich bei seiner als schwer verifizierbar bezeichneten Zahl bezogen hat, ist unklar.

Daniel Szabo, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), hielt die vermutete Zahl von über einer Million für "stark überhöht", erklärte aber auch: "Angesichts der entlegenen Region glauben wir, dass viele Todesfälle in der Sahara nicht entdeckt werden". Es gäbe kaum verläßliche Informationen über die tatsächliche Lage in der Sahara bzw. der Sahelzone. Westliche Medien seien dort nicht präsent, doch Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten, die Europa erreichten, berichteten, daß viele Migranten von Menschenhändlern in der Wüste ausgesetzt werden und verdursten oder auch bei Kämpfen rivalisierender Banden und Milizen ums Leben kommen. [4]

Silberhorn plädierte im Februar 2016 dafür, kriminellen Netzwerken, die er für das "tödliche Geschäft mit den Flüchtlingen" verantwortlich machte, das Geschäftsmodell durch legale Einwanderungsmöglichkeiten zu nehmen. Man müsse aber auch, um die "Schlepperstrukturen auszutrocknen", "die Arbeitsmigration schon in den Herkunftsländern managen und nicht erst bei uns", was eine vollständige Kontrolle der EU-Außengrenzen voraussetze. [4] Vielfältige Anstrengungen zur Flüchtlingsabwehr und -rückführung wurden und werden ergriffen, um Europa von notleidenden Menschen aus anderen Kontinenten weitestgehend freizuhalten, ohne dabei allzu sehr an internationaler Reputation zu verlieren. Schließlich inszeniert sich das "alte Europa", wenn es um Meinungsführerschaft und Definitionshoheit im globalpolitischen Kontext geht, gern als Hort und Urquell von Humanität, Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechten.

Das Flüchtlingssterben im Mittelmeer hat ihr in manchen Regionen der Welt schon einen schlechten Ruf eingebracht. Die Sahara allerdings scheint sich als für Flüchtlinge noch gefährlicher herauszustellen. [7] Von ihren Toten gibt es keine Bilder, die sich für das Prestige Europas negativ auswirken könnten. Nur vereinzelt sorgen Leichenfunde für Nachrichtenmeldungen. Im Juni 2015 wurden 30 Tote, vermutlich verdurstet, nahe der in Niger gelegenen Wüstenstadt Agadez aufgefunden. Sie hatten nach Einschätzung der IOM - wie viele andere Flüchtlinge aus den westafrikanischen Staaten auch - die Wüstenroute gewählt, um durch die Sahara nach Libyen und von dort nach Europa zu gelangen. [8] Im Juni 2016 wurden in Niger abermals 34 vermutlich verdurstete Migranten, unter ihnen viele Kinder, nahe der Grenze zu Algerien tot aufgefunden, sie wurden, wie es hieß, von Schleppern in der Wüste zurückgelassen. [9] Schlepper mögen skrupellos sein, doch gilt dies nicht auch für eine Flüchtlingspolitik, in der zwar hehre Worte gewählt, de facto aber Menschen ohne Rücksicht auf ihre katastrophale und lebensbedrohliche Lage abgewehrt werden?

Libyen scheint unterdessen eine Schlüssel- oder vielmehr Problemrolle in der europäischen Flüchtlingsabwehr einzunehmen. Das seit dem gewaltsamen Sturz Muammar al-Ghaddafis bürgerkriegszerrüttete Land ist nicht in der Lage, als "Partner" der EU so zu fungieren, wie es in anderen Mittelmeeranrainerstaaten Nordafrikas der Fall zu sein scheint. Nicht von ungefähr haben die meisten der auf über 180.000 geschätzten Menschen, die im vergangenen Jahr über das zentrale Mittelmeer Italien und damit die EU erreichten, ihre Überfahrt in Libyen begonnen. Was also liegt aus Sicht der EU näher, als diese Lücke zu schließen und auch diesen Bereich ihrer Gegenküste unter Kontrolle zu bringen?

