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AFRIKA/2022: Somalia - Mysteriöser Ablauf der Entführung der "Beluga Nomination" (SB)


Inmitten des Aufmarschgebiets internationaler Seestreitkräfte

Piraten haben mehr als zwei Tage Zeit, ein Frachtschiff zu kapern und zu entführen


Am Samstag, dem 22. Januar, wurde das Frachtschiff "Beluga Nomination" im Indischen Ozean von somalischen Piraten entführt. Es befand sich rund 800 Seemeilen nördlich der Seychellen. Dem Reeder zufolge lag der Standort außerhalb der ausgewiesenen Hochrisikozone, wie sie von der Europäischen Union, der NATO und anderen Akteuren, die am Horn von Afrika und im Golf von Aden militärisch die Seeräuberei bekämpfen, ausgewiesen wird.

Der Ablauf der Entführung, so weit der Öffentlichkeit bekannt, verlief derart haarsträubend, daß an dieser Stelle einige Fragen aufgeworfen werden sollten. Demnach hatte die Besatzung, bestehend aus einem polnischen Kapitän, zwei Ukrainern, zwei Russen und sieben Filipinos, einen Notruf gesendet und sich vor den Piraten in einen mit schweren Stahlschotten ausgerüsteten Sicherheitsraum geflüchtet. Nach zweieinhalb Tagen war noch immer keine Hilfe eingetroffen, dafür hatten die Piraten den Schutzraum "mit professionellem Gerät" geöffnet.

Am Montag wurde das Schiff von einer Flugpatrouille der Seychellen angeflogen, mindestens vier Seeräuber seien an Bord ausgemacht worden, hieß es. Ein Patrouillenboot der Küstenwache der Seychellen habe anschließend die Verfolgung der unter der Flagge des Karibikstaates Antigua und Barbuda fahrenden, 132 Meter langen "Beluga Nomination" in Richtung somalische Gewässer aufgenommen, die Jagd aber zwischenzeitlich wegen schlechtem Wetter abbrechen müssen. [1] Am Mittwoch rückten ein Kriegsschiff der Seychellen und ein dänisches Kriegsschiff an. Ersteres nahm die "Beluga Nomination" unter Feuer, anscheinend wurde der Maschinenraum schwer getroffen. Mindestens ein Pirat kam dabei ums Leben. [2] Daraufhin richteten die Seeräuber zwei Besatzungsmitglieder hin. Zwei weitere Seeleute konnten mit einem Rettungsboot fliehen und wurden am 28. Januar von dem dänischen Schiff unter dem Kommando der NATO-Mission Operation Ocean Shield gerettet. Wohingegen der leitende Ingenieur bei seinem Fluchtversuch ertrunken war. [3]

In einer Darstellung der Ereignisse durch die NATO hat die Besatzung der "Beluga Nomination" versucht, das Schiff zurückzuerobern, was vom dänischen Kriegsschiff HDMS Esbern Snare aus beobachtet wurde. Dieses sei zwei Tage zuvor herbeigeeilt, aber vom Kapitän des Frachters aufgefordert worden, auf Distanz zu bleiben, um nicht die Spannungen an Bord zu erhöhen. Von Angriffen seitens der Marine der Seychellen war in der Presseerklärung der NATO nicht die Rede. [4]

Unterdessen hatten die Piraten Funkkontakt mit dem Land aufgenommen. Von dort wurde die bei einer früheren Gelegenheit gekaperte "York" auf den Weg geschickt. Sie benötigte eineinhalb Tage, bis sie die "Beluga Nomination" erreichte und abschleppte. Das von einem deutschen Reeder geführte Schiff wurde von den Piraten in somalische Gewässer gebracht. Die Piraten haben inzwischen über einen Mittelsmann Kontakt mit dem Reeder aufgenommen. Berichten zufolge sind die verbliebenen sieben Seeleute wohlauf. Weitere Einzelheiten zum Beispiel über Lösegeldforderungen sind nicht bekannt.

Wie kann es geschehen, daß die Piraten zweieinhalb Tage Zeit haben, ohne daß eines der vielen Kriegsschiffe in dieser Region den Seeleuten zu Hilfe eilte? Sprecher der europäischen Einsatzgruppe EU NAVFOR erklärten, daß sich das nächste ihrer Schiffe zum Zeitpunkt des Piratenüberfalls in über 1000 Seemeilen Entfernung in Warteposition befand, um Geleitschutz für ein Schiff des Welternährungsprogramms (WFP) vor der Küste Somalias zu fahren. Solche Fahrten genössen Priorität. Hätte man das Hilfsgüterschiff allein gelassen, wäre es womöglich ebenfalls entführt worden. Und andere Schiffe hätten deshalb nicht zur Verfügung gestanden, weil sie entweder repariert wurden oder zu dem Zeitpunkt Treibstoff bunkerten. [5]

Wenn das zutrifft, bleibt es dennoch ein Rätsel, warum nicht Kriegsschiffe der NATO oder der von den USA angeführten Missionen Combined Task Force 150 (CTF 150) und Combined Task Force 151 (CTF 151) oder einer der zahlreichen weiteren Länder, die in diesem Seegebiet operieren, zu Hilfe gekommen sind. Sollte sich die "Beluga Nomination" zweieinhalb Tage in einer Art Limbus befunden haben, unerreichbar für die Kriegsmarinen der übrigen Welt? Zugleich aber sehr wohl erreichbar für die von Piraten herangeführte "York"?

