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AFRIKA/2213: Medikamentenverknappung - unzulänglich erklärt ... (SB)



In Folge der Bemühungen, die Coronaviruspandemie in Afrika einzudämmen, sind Versorgungsketten mit lebenswichtigen Medikamenten kollabiert. Nun befürchtet die Weltgesundheitsorganisation WHO, daß deswegen bis Anfang 2021 in den Subsaharastaaten eine halbe Million Menschen zusätzlich an Folgeerkrankungen von HIV/Aids sterben könnten. [1]

Was nicht dazu gesagt wird: Zu den hohen Opferzahlen kommt es allerdings nur deswegen, weil schon immer im nationalen wie globalen Maßstab eine Zwei-Klassen-Medizin besteht, die von vornherein nicht darauf ausgerichtet ist, unterschiedslos das Leben und die Unversehrtheit nicht nur der wohlhabenden Klientel, sondern auch der Mittellosen zu schützen. Außerdem wächst auf dem afrikanischen Kontinent die Zahl der privaten oder teilprivatisierten Krankenhäuser. Deren Streben orientiert sich systembedingt an ökonomischen Kriterien, wohingegen die Behandlung von Patientinnen und Patienten als Mittel zum Zweck dient.

In den Subsaharastaaten leben schätzungsweise 25,7 Mio. Menschen mit HIV, davon erhalten 64 Prozent (16,4 Mio.) eine antiretrovirale Therapie. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe von WHO und UNAIDS hat sich die Frage gestellt, was passieren könnte, wenn für diese Menschen die Versorgung mit Medikamenten sechs Monate lang ausfiele. Wobei die Gründe für den Ausfall vielfältig sein können, beispielsweise weil Gesundheitseinrichtungen schließen, sie keinen Nachschub an Medikamenten erhalten oder die Behandlung von Covid-19-Fällen die Belegschaft schon zu sehr in Anspruch nimmt.

Den Berechnungen zufolge würde bei einem totalen Aussetzen der Versorgung mit HIV/Aids-Medikamenten die Uhr auf das Jahr 2008 zurückgedreht, als in den Subsaharastaaten mehr als 950.000 Menschen in Folge der Immunschwächekrankheit gestorben sind. Außerdem wären die Auswirkungen der Unterversorgung noch mindestens fünf Jahre später bemerkbar, da die Sterberate um 40 Prozent steigen würde.

Durch eine antiretrovirale HIV-Therapie wird die Virenlast gesenkt. HIV-positive Menschen können noch lange Zeit mit dem Virus leben, ohne daß sich die Infektion zu Aids weiterentwickelt. Doch bereits bei einer relativ kurzen Unterbrechung der Medikamentenbehandlung werden sich die HI-Viren voraussichtlich wieder vermehren, schwere gesundheitliche Schäden anrichten und die Gefahr erhöhen, daß die betreffende Person andere um so leichter ansteckt.

Noch steht die Coronaviruspandemie in Afrika am Anfang. Die Zahl der Infizierten und der Toten des gesamten Kontinents beträgt nur einen Bruchteil derjenigen Deutschlands. Deshalb scheint die Warnung der Weltgesundheitsorganisation vor den indirekten Folgen der Pandemie allzu berechtigt.

Dabei ist HIV/Aids bei weitem nicht die einzige Infektionskrankheit, die aufgrund der Coronaviruspandemie höhere Opferzahlen einfordern könnte. Auch die Zahl der Malariatoten droht zu steigen, beispielsweise weil Gesundheitseinrichtungen geschlossen sind und viele Betroffene nicht behandelt werden. Oder weil Malariaerkrankte mit Sars-CoV-2-Infizierten verwechselt werden, eine Ansteckung befürchtet wird und die gebotene Therapie ungenügend ist. 2018 starben in den Subsaharastaaten 405.000 Menschen an Malaria, 228 Millionen hatten sich infiziert. In diesem Jahr könnte sich die Zahl der Malariatoten auf 769.000 nahezu verdoppeln, befürchtet laut Reuters die Afrika-Direktorin der Weltgesundheitsorganisation, Matshidiso Moeti. Damit würden die Erfolge der letzten Jahrzehnte im Kampf gegen die von Moskitos übertragene Fieberkrankheit zunichte gemacht. [2]

Auch Masern werden in Afrika ein wachsendes Problem. Die WHO berichtete, daß sich im Jahr 2018 dort rund 1,7 Mio. Menschen angesteckt haben und 50.000 von ihnen deshalb starben. Am schwersten getroffen hat es die Demokratische Republik Kongo, in der seit 2018 rund 6.500 Menschen Opfer der Masern wurden. Wegen der Coronaviruspandemie und der Sorge, man könnte sie verbreiten, wurde in Ländern wie DR Kongo, Nigeria, Südsudan und Äthiopien die eigentlich in diesem Jahr anstehenden Impfkampagne gegen Masern verschoben. Das erhöht die Gefahr beträchtlich, daß Kinder an der Krankheit sterben oder nach der Ansteckung bleibende Schäden erleiden.

