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ASIEN/696: USA und Pakistan auf Kollisionskurs? (SB)


USA und Pakistan auf Kollisionskurs?

Pakistaner nehmen Ausweitung des Afghanistankrieges nicht tatenlos hin


Zwischen Pakistan und den USA ist eine schwere diplomatische Krise ausgebrochen, die militärische Aspekte aufweist und schwerste geopolitische Auswirkungen haben könnte. Die Krise begann, als am 25. und am 27. September NATO-Hubschrauber bei drei verschiedenen Operationen die Grenze Afghanistans überquerten und mutmaßliche Talibanziele auf pakistanischem Territorium mit Raketen beschossen. Ähnliche Angriffe der NATO auf zwei Grenzposten am 30. September, bei denen drei Mitglieder der pakistanischen Streitkräfte getötet und drei weitere verletzt wurden, brachten das Faß zum Überlaufen. Am selben Tag hat die Regierung in Islamabad die Schließung des Grenzübergangs Torkham am Khyberpaß, nahe der Stadt Peshawar, über den ein Gutteil des Nachschubs für die NATO-Truppen in Afghanistan rollt, angeordnet. Offiziell soll der Übergang geschlossen bleiben, bis sich in Pakistan die öffentliche Empörung über die Verletzung der Souveränität der Islamischen Republik gelegt hat. Doch das könnte lange dauern. Seit Anfang September führt die CIA in einem noch niemals dagewesenen Ausmaß per Drohnen ihre Raketenangriffe auf "mutmaßliche" Taliban-Anhänger im pakistanischen Stammesgebiet durch. Zwar ist unklar, wie viele "Militante" bei solchen Operationen getötet werden, dafür steht aber fest, daß sie die ganze pakistanische Nation gegen die USA und die NATO aufbringen.

Zur militärischen Effektivität der Drohnenangriffe gibt es tatsächlich die unterschiedlichsten Bewertungen. Laut einer aktuellen Studie der New America Foundation, auf die Brian Ehrenpreis am 29. September in einem Artikel bei Counterpunch.org verwies, kamen zwischen 2004 und 2010 bei den ersten 114 Drohenangriffen auf Ziele in Pakistan zwischen 830 und 1210 Menschen ums Leben, von denen zwischen 550 und 850 "Militante" waren. Daraus ergibt sich die Einschätzung, daß 32 Prozent aller Opfer Zivilisten waren. Die Ungenauigkeit bei der Anzahl der Toten und ihrer Identität geht unter anderem darauf zurück, daß nach dem Einschlag und der Explosion der Hellfire-Raketen von den betroffenen Menschen praktisch nichts als verkohlte Leichenfetzen und Knochen übrigbleibt. Die in der Studie der New America Foundation angegebene, verhältnismäßig niedrige Einschätzung des Prozentsatzes der getöteten Zivilisten verweist auf die Übernahme der Sichtweise des Pentagons. Demnach werden alle getöteten Männer nachträglich zu "Militanten" erklärt. Lediglich Frauen und Kleinkinder werden als Nicht-Kombattanten gezählt.

Ganz anders sehen die Zahlen aus, welche am 28. September die staatliche chinesische Agentur Xinhua präsentierte. Ihr zufolge sind seit 2004 bei 167 CIA-Drohenangriffen auf Ziele in Pakistan 1753 Menschen - mehr als 1100 davon bei 130 Angriffen seit August 2008 - getötet worden. Laut Xinhua liegt unter den Opfern das Verhältnis zwischen Zivilisten und "Militanten" - ob Taliban-Kämpfer oder Al-Kaida-"Terroristen", sei dahingestellt - bei 25 zu eins. Die Angaben Xinhuas decken sich mit denen der pakistanischen Behörden, auf die sich Rick Rozoff in dem am 26. September bei Global Research erschienenen Artikel "America's Undeclared War on Pakistan: Deadly Drone Attacks Reach Record High" bezog. Demnach sind mehr als 90 Prozent der Opfer Zivilisten.

