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ASIEN/711: Obama macht den US-Soldaten im afghanischen Bagram Mut (SB)


Obama macht den US-Soldaten im afghanischen Bagram Mut

NATO-Mission am Hindukusch unter einem schlechten Stern


Am 4. Dezember ist US-Präsident Barack Obama mit der Air Force One auf dem US-Militärstützpunkt Bagram nahe Kabul zu einem auf rund drei Stunden beschränkten Blitzbesuch eingetroffen, der unfreiwillig alle Zeichen einer Verzweiflungstat aufwies. Offiziell hieß es, Obama sei gekommen, um mit Amerikas Soldaten und Soldatinnen, die am Hindukusch ihr Leben für Freiheit und Demokratie aufs Spiel setzten, Thanksgiving zu feiern. Tatsächlich aber liegt das amerikanische Erntedankefest fast zwei Wochen zurück. Der Besuch war zudem aus "Sicherheitsgründen" unangekündigt, was erstens auf das Ausmaß, in dem in ganz Afghanistan und nicht nur im paschtunischen Süden mit Anschlägen und Überfällen der Taliban zu rechnen ist, und zweitens auf den Grad der Unterwanderung der afghanischen Armee und Polizei durch die Aufständischen hinweist. Die Tatsache, daß Obama während seines kurzen Aufenthalts in Afghanistan nicht mit Präsident Hamid Karsai, sondern lediglich mit dem ISAF-Oberkommandeur und US-General David Petraeus zusammengekommen ist, läßt sowohl auf die Unzufriedenheit Washingtons mit "ihrem Mann in Kabul" als auch auf die Unfähigkeit der NATO, trotz jahrelanger Besetzung die kurze Strecke zwischen dem Flughafen Bagram und der afghanischen Hauptstadt zu sichern, schließen.

Beim NATO-Gipfel am 19. und 20. November war im portugiesischen Lissabon beschlossen worden, Ende 2014 mit der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an die dortige Armee und Polizei zu beginnen, um parallel dazu die westlichen Truppen abziehen zu können. Bis dahin sollen die NATO-Ausbilder dafür sorgen, daß Afghanistans Soldaten und Polizisten der Herausforderung gewachsen sind. Der ambitionierte Plan bekam am 29. November jedoch einen mächtigen Dämpfer, als bei Schießübungen in der östlichen Provinz Nangarhar ein junger afghanischer Grenzpolizist namens Ezzatullah das Feuer auf die NATO-Kollegen eröffnete und sechs von ihnen tötete, bevor er selbst im Kugelhagel starb. Es gibt Vermutungen, daß die Handlung auf einen Familienstreit zurückgeht. Ihrerseits hat aber die Taliban den Anschlag für sich verbucht und behauptet, der "Märtyrer" Ezzatullah sei ein "Schläfer" der Aufständischen gewesen. So oder so handelt es sich um das sechste Mal in den vergangenen dreizehn Monaten, daß ein afghanischer Soldat oder Polizist die Waffe gegen seine westlichen Ausbilder richtet. Durch den Vorfall stieg die Anzahl der im November getöteten NATO-Soldaten auf 57 - was doppelt so hoch war wie im Vergleichsmonat 2009.

An den zahlreichen Meldungen über die aktuelle Lage in Afghanistan fällt eines deutlich auf. Offenbar legen die Taliban dieses Jahr keine Winterpause ein. Die Anzahl der Feuergefechte, Bombenangriffe usw. bleibt hoch. Damit steht fest, daß das erklärte Ziel Obamas und Petraeus', durch eine deutliche Aufstockung der Anzahl der US-Soldaten in Afghanistan um 30.000 Mann den Vormarsch der Taliban zum Erliegen zu bringen, nicht erreicht wurde. Ganz im Gegenteil scheint die Eskalationsstrategie von Petraeus einschließlich des verstärkten Einsatzes von der Luftwaffe zur Unterstützung der Truppen am Boden und den Spezialstreitkräften bei nächtlichen Razzien gegen mutmaßliche Taliban-Kommandeure den Krieg anzuheizen und für mehr Tote und Verletzte bei Kombattanten und Zivilisten gleichermaßen zu führen.

Viele Afghanen halten die nächtlichen Razzien der US-Spezialstreitkräfte für kontraproduktiv, weil häufig die falschen Leute verhaftet oder getötet werden. In den letzten Wochen hat Karsai durch die wiederholte Wiedergabe der Mißstimmung unter den Durchschnittsafghanen bezüglich des Vorgehens der NATO-Streitkräfte die Obama-Regierung gegen sich aufgebracht. Daß die Kritik Karsais begründet ist, zeigt ein Vorfall, der sich am 29. November in der umkämpften südafghanischen Provinz Helmand zugetragen hat. Dort haben NATO-Soldaten bei einer nächtlichen Razzia das Haus des Gouverneurs des Bezirks Gireshk, Hadschi Ebrahim, gestürmt, diesen getötet und gleich die Erschießung eines "Militanten" gemeldet. Inzwischen hat Karsai eine Untersuchung angeordnet, wie es zu der traurigen Verwechslung kommen konnte.

In einem Artikel, der am 3. November bei der britischen Tageszeitung Independent unter der Überschrift "US troops take hard line to tame rebels of Sangin" erschienen ist, berichtete der Korrespondent Julius Cavendish von der ganzen Vergeblichkeit des Petraeusschen Ansatzes. Sangin in der Provinz Helmand gilt als der umkämpfteste Bezirk in ganz Afghanistan. Dort hat vor kurzem die US-Marineinfanterie die britische Armee abgelöst, die nach Meinung des Pentagons nicht imstande war, die Taliban in ihre Schranken zu weisen. Nun tobt dort vollends der Krieg. Bei jedem Feindkontakt fordern die Marines sofort Luftunterstützung an, worauf die US-Luftwaffe die Verstecke der Taliban mit 250 Kilogramm schweren Bomben angreift. Laut Cavendish haben sich die Kommandeure der Marines in Sangin eine ganz einfache Antwort auf die Frage nach zivilen Opfern ausgedacht. Für sie hat sich jeder Afghane, der zivile Opfer beklagt, als Anhänger der Taliban entpuppt. Trotz ihrer betont "robusten" Vorgehensweise haben die Marines wenige Erfolge aufzuweisen. Allein in ihrem ersten Monat in Sangin hatten sie so viele Verluste - 15 Tote und 50 Verletzte - wie die Briten in den sechs Monaten zuvor hinnehmen müssen. Dazu kann man davon ausgehen, daß ihre Angaben über getötete oder gefangengenommene Taliban übertrieben positiv sind.

4. Dezember 2010