Diese Fragen sollen nicht als Aufforderung verstanden werden, härter gegen Piraten vorzugehen und dabei keine Rücksicht auf die Geiseln zu nehmen. Wenn aber auf einen Notruf zweieinhalb Tage nicht reagiert wird, also in einer Zeitspanne, in der sich die Besatzung offenbar noch nicht in der Hand der Piraten befand, dann wirkt das zumindest merkwürdig. Nun ist bekannt, daß die Priorität von EU NAVFOR auf Geleitschutz für die WFP-Hilfslieferungen liegt, und CTF 150 soll im Golf von Aden und der arabischen See im Rahmen der Operation Enduring Freedom Seewege sichern, was sich nicht auf die Piratenbekämpfung beschränkt. So drängt sich der Verdacht auf, daß den Piraten die "Beluga Nomination" möglicherweise auch deshalb endgültig in die Hände fiel, weil mit der Entsendung von Kriegsschiffen aus welchem Land auch immer in diese Region weitere Aufgaben abgesehen von der Piratenbekämpfung verfolgt werden.

Geht es in dieser geopolitisch wichtigen Region vielleicht auch darum - mit Blick beispielsweise auf Ressourcenkonkurrenten -, Präsenz zu zeigen? Wenn das zutrifft, könnte das bedeuten, daß einem Piratenüberfall eine Zeitlang nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie es bei einer anderen Prioritätensetzung, die vordringlich auf den Schutz der Seeleute ausgelegt ist, eigentlich erwartet werden sollte.

Vom UN-Sicherheitsrat per Resolution mandatiert, operieren die Kriegsschiffe teilweise im rechtlichen Zwielicht. Sie dürfen ausnahmsweise Piraten bis in die somalischen Hoheitsgewässer und sogar bis an Land verfolgen. Diese Erlaubnis wurde zeitlich befristet, aber sie stellt einen Präzedenzfall dar und könnte zukünftig bei Kriegseinsätzen in anderen Seegebieten erneut in Anspruch genommen werden. Zudem werden damit auf lange Sicht (Gewohnheits-)Prinzipien ins internationale Recht geschrieben.

Die USA, EU und NATO, also drei militärisch mächtige Interessengruppen der transatlantischen Zusammenarbeit, bringen sich mit der Piratenbekämpfung in eine globalhegemoniale Vorreiterposition. Da wundert es nicht, daß Länder wie Rußland, China, Japan, Indien, Iran, um nur einige Akteure zu nennen, ebenfalls unter Berufung auf das UN-Mandat an der Bekämpfung somalischer Piraten teilnehmen. Am Horn von Afrika wird Geopolitik betrieben. Gäbe es dort keine Piraten - vielleicht wären sie bei der Suche nach einer Vorwandslage für expansive Bestrebungen erfunden worden.

Es ist vorstellbar, daß es in diesem Kontext vorkommen kann, daß ein Piratenüberfall für weniger wichtig genommen und mehr oder weniger zugelassen wird, gegebenenfalls auch nur dadurch, daß nicht trotz des Notfalls alle zur Verfügung stehenden Mittel vollumfänglich zum Einsatz gebracht werden. Ob die Entführung der "Beluga Nomination" in diese Kategorie fällt, läßt sich naturgemäß nicht abschließend beantworten. Sollte jedoch diese Annahme zutreffen, so wäre der Preis für die Vernachlässigung - neben dem durch keine Summe aufzurechnenden Tod der Beteiligten - höher als im ersten Augenblick zu vermuten. Die "Beluga Nomination" soll erstklassige Schnellboote geladen haben. Mit ihnen könnten die Piraten nun auch die aus ihrer Sicht "lukrativen" Kreuzfahrtschiffe einholen, die ihnen bislang davongebraust sind.


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Anmerkungen:

[1] "Piraten entern deutsches Frachtschiff", Handelsblatt, 25. Januar 2011
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/reederei-beluga-shipping-piraten-entern-deutsches-frachtschiff;2739873

[2] "'Beluga Nomination' - Tödliches Gefecht um gekapertes deutsches Schiff", 30. Januar 2011
http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Toedliches -Gefecht-um-gekapertes-deutsches-Schiff

[3] "Unfassbare Brutalität der Entführer von 'Beluga Nomination'", maritim heute, abgerufen am 8. Februar 2011
http://www.maritimheute.de/unfassbare-brutalitat-der-entfuhrer-von-beluga-nomination/

[4] NATO WARSHIP RESCUES 2 SEAMEN AFTER PIRATE ATTACK, News Release Allied Maritime Command Headquarters Northwood, Ref:SNMG2 2011 / 05, 28. Januar 2011
http://www.manw.nato.int/pdf/Press%20Releases%202011/Press%20releases%20Jan-June%202011/SNMG2/280111%20NATOWarshipESBERNSNARERescuesCrewAfterPirateAttack28Feb11.pdf

[5] "MV BELUGA NOMINATION pirated in the Indian Ocean", EU NAVFOR Public Affairs Office, 25. Januar 2011
, http://www.eunavfor.eu/2011/01/mv-beluga-nomination-pirated-in-the-indian-ocean/

8. Februar 2011