In den zurückliegenden Wochen und Monaten entfaltete die Bundeskanzlerin eine rege Reise- und Verhandlungsaktivität mit führenden Politikern aus der Region. Am 14. Februar hatte sie den tunesischen Premierminister Youssef Chahed in Berlin empfangen, am 2. und 3. März Ägypten und Tunesien besucht, um mit den Staats- bzw. Ministerpräsidenten dieser Länder über Grenzsicherung zu sprechen - im Klartext über die Vorverlagerung der europäischen Flüchtlingsabwehr in die nordafrikanischen Küstenstaaten.


Flüchtlinge "stoppen", bevor sie in See stechen

Sinn und Zweck der Übung: Die Fluchtbewegungen über das zentrale Mittelmeer zu stoppen, noch bevor ein Flüchtling seinen Fuß in ein Schlepper-Boot setzen kann. Dies hat eine längere Vorgeschichte. Im Dezember 2010 vereinbarte Merkel mit Abdelaziz Bouteflika, dem Staatspräsidenten Algeriens, eine Kooperation in Sachen Grenzsicherung. Knapp tausend Radpanzer eines deutschen Rüstungskonzerns sollten für das algerische Militär im Land hergestellt und für Patrouillen an den Landesgrenzen in Gebrauch genommen werden. Was geschieht, wenn diese Panzer auf Menschen treffen, die "illegal" an die Küste gelangen und nach Europa übersetzen wollen? Deutsche Unternehmen lassen vor Ort aber auch Geländewagen, Unimogs, Radaranlagen, Infrarotkameras und Kommunikationsgeräte für den Grenzschutz herstellen; da sollte es den algerischen Militärs wohl möglich sein, die seitens der EU unerwünschte Migration mit den ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln zu unterbinden.

In Tunesien stellt sich die Lage ein klein wenig anders dar. Doch auch wenn hier keine Produktionsstätten deutscher Unternehmen errichtet wurden, kam Deutschland dem Militär zu Hilfe. Geliefert wurden, sozusagen als Geschenke, Pick-Ups, Gefechtshelme, Nachtsichtgeräte, Radarsysteme und ähnliches. Tunesische Grenzschützer wurden überdies in erheblichem Umfang von der deutschen Bundespolizei ausgebildet, damit an allen Grenzen Tunesiens nach "deutschem Standard" patrouilliert werden könne. Auch mit Ägypten wurde im Juli 2016 ein sogenanntes Sicherheitsabkommen vereinbart, das Fortbildungsmaßnahmen für ägyptische Grenzpolizisten und Angehörige der Geheimdienste ebenso enthält wie die Lieferung von Grenzschutztechnologie. Zählt man eins und eins und eins zusammen und wirft einen flüchtigen Blick auf die Landkarte Nordafrikas, wird offenkundig, daß die von Berlin respektive Brüssel betriebene Vorverlagerungsstrategie schon Früchte getragen haben dürfte, daß aber Libyen nach wie vor ein großes Leck darstellt.


Vom "sicheren Drittstaat" zum "sicheren Ort"?

Seit 1992 gibt es im deutschen Asylgesetz das Konstrukt sogenannter "sicherer Drittstaaten", womit gemeint ist, daß ein Flüchtling, der aus einem anderen europäischen Staat, in dem die Einhaltung der Genfer Flüchtlings- sowie der Menschenrechtskonvention als gewährleistet angesehen wird, in Deutschland von vornherein das Grundrecht Asyl nicht in Anspruch nehmen kann. Wie Emily Haber, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, am 8. Februar in Berlin erklärte, möchte die Bundesregierung dieses Prinzip noch weiter ausbauen und vom "sicheren Drittstaat" zum "sicheren Ort" übergehen.

"Sichere Orte" könnten, wie Haber erläuterte, auch Staaten außerhalb Europas sein, in denen "menschenwürdige Bedingungen" herrschten. Kriterien, Definitionen oder Maßstäbe, wonach dies zu entscheiden sei, gibt es im EU-Recht nicht. Dem Bundesinnenministerium zufolge könne auf diese Weise das "Schleusertum" erfolgreich bekämpft werden. Bundesinnenminister de Maizière hat bereits Ende Januar beim Treffen der EU-Innenminister in Valletta von den "sicheren Orten" außerhalb Europas gesprochen. [6] Da laut Genfer Konvention kein Flüchtling in ein Land geschickt werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatszugehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauung gefährdet ist, kommt der Definitionshoheit über diese Frage eine umso größere Bedeutung zu.

