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ASIEN/713: NATO und die Taliban - wer hat die bessere Strategie? (SB)


NATO und die Taliban - wer hat die bessere Strategie?

Juppé sieht die NATO in der Falle, Mullah Omar die Taliban im Aufwind


Wie es sich für die NATO gehört, die sich erklärtermaßen für die mächtigste Militärallianz der Menschheitsgeschichte hält, war auf dem jüngsten Gifpeltreffen des nordatlantischen Bündnisses im portugiesischen Lissabon am 19. und 20. November kein Platz für realistische Einschätzungen der katastrophalen Lage in Afghanistan. Die versammelten Regierungchefs, Außen- und Verteidigungsminister sowie Militärs strahlten - jedenfalls nach außen hin - Zuversicht aus. Es werde keinen raschen Abzug der westlichen Streitkräfte, beginnend im kommenden Sommer - wie von US-Präsident Barack Obama ursprünglich geplant -, geben, so die Hauptbotschaft vom Treffen. Dafür einigte man sich auf Ende 2014 als Termin, an dem man mit der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan an die neue, von westlichen Ausbildern aus dem Boden gestampfte, afghanische Armee und Polizei beginnen wird. Von der im Vorfeld des Gipfels geäußerten Feststellung des neuen französischen Außenministers Alain Juppé, der Krieg in Afghanistan sei "für alle Beteiligten eine Falle", weshalb man so schnell wie möglich von dort wegkommen sollte, wollte niemand etwas wissen. Zumindest wurde sie von der einheitlichen Front, welche die höchsten Vertreter der USA und ihre Verbündeten der Öffentlichkeit präsentierten, ausgeblendet.

Doch in Sachen Afghanistan hat sich die NATO längst von einer "Wertegemeinschaft" in eine Glaubensgemeinschaft verwandelt. Die verheerenden Auswirkungen, die der verlorene Afghanistankrieg für die Sowjetunion nach sich zog, vor Augen, blendet man die Möglichkeit einer eigenen Niederlage im Kampf gegen die primitiven Stammeskrieger des Hindukuschs hartnäckig aus, während man genau durch jenes Scheu-Klappen-Verhalten das Schicksal herbeiführt, das man mit allen Mitteln zu vermeiden trachtet. Wie der Zufall es will, trat nur fünf Tage nach dem NATO-Gipfel ein historisches Datum ein, das jedoch in den westlichen Medien außer bei Jason Ditz auf Antiwar.com keine Erwähnung fand. Am 25. November erreichte die NATO-Besetzung Afghanistans neun Jahre und 50 Tage - solange wie die Sowjetarmee in den achtziger Jahren. Doch nur, weil die NATO diese Zeitspanne übertroffen hat, heißt das noch lange nicht, daß sie ein anderes Ergebnis als die einst stolze Rote Armee wird erzielen können. Im Gegenteil sprechen alle Indizien dafür, daß der Aufstand in Afghanistan nicht mehr aufzuhalten und die Zeit für eine politische Lösung unter Einbeziehung aller Kriegsparteien, Volksgruppen und Nachbarländer längst gekommen ist.

Am 6. Dezember wurde das Ergebnis einer Umfrage veröffentlicht, die im Auftrag von ARD, Washington Post, ABC News und BBC in Afghanistan durchgeführt worden war, und aus der hervorgeht, daß zwei Drittel der Afghanen eine Einbindung der Taliban in die politischen Strukturen in ihrem Lande und einen Beginn des Abzugs der westlichen Streitkräfte bis Mitte nächsten Jahres wünschen. Ein Viertel der Befragten erklärte Angriffe der Aufständischen auf die NATO-Streitkräfte zu legitimen Akten der Landesverteidigung. Am 7. Dezember erklärte der US-General Richard Mills nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters die im Februar begonnene Operation zur Eroberung der Kleinstadt Mardschah in der Provinz Helmand für "praktisch beendet". Dabei hätte sie bereits im März beendet sein sollen, um als Vorlage für die geplante Großoffensive der NATO im Sommer gegen die Taliban-Hochburg Kandahar in der gleichnamigen Provinz zu dienen.

