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ASIEN/708: NATO peilt den "Übergang" in Afghanistan bis 2014 an (SB)


NATO peilt den "Übergang" in Afghanistan bis 2014 an

Propagandanebel soll drohende Niederlage in Afghanistan verschleiern


Auf dem NATO-Gifpeltreffen in Lissabon hat die Führung der nordatlantischen Allianz geschickt denjenigen, die den mehr als neun Jahre andauernden Krieg in Afghanistan kritisieren und die schnellstmögliche Heimholung aller westlichen Soldaten fordern, zumindest vorübergehend den Wind aus den Segeln genommen. Im Beisein der Regierungschefs, Außenminister, Verteidigungsminister und führenden Militärs aller 28 NATO-Mitgliedsstaaten sowie des UN-Generalsekretärs Ban Ki-mun haben der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der afghanische Präsident Hamid Karsai ein Abkommen über die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an die afghanischen Sicherheitskräfte bis Ende 2014 unterzeichnet. Damit ist die Besetzung Afghanistans offiziell in eine Übergangsphase getreten, die - so der von der NATO suggerierte Eindruck - durch den Abzug der westlichen Streitkräfte abgeschlossen wird. Doch wie lange der "Übergang" tatsächlich dauern wird, ist eine andere Frage.

Daß es sich bei dem Datum Ende 2014 um keinen festen Abzugstermin, sondern in erster Linie um den Bestandsteil einer Absichtserklärung handelt, die nur unter bestimmten Voraussetzungen verwirklicht werden könnte, dürfte allen Beteiligten des NATO-Gipfels einschließlich der versammelten Medienvertreter klar gewesen sein. Für Rasmussen legte das von ihm und Karsai unterzeichnete Abkommen den Grundstein einer "langfristigen Beziehung" zwischen der NATO und Afghanistan, die "auch das Ende der Kampfmission" des Westens am Hindukusch "überdauern" werde. Gegenüber der Presse erklärte der ehemalige Premierminister Dänemarks einerseits, er erwarte nicht, daß die "Kampfmission" der International Security Assistance Force (ISAF) über 2014 hinaus erforderlich sein werde, andererseits werde die NATO kein Sicherheitsvakuum in Afghanistan zurücklassen, sondern den Kampf gegen die aufständischen Taliban und ihre Verbündeten "solange wie erforderlich" führen.

Im Vorfeld des Gipfels hatten diejenigen in den USA wie Außenministerin Hillary Clinton, Verteidigungsminister Robert Gates und der Generalstabschef Admiral Michael Mullen, die Präsident Barack Obamas für Juli 2011 geplanten Beginn des Abzugs amerikanischer Truppen unterminieren wollen, das Ende 2014 wegen der damit einhergehenden Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die Armee und Polizei Afghanistans zum eigentlich relevanten Datum erhoben. Gleichzeitig mußten dieselben Kräfte dafür sorgen, daß die europäischen Bündnispartner, deren Bevölkerungen dem Einsatz in Afghanistan mehrheitlich ablehnend gegenüberstehen, nicht gleich diesen Termin öffentlich als Schlußmarkierung der eigenen Teilnahme an der ISAF-Mission auffaßten. Vermutlich deshalb hat am Tag vor dem Beginn des NATO-Gipfels in der portugiesischen Hauptstadt der Pentagonsprecher Geoff Morrell die Bedeutung des geplanten Übergabedatums heruntergespielt, indem er es zum "anzupeilenden Ziel" erklärte.

Eine noch deutlichere Demonstration der Tatsache, daß in Sachen Afghanistan die eigentlichen Entscheidungen im Pentagon und nicht im Weißen Haus getroffen werden, gelang Amerikas Generalität, als sie am Eröffnungstag des Gipfels über die Washington Post die Nachricht über die erstmalige Verlegung des Kampfpanzers M1-Abrams in das Kriegsgebiet durchsickern ließ. In dem Artikel "U.S. deploying heavily armored battle tanks for first time in Afghan war" hieß es, mehrere des 68 Tonnen schweren Panzers, der von einer Gasturbine angetrieben wird und dessen 120mm-Kanone Ziele in mehr als einem Kilometer Entfernung zerstören kann, sollten demnächst von der US- Marineinfanterie in den schwer umkämpften, südafghanischen Provinzen Helmand und Kandahar eingesetzt werden.

Übergang oder nicht, die von dem ISAF-Oberkommandeur David Petraeus seit Monaten forcierte Eskalierung des Afghanistankrieges läßt Schlimmstes befürchten. Die von Petraeus zu verantwortende Zunahme der Luftangriffe auf mutmaßliche Taliban-Verstecke sowie der nächtlichen Razzien der US-Spezialstreitkräfte gegen mutmaßliche Anhänger des Aufstandes hat Proteste seitens der Bevölkerung im Südafghanistan ausgelöst. Als Präsident Karsai vor einigen Tagen versucht hat die Amerikaner zu einem behutsameren Vorgehen zu bewegen, wurde sein Vorstoß von Petraeus und der US-Regierung in Washington als unüberlegt und abträglich für das große Ganze empfunden. Karsai mußte es sich sogar gefallen lassen, in Lissabon von seinem amerikanischen Amtskollegen öffentlich gemaßregelt zu werden. Zwar möge sich Karsai Sorgen um die afghanische Zivilbevölkerung machen, doch er, Obama, habe Verantwortung für die US-Soldaten und -Soldatinnen, auf die in Afghanistan geschossen werde und "die sich schützen müssen".

Seit Petraeus im Juli General Stanley McChrystal als ISAF- Oberbefehlshaber abgelöst hat, gilt die Rücksichtnahme auf die afghanische Zivilbevölkerung, um deren "Herzen und Köpfe" zu erobern, nicht mehr als oberste Priorität. Die neue Leitlinie scheint "force protection" zu lauten, was übersetzt "erst schießen, dann fragen" hieße. Deshalb gehen die Zahlen der Luftangriffe, der Toten und Verletzten bei den ausländischen Soldaten, afghanischen Zivilisten und Aufständischen in die Höhe. Und während das westliche Militär behauptet, durch die neuen, lockereren Gefechtsregeln Bodengewinne zu erzielen, behaupten ihrerseits die Taliban, sie seien weiterhin auf dem Vormarsch, den Sieg gegen die NATO fest im Blick. Bei einem Interview in der Sendung "This Week" des US-Fernsehsenders ABC hat am 21. November Admiral Mullen beteuert, die NATO sei in Afghanistan auf einem guten Weg, gleichwohl prognostiziert, daß 2011 ein "sehr schweres Jahr" werden würde. Darauf kann man sich verlassen, auf alle Behauptungen bezüglich irgendeines nebulösen "Ubergangs" dagegen nicht.

22. November 2010