Da das Sicherer-Ort-Konzept nach dem Vorbild des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen gestaltet werden soll, ist hier größte Besorgnis angebracht. Wenn schon die Türkei ungeachtet der Bedenken griechischer Asylrichter als "sicherer Drittstaat" gilt, könnte dann nicht auch Libyen früher oder eher später zum "sicheren Ort" erklärt werden? Habers Ankündigung, die EU wolle in Libyen langfristig zumindest ansatzweise stabile Zustände schaffen, ließe sich auch in diesem Sinne deuten.


Libyen - der Gegenalptraum für Flüchtlinge

In Libyen sind die westlichen Staaten mit den Folgen ihrer desaströsen Nahostpolitik konfrontiert. Seit dem Sturz Ghaddafis 2011, einem in Sachen Flüchtlingsabwehr durchaus verläßlichen EU-Partner, ist Libyen ein Bürgerkriegsland ohne staatliche Strukturen, die als einigermaßen stabil eingestuft werden könnten. Gerade diese Situation zieht viele Flüchtlinge an, obwohl sie aus denselben Gründen einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, irregulären Milizen in die Hände zu fallen. Was das bedeuten kann, ist einem Bericht des Auswärtigen Amtes zu entnehmen, demzufolge es in Libyen zu "allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen" kommt. Konkret heißt es dort: "Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung". [10]

Dessenungeachtet setzt die EU auf Libyen als Partner. Im laufenden Jahr sollen aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika 200 Millionen Euro für "migrationsbezogene Projekte in Bezug auf Libyen" zur Verfügung gestellt werden. Nach Angaben von Pro Asyl will die EU Geld und Technik liefern sowie die libyschen Grenzbehörden, die Küstenwache und die Marine finanzieren und ausbilden. Dabei verfolge Brüssel die Strategie, in Libyen eine Art Doppelmauer zu errichten - eine zur Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer, indem die Seegrenze nach Europa abgeriegelt wird, eine weitere an der südlichen Landesgrenze, damit Flüchtlinge gar nicht erst nach Libyen hineinkommen können.

Wer aber ist eigentlich gemeint, wenn "Libyen" gesagt wird? Offiziell wird das Land von einer Einheitsregierung unter Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch regiert, der im Februar am Rande des EU-Gipfels mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni schon über ein Flüchtlingsabkommen nach Vorbild des EU-Türkei-Pakts verhandelt hat. Die italienische Regierung hat ein bilaterales Abkommen mit al-Sarradsch abgeschlossen, in dem gemeinsame Patrouillenfahrten der Küstenwachen beider Länder vereinbart wurden zu dem Zweck, Flüchtlinge nach Libyen zurückzuschicken; auch will sich Italien an der Errichtung und Finanzierung von Flüchtlingslagern in Libyen beteiligen.

Seitens der EU wurde die militärische Zusammenarbeit mit al-Sarradsch intensiviert. Deutschland hat dem libyschen Partner gepanzerte Fahrzeuge überlassen, Italien hilft beim Aufbau von Armee- und Polizeieinheiten. Die NATO bekundete ihre Bereitschaft, Libyen beim Aufbau effektiver Sicherheits- und Verteidigungsorgane und bei der Aufrüstung von Marine und Küstenwache zu unterstützen. [11]

Der Einheitsregierung unter al-Sarradsch scheint allerdings in demselben Maße, wie sie von westlichen Staaten finanziell wie militärisch unterstützt wird, die Anerkennung im eigenen Land zu fehlen. Sie wurde im März 2016 unter Vermittlung der Vereinten Nationen gebildet, hat es aber bislang nicht vermocht, das Land tatsächlich unter ihre Kontrolle zu bringen. [12] Völlig ohne Ironie meldete die Tagesschau am 16. Mai 2016, das Reich des neuen Ministerpräsidenten habe nur die Größe einer Marinebasis, die neue Regierung werde von vielen Menschen als ein "Kabinett von Marionetten" gesehen. [13]