Am selben Tag besuchte der US-Verteidigungsminister Robert Gates in Begleitung des ISAF-Oberbefehlshabers, des US-Generals David Petraeus, zwei Militärstützpunkte in den an Pakistan angrenzenden ost- bzw. südafghanischen Provinzen Kunar und Kandahar, um sich ein Bild vom Stand der Dinge dort zu machen. Wie es am 8. Dezember in der Los Angeles Times hieß, wurde Gates und Petraeus von den Kommandeuren vor Ort ein "ernüchternde Einschätzung der Lage" übermittelt. Der LAT-Korrespondent David S. Cloud zitierte Oberstleutnant J. B. Vowell, den Kommandeur des 327. Infantrieregiments des 2. Bataillons der US-Armee, dahingehend, daß er und seine Männer seit März eine "Eskalation der Kämpfe", die auf einem weit höheren Niveau als 2009 liefen, erlebten. Laut Cloud führte Vowell "die Zunahme der Gewalt in der entlegenen und kargen Provinz zum Teil auf die Anwesenheit zusätzlicher US-Soldaten zurück". Das Urteil des einfachen Offiziers an der Front bestätigt nur das, was Kritiker des Krieges von Anfang an befürchtet haben: je mehr westliche Soldaten nach Afghanistan kommen, desto mehr lehnen sich die Menschen dort gegen die ausländischen Eindringlinge auf. Die Tatsache, zum Beispiel, daß die nächtlichen Razzien der US-Spezialstreitkräfte, die Präsident Hamid Karsai und weiten Teilen der Bevölkerung ein Dorn im Auge sind, laut DPA seit 2009 um 500 Prozent zugenommen haben, dürfte zu der bei der erwähnten Umfrage deutlich gewordenen, sinkenden Akzeptanz der NATO-Präsenz am Hindukusch beigetragen haben.

Bei einer Pressekonferenz am 8. Dezember in Kabul in Anwesenheit Karsais zeigte sich der Ex-CIA-Chef Gates für solche Erkenntnisse blind und behauptete, zwar stünden noch harte Kämpfe bevor, doch letztlich sei die Kriegsstrategie der USA in Afghanistan "on track", will heißen auf dem richtigen Weg. Er werde bei der Rückkehr nach Washington Präsident Obama von den Fortschritten im Kampf gegen die Taliban unterrichten und die während seiner Reise gesammelten Eindrücke und Informationen in die große regierungsinterne Afghanistankonferenz, die noch vor Weihnachten stattfinden soll, einbringen, so der Nachfolger Donald Rumsfelds.

Ein Aspekt, den Gates, Obama, Petraeus, Außenministerin Hillary Clinton und die anderen Mitglieder des Kriegskabinetts zu besprechen haben werden, ist die drastische Zunahme der Anzahl der Bombenangriffe auf NATO-Streitkräfte in Afghanistan. Wie Spencer Ackerman am 8. Dezember im Blog Danger Room der US-Technologiezeitschrift Wired unter Verweis auf offizielle Pentagonangaben berichtete, haben die Taliban und ihre Verbündeten im November 1507 Straßenbomben gebaut und eingesetzt. Nicht alle sind rechtzeitig explodiert. Einige konnten vorher entdeckt und entschärft werden. Dennoch haben die Taliban mit dieser Zahl einen neuen Rekord aufgestellt. Nach Angaben von Ackerman bauen die Taliban immer mehr Düngemittelbomben. Die Möglichkeiten der US-Streitkräfte, die Bomben zu entdecken, werden auch immer ausgeklügelter, laufen der Entwicklung jedoch hinterher. In einer Stellungnahme, über die am 8. Dezember die pakistanische Zeitung The News International berichtete, hat der Talibanchef Mullah Mohammed Omar erklärt, es sei das Ziel seiner Organisation, der NATO "einen anstrengenden Krieg" aufzuzwingen, auf daß sie endlich kapituliere und sich zu echten Friedensverhandlungen bereit zeige. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es eher Mullah Omars Kriegsstrategie und weniger die der NATO ist, die aufgeht.

10. Dezember 2010