Dank umfangreicher Impfkampagnen gilt die Kinderlähmung als nahezu ausgerottet. Doch auch hierzu mußte die WHO entsprechende Impfkampagnen gegen das Poliovirus aus Sicherheitsgründen aussetzen. Vermutlich als Folge der Aussetzung brach die Krankheit in Niger und anderen Ländern Afrikas wieder aus, wie der Tagesspiegel meldete. [3]

Daß Afrika bislang im Vergleich zu Europa von der Coronaviruspandemie relativ verschont wurde, kann eine Reihe von Gründen haben. Einer davon dürfte die Erfahrung mit Ebola sein. So haben die meisten afrikanischen Länder sehr rasch auf die Meldungen zur Ausbreitung eines neuartigen Coronavirus reagiert, Flüge nach China gestrichen oder Flugreisende vorsorglich in zweiwöchige Quarantäne gesteckt. Das öffentliche Leben wurde zum Erliegen gebracht. Anfang das Jahres besaßen auf dem ganzen Kontinent nur zwei Labore die Fähigkeit, Coronavirustests durchzuführen. Inzwischen vermögen das mehrere Dutzend Staaten - wenngleich die Testkapazitäten meist noch sehr gering sind.

So bleibt zum gegenwärtigen Stand der Pandemieentwicklung festzustellen, daß das Coronavirus (noch) nicht das Hauptproblem für Afrika ist, sondern die zahlreichen Dauerinfektionskrankheiten wie Malaria, HIV/Aids, Tuberkulose, Masern, um nur einige zu nennen. Diese indirekten Folgen der Coronaviruspandemie haben jedoch weniger mit der Verbreitung von Sars-CoV-2 zu tun, als mit den häufig unzulänglichen, da sowohl von den sogenannten Geberländern als auch manchen autokratisch regierten Staaten vernachlässigten Gesundheitssystemen.

Und hinter all den bedrückenden Zahlen und düsteren Aussichten zur Verbreitung aller möglichen Infektionskrankheiten steht ein noch viel größeres Ungeheuer, über das sich allzu häufig der Mantel des Schweigens legt: Hunger. Der in vielen Staaten verhängte Lockdown hat zahlreiche Menschen, die von der Hand in den Mund lebten oder jeden Morgen ausgerückt sind, damit sie bis zum Abend irgend etwas zu essen auftreiben, ihrer spärlichen Einkommens- und Versorgungsmöglichkeiten beraubt. Vor wenigen Tagen meldete das Welternährungsprogramm, daß in den kommenden Monaten in Westafrika mehr als 40 Mio. Menschen einen schwerwiegenden Lebensmittelmangel erleiden werden. Dann werde die Ernte aus dem vergangenen Jahr aufgebraucht, aber die neue Ernte noch nicht reif sein. [4]

Ähnliche Versorgungsmängel werden aus Ostafrika, Zentralafrika und selbst aus dem wirtschaftlichen Schwergewicht Südafrika gemeldet. Dort ist der Anteil der Hungernden von 11 Prozent vor der Pandemie auf 24 Prozent Ende April gestiegen, berichtete Daily Maverick. In den informellen Siedlungen (55 Prozent) und Townships (66 Prozent) liegt der Wert sogar noch höher. [5]

In Zimbabwe haben fast acht Millionen Menschen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, nicht genügend zu essen. In anderen Ländern des südlichen Afrika sieht die Versorgungslage nicht viel besser aus. Die verbreitete und seit Ausbruch der Coronaviruspandemie rapide zunehmende Nahrungsnot begünstigt die Ausbreitung von Infektionskrankeiten und sorgt womöglich für schwerere Verläufe. Mit der das Schicksal bemühenden Erklärung, daß Lieferketten für Medikamente zusammengebrochen sind und Gesundheitseinrichtungen geschlossen wurden, wird der systemische Mangel an Medikamenten und der Umstand, daß sie nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen, verschleiert.


Fußnoten:

[1] https://www.who.int/news-room/detail/11-05-2020-the-cost-of-inaction-covid-19-related-service-disruptions-could-cause-hundreds-of-thousands-of-extra-deaths-from-hiv

[2] https://www.reuters.com/article/us-africa-malaria/who-warns-that-malaria-deaths-in-africa-could-double-this-year-idUSKCN22529Q

[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/coronavirus-in-afrika-wie-die-pandemie-den-kampf-gegen-andere-krankheiten-erschwert/25817192.html

[4] https://allafrica.com/stories/202005070076.html

[5] https://www.dailymaverick.co.za/article/2020-05-11-south-africa-needs-a-national-food-security-council-to-fend-off-starvation/

12. Mai 2020


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