Vor der im Dezember 2015 ausgehandelten Vereinbarung gab es zwei Regierungen in Libyen - eine islamistisch geprägte in Tripolis und eine von den westlichen Staaten unterstützte Gegenregierung in der ostlibyschen Stadt Tobruk. [14] Sie lehnt al-Sarradsch ab. Die Einheitsregierung sei Libyen von außen aufgezwungen worden, das Parlament habe ihr nicht das Vertrauen ausgesprochen. Sie stehe nicht für eine echte Versöhnung, sondern befände sich unter Kontrolle des deutschen Diplomaten Martin Kobler, der als UN-Sondergesandter die Einheitsregierung aus der Taufe gehoben habe, so die Kritik in Tobruk. Kobler selbst habe zum Zeitpunkt der Einsetzung der Regierung al-Sarradsch eingeräumt, daß sei "alles nicht so richtig legal" und schlicht der Not geschuldet gewesen. [13]

Neben einer sogenannten Einheitsregierung, der die Anerkennung der bisherigen beiden Regierungen fehlt, gibt es in Libyen eine Vielzahl bewaffneter Milizen und Stammeskrieger, die ihrerseits ihre Einflußgebiete sichern und ausweiten wollen. Im Mai 2016 berieten mehrere westliche Staaten in Wien darüber, wie sie Libyen "stabilisieren" könnten, worunter wohl die Inangriffnahme des bislang ungelösten Problems zu verstehen ist, wie in Libyen Ordnungskräfte rekrutiert respektive eingesetzt werden könnten, die willens und in der Lage sind, die Flüchtlingsabwehr an den Küsten des Landes im Sinne der EU zu exekutieren. Da von einer solchen "Stabilität" nach wie vor nicht die Rede sein kann, unternimmt die EU Schritte, um sich andere Staaten aus der Region für solche Zwecke dienstbar zu machen.


EU rekrutiert Helfershelfer vor Ort

Die Dringlichkeit, mit der die EU das "Leck" in der Flüchtlingsabwehr an ihrer nordafrikanischen Gegenküste schließen möchte, besteht unvermindert fort. In den ersten drei Monaten des laufenden Jahres soll die Zahl der Flüchtlinge, die zumeist von Libyen aus über die zentrale Mittelmeerroute Italien erreichten, gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel gestiegen sein. Nach Schätzungen der Regierung Österreichs vom September 2016 befindet sich in Libyen rund eine Million Menschen, die auf eine Überfahrt nach Europa warten. Mit Libyen ein Flüchtlingsabkommen nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals abzuschließen, scheint mangels eines für diese Aufgaben tatsächlich geeigneten und fähigen libyschen Partners derzeit nicht möglich zu sein.

Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) und die EU-Kommission prüfen eine Bericht der Welt am Sonntag vom 26. März zufolge, ob und unter welchen Bedingungen eine EU-Polizeimission libysche Grenzbeamte bei ihrer Arbeit unterstützen könnte. In jedem Fall wolle die EU der Regierung al-Sarradsch Aufklärungstechnologie anbieten wie Drohnen, Hubschrauber und Satellitentelefone, damit sie auch die Südgrenze Libyens besser gegen illegale Migranten aus den südlichen Nachbarstaaten Niger, Tschad und Sudan schützen könne. [15] Als möglicher Helfershelfer wurde Ägypten ins Visier genommen. Aus europäischer Sicht wird positiv bewertet, daß das Land seine "Küsten schützt", sprich verhindert, daß Flüchtlinge von hier aus ihre Seereise antreten; wichtig sei aber auch, daß Ägypten helfe, "seinen Nachbarn Libyen zu stabilisieren". [16]

Doch auch in dem westafrikanischen Staat Niger, der als wichtigter Transitstaat für Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa gilt, sollen nach dem Willen der EU die Flüchtlingsströme unterbrochen werden, weshalb sie mit dem Land im vergangenen Sommer eine sogenannte Migrationspartnerschaft abschloß. Menschenleben im Mittelmeer sollen gerettet, Flüchtlinge ohne Bleiberecht schneller zurückgeführt und möglichst in der Nähe ihrer Heimatländer bleiben, hatte Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans dazu im Juni 2016 erklärt. [17] Ähnliche "Partnerschaften" wurden mit Mali, Nigeria, Senegal und Äthiopien abgeschlossen.

