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ASIEN/658: Cheonan-Vorfall - Koreakrieg vor erneutem Ausbruch? (SB)


Cheonan-Vorfall - Koreakrieg vor erneutem Ausbruch?

Pjöngjang und Seoul brechen ihre diplomatischen Beziehungen ab


In Ostasien hat der Streit um den Untergang der Cheonan, einer 1200 Tonnen schweren Korvette der südkoreanischen Marine, und den Tod von 46 der 104 Besatzungsmitglieder am 26. März einen neuen gefährlichen Höhepunkt erreicht. Südkorea bezichtigt Nordkorea, die Cheonan mit einem Torpedo versenkt und damit den bislang schwersten Verstoß gegen den Waffenstillstand, in den der Koreakrieg 1953 eingetreten ist, begangen zu haben. Die Regierung in Pjöngjang weist den Vorwurf kategorisch von sich und tut sämtliche Hinweise für eine nordkoreanische Verwicklung in den Vorfall, auf denen der offizielle, am 21. Mai veröffentlichte Bericht einer international besetzten Untersuchungskommission des südkoreanischen Verteidigungsministeriums basiert, als "Fälschungen" ab. Nachdem am 24. Mai die Regierung in Seoul den kompletten Handel mit Nordkorea eingestellt und die Häfen Südkoreas für nordkoreanische Schiffe gesperrt hatte, brach am folgenden Tag Pjöngjang die diplomatischen Beziehungen zum südlichen Nachbarland ab. Die Streitkräfte beider Staaten befinden sich inzwischen in Alarmbereitschaft. So nahe an einem erneuten Ausbruch des Koreakrieges hat man lange nicht mehr gestanden.

Vor allem, seit am 24. Mai der konservative südkoreanische Präsident Lee Myung-bak bei einer aus der Haupthalle des Nationalmuseums zum Koreakrieg übertragenen Fernsehadresse an das Volk den kommunistischen Norden formell für die Tötung der 46 Matrosen und die Versenkung der Cheonan verantwortlich machte und eine Reihe schwerer diplomatischer und wirtschaftlicher Vergeltungsmaßnahmen bekanntgab, geht die Angst vor einem Ausbruch von Feindseligkeiten um. Am nächsten Tag hat Pjöngjang acht südkoreanische Diplomaten aus dem Industriepark Kaesong, der an der Demilitarisierten Zone (DMZ) liegt und in dem 40.000 Nordkoreaner für südkoreanische Unternehmen arbeiten, ausgewiesen. Noch scheuen die Nordkoreaner davor zurück, Kaesong gänzlich zu schließen, haben jedoch mit diesem Schritt für den Fall gedroht, daß die Südkoreaner tatsächlich, wie vom Verteidigungsministerium in Seoul angekündigt, an der DMZ wieder mit der Ausstrahlung von antikommunistischen Propagandabotschaften beginnen. Auf jeden Fall haben die Nordkoreaner alle Kommunikationskanäle zu Südkorea unterbrochen. Dies gilt sowohl für Kontakte, die über das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) laufen, als auch für Funkgespräche zwischen Kommandeuren beider Seestreitkräfte, um Zwischenfälle an der maritimen Grenze, der sogenannten Northern Limit Line (NLL), deren Verlauf im Gelben Meer, d. h. auf der westlichen Seite der koreanischen Halbinsel, von Pjöngjang und Seoul jeweils anders ausgelegt wird, zu vermeiden.

Über die Jahrzehnte ist es immer wieder zu Vorfällen an der NLL gekommen. Im November 2009 haben südkoreanische Schiffe ein nordkoreanisches Patrouillenboot, das angeblich die NLL überschritten hatte, beschossen und schwer beschädigt. Ein nordkoreanischer Matrose soll dabei ums Leben gekommen sein. Was die These einer Verantwortung Pjöngjangs für den Untergang der Cheonan betrifft, so wird in der westlichen Presse spekuliert, die nordkoreanische Marine habe die südkoreanische Korvette als Vergeltung für den Angriff im letzten November versenkt. Am 23. Mai wartete die New York Times mit der spektakulären Enthüllung auf, der Torpedoangriff auf die Cheonan sei von Nordkoreas Staatslenker Kim Jong-il höchstpersönlich "autorisiert" worden. In dem Artikel mit der reißerischen wie unzweideutigen Überschrift "U.S. Implicates North Korean Leader in Attack" gab der Reporter David Sanger als Quelle der brisanten Informationen anonyme "ranghohe US-Regierungsbeamte" an.