Vor diesem Hintergrund kann man die Empörung in Pakistan gut verstehen, die sich derzeit unheimlich steigert, weil die Amerikaner gerade die Häufigkeit solcher Drohnenangriffe drastisch anziehen. Im September gab es 22 CIA-Raketenangriffe auf Ziele in Pakistan und damit mit Abstand die meisten in einem Monat seit Beginn des Programms vor sechs Jahren. Ein Ende der Eskalation ist auch nicht in Sicht. Bei den jüngsten Raketenangriffen am 2. Oktober sollen 17 Menschen - laut dem Pentagon allesamt "Militante" - ums Leben gekommen sein. Wie das Wall Street Journal am selben Tag meldete, werden mit Einverständnis des Weißen Hauses Drohnen des US-Militärs aus anderen Teilen Afghanistans in den Süden verlegt, um sie bei der CIA-Operation gegen die mutmaßlichen Taliban-Unterschlupfe in den pakistanischen Stammesgebieten wie Nordwasiristan einzusetzen. Für die inoffizielle Ausweitung des Afghanistankrieges sind laut dem Wall Street Journal der US-Verteidigungsminister Robert Gates, der CIA-Chef Leon Panetta, der Generalstabchef Admiral Michael Mullen und der ISAF-Oberbefehlshaber General David Petraeus verantwortlich. Als Grund für die umstrittene Eskalation wird der Frust der Amerikaner wegen des pakistanischen Militärs, das aus Sicht Washingtons nicht genug unternimmt, um die Nutzung Pakistans als Rückzugsgebiet der afghanischen Taliban zu unterbinden, genannt.

Die USA hoffen mit ihrer hochriskanten Strategie, den Vormarsch der Taliban in Afghanistan zu stoppen. Sie könnten aber dafür die Pakistaner noch mehr in die Arme ihrer Gegner treiben. Nach den Angriffen auf die Grenzposten warf der mächtige pakistanische Innenminister Rehman Malik, der als pro-amerikanisch gilt, öffentlich die Frage auf, ob die USA und Pakistan noch "Verbündete oder Feinde" seien. Premierminister Yousuf Raza Gilani, der sich heute am Rande des EU-Asien-Gipfels in Brüssel zu einem Krisengespräch mit dem NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen trifft, erklärte, Islamabad habe "andere Optionen", sollte sich die nordatlantische Allianz für die Tötung der drei Soldaten nicht entschuldigen und die Verstöße gegen die Souveränität Pakistans nicht einstellen.

In einem Bericht, der am 4. Oktober bei Asia Times Online unter der Überschrift "Carryings on up the Khyber Pass" erschienen ist, berichtete der Korrespondent Syed Saleem Shahzad von Überlegungen in den höchsten pakistanischen Militärkreisen, die Allianz mit den USA aufzukündigen, um Pakistan enger an die Volksrepublik China zu binden. Als Hauptverfechter dieser Linie nannte Shahzad General Tariq Majid, derzeit Vorsitzender des Komitees der Vereinigten Stabchefs, der vor fünf Tagen persönlich die Schließung des Grenzübergangs Torkham verfügt haben soll. Auch wenn es zu keinem formellen Bruch zwischen Islamabad und Washington kommt, schaffen die pakistanischen Gegner der NATO-Präsenz in Afghanistan am Boden Fakten. Seit der Schließung des Grenzüberangs kommt es nicht nur in den paschtunischen Stammesgebieten zu Anschlägen auf Lastwagenkonvois, die mit Nachschub für die NATO in Afghanistan unterwegs sind. Bei dem jüngsten Überfall nahe der Hauptstadt Islamabad setzten rund ein Dutzend maskierte Männer 24 Lastwagen in Brand, nachdem sie drei Wachleute des Depots erschossen hatten.

4. Oktober 2010