Die EU würde manche dieser Abkommen "lieber in vertraulichen Papieren" abhandeln, da sich unter den neuen Partnerländern südlich der Sahara auch Staaten befinden, die eine "verheerende Menschenrechtsbilanz" aufwiesen, wozu die Süddeutsche Zeitung anmerkte, daß die EU nach dem umstrittenen EU-Türkei-Flüchtlingspakt mit diesen Partnerschaften neue Fragen nach ihren Wertmaßstäben aufwerfe. [17] Kurz vor dem EU-Gipfel im Dezember hatten Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und über hundert weitere Organisationen in einer gemeinsamen Erklärung vor diesen Vereinbarungen als einem "dunklen Kapitel in der Geschichte der EU" gewarnt. "Statt gute Regierungsführung und Achtung der Menschenrechte zu fördern, will die EU die Partnerländer offenbar mit Hilfsgeld für eine Unterstützung der EU-Abschottungspolitik belohnen", so die Kritik des Leiters der Kampagnenabteilung von Oxfam, Jörn Kalinski. [17]

Zu den Instrumenten, behelfs derer die EU den Flüchtlingsstrom weit vor der nordafrikanischen Mittelmeerküste stoppen will, gehört der sogenannte Khartum-Prozeß, in den zehn Staaten Nord- und Ostafrikas, unter ihnen auch Diktaturen wie Sudan und Eritrea, eingebunden sind. Einem vertraulichen EU-Papier vom Frühjahr 2016 zufolge solle es, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete, bei dieser Kooperation im Bereich "Grenzmanagement" darum gehen, die afrikanischen Staaten in Gesetzgebung und politischen Programmen, aber auch durch Training und Ausrüstung ihrer Grenzbeamten zu unterstützen. [17]

Ein besonders prekäres Beispiel für diese Kooperationen stellt der Sudan dar. Involviert in das Projekt zum "Besseren Migrationsmanagement" im Rahmen des Khartum-Prozesses werden die Grenzbehörden des Sudan, die dem Geheimdienst unterstehen, von der EU unterstützt. Chef der sudanesischen Grenzpolizei, die im Auftrag der EU Jagd auf Flüchtlinge macht, ist Generalmajor Mohammad Hamdan Daglo, besser bekannt und berüchtigt unter seinem Kriegsnamen "Hametti". Er gilt als mutmaßlicher Kriegsverbrecher, seine Reitermiliz wird von Menschenrechtsorganisationen für grausame Verbrechen bei der Bekämpfung von Rebellen in Ost-Darfur im Jahr 2003 verantwortlich gemacht.

Wegen des Vorwurfs, für Völkermord in Darfur verantwortlich zu sein, erließ der Internationale Strafgerichtshof 2009 Haftbefehl gegen den Präsidenten des Sudan Omar al-Bashir. Daglo gilt als persönlicher Garant der Macht des Präsidenten und ist Kommandant der sudanesischen Schnellen Einsatztruppen (RSF) unter dem Dach des Geheimdienstes NISS. Besser ausgerüstet als die reguläre Armee und 6000 Mann stark obliegt ihr die "Überwachung" der Grenzen des Sudans zu Libyen, Ägypten und Tschad. Im August 2016 erklärte Daglo auf einer Pressekonferenz, es sei bei der Festnahme von 800 Migranten zu Gefechten gekommen, in deren Verlauf 25 seiner Soldaten getötet, 315 verletzt und 151 Fahrzeuge zerstört wurden. Während sie in ihrem Kampf gegen illegale Migration Jagd durch die libysche Wüste machten, hätten sie schwere Verluste hinnehmen müssen, doch niemand habe sich bei ihnen bedankt, klagte der Generalmajor. [18]


Humanitäre Werte versus Flüchtlingsabwehr

Ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher in einem Staat, dessen Präsident wegen des Vorwurfs des Völkermords vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht wird, als Partner der EU in Sachen Flüchtlingsabwehr? Wie paßt das zusammen, immer gemessen an den humanitären Ansprüchen, die die Union an sich und andere stellt? Nimmt man offene Fragen dieser und ähnlicher Art zusammen und versucht sie in Verbindung zu bringen mit den vielen Ungereimtheiten der (Des-) Informations- und Medienpolitik, verdichtet sich die Vermutung, daß es hier einen kaum auslotbaren Tabu- und Verschleierungsbereich geben könne.