Gegenüber deren Angaben, speziell wenn sie ohne Namen von der New York Times in die Welt gesetzt werden, sollte man spätestens seit den Märchengeschichten, die man 2002, 2003 über Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen und Al-Kaida-Verbindungen verbreitete, um den völkerrechtlich illegalen Einmarsch in den Irak zu begründen, höchste Skepsis walten lassen. Bezogen auf den Cheonan-Vorfall macht sich Amerikas "Paper of Record" erneut unverhohlen zum Multiplikator von lancierten Geschichten aus dem Weißen Haus, dem Pentagon und dem State Department. Was die Schlußfolgerung, Kim hätte den Befehl zur Versenkung gegeben, betrifft, so schreibt Sanger, seine Quellen im Regierungsapparat hätten selbst zugegeben, daß sie "weniger auf harten Beweisen", als vielmehr auf dem bei den US-Geheimdiensten angeblich herrschenden "Gefühl für die politische Dynamik" in Nordkorea basiere. Nach dieser entlarvenden Aussage stellt Sanger wenige Sätze später offenbar ohne Scham das Offensichtliche fest: "Nichtsdestotrotz, sowohl die Schlußfolgerung als auch ihr Timing könnten den Vereinigten Staaten beim Versuch, um Unterstützung gegen Nordkorea zu werben, hilfreich sein."

Nicht zufällig hielt sich am Tag der Veröffentlichung des Artikels US-Außenministerin Hillary Clinton in Peking auf, wo sie sich vergeblich bemühte, die Staatsführung der Volksrepublik China, Schutzmacht Nordkoreas, zur Einreihung in Washingtons Anti-Pjöngjang-Front zu bewegen. Mehr Glück hatte sie mit Tokio, als am 23. Mai, zwei Tage nach dem Besuch der ehemaligen First Lady dort, die Regierung von Premierminister Yukio Hatoyama von der Demokratischen Partei Japans im monatelangen Streit mit Washington um die Verlegung eines Stützpunktes der US-Marineinfanterie auf Okinawa klein beigab und damit zugleich eines ihrer wichtigsten Wahlversprechen vom letzten Jahr brach. Zur Begründung der peinlichen Kapitulation Tokios im erbitterten Basenstreit mußte natürlich die "nordkoreanische Gefahr" herhalten.

Zwar haben die südkoreanischen Behörden Wrackteile eines Propellerantriebs der Öffentlichkeit präsentiert, von dem sie behaupten, sie stammten von jenem nordkoreanischen Torpedo, mit dem die Cheonan versenkt wurde, doch bis heute haben sie nicht erklären können, wie die Nordkoreaner den Angriff völlig unbemerkt durchgeführt haben sollen. Schließlich nahm die Cheonan an einem großen gemeinsamen Manöver der amerikanischen und südkoreanischen Marinestreitkräfte mit Namen "Key Resolve/Foal Eagle" - was im überwiegenden Teil der westlichen Berichterstattung seltsamerweise keine Erwähnung findet - teil und befand sich zum Zeitpunkt ihres Unterganges nicht nur nicht in unmittelbarer Nähe der NLL, sondern sogar vor der Südküste der südlich der inoffiziellen Seegrenze liegenden, 45,8 Quadratkilometer großen Insel Baengnyeong, an einer Stelle, wo das Wasser weniger als 30 Meter tief ist. Um das bisher Unerklärliche doch noch zu erklären, wartete der Ostasienkorrespondent Michael Sheridan am 23. Mai in der Londoner Sunday Times mit verblüffenden neuen Erkenntnissen auf, die er wiederum von nicht namentlich genannten "Regierungsbeamten" aus Südkorea zugesteckt bekommen haben wollte. Demnach wurde die Cheonan von einer "neuen Klasse" nordkoreanischer U-Boote versenkt, die über "Nachtsichtfähigkeit, Hochtechnologiesysteme und ein einzigartiges Design verfügen, was sie zu einer Tarnkappenwaffe des Marinekrieges macht."

26. Mai 2010