Die Dringlichkeitsappelle der Vereinten Nationen angesichts des drohenden Hungertodes von rund 20 Millionen Menschen sind schnell wieder aus den Schlagzeilen und dem offiziellen Tagesgeschäft der sogenannten internationalen Gemeinschaft verschwunden. "Afrika" wird zwar in gewissem Umfang in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt, doch in welchem Kontext? Zeugen die Kooperationsbemühungen der EU gegenüber afrikanischen Staaten nicht eher von dem Interesse, aus dem Nachbarkontinent, dessen "verbrannte Erde" nicht zuletzt als Ergebnis seiner Kolonialgeschichte zu verstehen ist, herauszuholen, was noch irgendwie zu verwerten ist?

Vielfach wurde seit dem vergangenen Jahr berichtet, daß und wie die EU, sinnbildlich gesprochen, ihre Außengrenzen nicht nur an die Gegenküste Nordafrikas vorverlagert, sondern weit ins Innere des Kontinents hinein in eine Wüstenregion, die den Augen und dem Interesse der sogenannten Weltöffentlichkeit so gut wie vollständig entzogen ist. Und doch gibt es Anhaltspunkte, minimale Spuren, die Grund und Anlaß genug bieten für folgende Fragen: Steht nicht zu befürchten, daß bei vollständig versiegelten innerafrikanischen Grenzen die letzten Fluchtwege für Menschen, die aus den ostafrikanischen und weiteren Hungersnotgebieten entkommen wollen, versperrt werden? Kann die vielleicht abwegig erscheinende Frage, ob hier nicht systematisch und in großem Umfang unerwünschte Menschen dem ihnen zugeschriebenen "Schicksal" überantwortet werden, ohne den geringsten Zweifel verneint werden?


Fußnoten:

[1] http://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/837022/minister-ruft-2017-als-afrikajahr-aus

[2] https://www.finanztrends-newsletter.de/2017/02/eu-tajani-fordert-milliardenschweren-marshall-plan-fuer-afrika/

[3] Siehe zu Hungersnot und ihrer angeblichen Bewältigung auch den Beitrag im Schattenblick unter www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN:
DILJA/1423: Lügen und leere Versprechen (SB)

[4] https://www.muenchen.tv/das-toedliche-geschaeft-mit-den-fluechtlingen-151498/

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Flüchtlingskrise_in_Europa_ab_2015

[6] http://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/fluechtlinge-der-sichere-ort-ausserhalb-europas/

[7] http://www.zeit.de/2016/34/niger-fluechtlingsroute-menschenschmuggel-westafrika/komplettansicht

[8] http://derstandard.at/2000017572526/30-Fluechtlinge-offenbar-in-der-Sahara-verdurstet

[9] http://www.morgenpost.de/vermischtes/article207691533/Fluechtlingsgruppe-mit-20-Kindern-verdurstet-in-der-Sahara.html

[10] https://www.proasyl.de/news/neue-etappe-in-der-eu-fluechtlingsabwehr-ruecktransport-von-geretteten-nach-libyen/

[11] https://www.wsws.org/de/articles/2017/02/04/flue-f04.html

[12] https://www.welt.de/newsticker/news1/article161709816/Libyens-Regierungschef-al-Sarradsch-erstmals-bei-der-Nato.html

[13] https://www.tagesschau.de/ausland/libyen-271.html

[14] http://www.tagesspiegel.de/politik/eu-zusammenarbeit-mit-libyen-starker-mann-aber-nur-in-tripolis/19345268.html

[15] https://www.welt.de/politik/deutschland/article163157263/Die-EU-will-jetzt-Libyens-Suedgrenze-sichern.html

[16] http://www.tagesschau.de/ausland/merkel-afrika-111.html

[17] http://www.sueddeutsche.de/politik/migrationspolitik-wie-europa-fluechtlinge-in-afrika-aufhalten-will-1.3314104

[18] http://www.taz.de/!5355404/

4. April 2017


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