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ASIEN/731: Attentat auf Osama Bin Laden sorgt für Verwirrung (SB)


Attentat auf Osama Bin Laden sorgt für Verwirrung

Islamabad und Washington verwickeln sich in Widersprüche


Drei Tage, nachdem US-Präsident Barack Obama den Tod von Osama Bin Laden offiziell bekanntgegeben hat, herrscht immer noch Unklarheit darüber, wie der Gründer des Al-Kaida-"Netzwerkes" ums Leben gekommen sein soll. In den ersten Stellungnahmen hieß es seitens der Obama-Regierung, Bin Laden sei bei einem heftigen "Feuergefecht" gefallen, das infolge der Erstürmung seines Verstecks, einer schwerbewachten Villa in der Garnisonsstadt Abbottabad, rund sechzig Kilometer von Islamabad entfernt, durch eine Gruppe US Navy SEALs ausgebrochen ist. Vor der Presse erklärte am 2. Mai John Brennan, der Anti-Terror-Berater Obamas, Osama habe sich gegen die geplante Gefangennahme gewehrt und seine Frau als menschliches Schutzschild benutzt, als einige US-Elitesoldaten ihn in seinem Schlafzimmer im dritten Stock des Gebäudes aufstöberten. Daraufhin seien er und die Frau erschossen worden. Zu der Frage, ob der "Topterrorist" selbst das Feuer eröffnet hat oder bewaffnet gewesen ist, wollte Brennen keine Angaben machen.

Inzwischen heißt es aus Washington, daß es sich bei der Frau, die bei der Razzia im Kugelhagel starb, nicht um die Gattin Bin Ladens, handelte, sondern daß diese zu einer der zwei anderen Familien, die das Haus mitbewohnten, gehörte. Ebenfalls sollen die beiden Eigentümer des Hauses, Bin Ladens Kurier und dessen Bruder, Arshad und Tareq Khan, sowie sein erwachsener Sohn Hamsa getötet worden sein. Bin Ladens Frau soll nicht ums Leben gekommen sein, sondern wurde lediglich ins Bein geschossen, als sie sich zwischen den SEALs und ihre Beute schob. Am 3. Mai hat Jay Carney, der Sprecher des Weißen Hauses, offiziell eingeräumt, daß Bin Laden unbewaffnet gewesen ist, als er mit zwei Schüssen - davon mindestens einem in den Kopf - getötet wurde. Die brisante Einzelheit ließ Zweifel an der ursprünglichen Behauptung Brennans aufkommen, die an der Operation beteiligten Soldaten hätten den Befehl gehabt, Bin Laden, falls möglich, gefangenzunehmen, und nährte den Verdacht, daß es sich hier um eine sogenannte "kill mission" gehandelt habe. Diesem Eindruck entgegentretend erklärte am selben Abend in der Nachrichtensendung Newshour des Public Broadcasting System (PBS) CIA-Chef Leon Panetta, der bei der Operation den Oberbefehl innegehabt und von Langley, Virginia, aus per Satellit und Helmkamera den Ablauf der Ereignisse genau beobachtet hatte, die tödlichen Schüsse wie folgt: "Es tobte ein Feuergefecht das ganze Haus hinauf. Als sie schließlich das dritte Stockwerk erreichten und Bin Laden fanden, denke ich, daß es eine blitzartige Handlung seitens der SEALs gewesen ist."

Doch es gibt auch andere mögliche Erklärungen für die Widersprüche, in die sich Washington in den letzten 72 Stunden gerade in der Frage der genauen Todesumstände von Amerikas einstigem Volksfeind Nummer eins verwickelt. In einem am 3. Mai beim Londoner Guardian erschienenen Gastbeitrag verwies Abdel Bari Atwan, Chefredakteur der in London erscheinenden Zeitung Al-Quds Al Arabi, auf Gerüchte in den arabischen Medien, wonach Bin Laden von einem seiner Leibwächter getötet worden sein könnte, um ihm eine Gefangennahme und Zurschaustellung durch die Amerikaner, ähnlich der, die Saddam Hussein zum Ende seines Lebens über sich ergehen lassen mußte, zu ersparen.

Atwan, der bereits 1996 im Sudan ein Interview mit dem saudischen Exilanten führen konnte, erinnerte daran, daß Bin Laden sich in öffentlichen Äußerungen häufig einen Märtyertod gewünscht habe, und zitierte in diesem Zusammenhang aus einem Interview, das 2004 bei Al-Quds Al Arabi mit "Abu Jandal", dem früheren Leibwächter des Al-Kaida-Chefs, erschienen ist. Darin hatte der Jemenit, dessen eigentlicher Name Nasser Al Bahri ist, erklärt, er hätte als Bodyguard immer eine Pistole mit zwei Kugeln für den Fall gehabt, daß er seinen Anführer töten müßte, um ihn vor dem Zugriff seiner Feinde zu bewahren. Die Vermutungen Atwans hinsichtlich der Umstände des Todes Bin Ladens lassen den Verdacht aufkommen, der "Terrorchef" habe diese selbst bestimmt, womit er die Amerikaner im Moment ihres größten Erfolges ausgetrickst hätte. Ein solcher Schachzug würde eher die Unfähigkeit Washingtons, eine einheitliche Version des entscheidenden, alles überragenden Momentes der Razzia zu erzählen, erklären, als den Aufwand des Debriefings der an der Operation beteiligten Soldaten.

Tatsächlich aber scheint es die Aussage von Bin Ladens Tochter, die den Überfall überlebt hat und später im Krankenhaus pakistanischen Behördenvertretern ihre Sicht der blutigen Vorgänge auf dem Anwesen schilderte, gewesen zu sein, die Washington zu einer Kehrtwende in der Schilderung gezwungen hat. Wie der arabische Nachrichtensender Al Arabiya am 4. Mai unter Verweis auf ranghohe Mitglieder des pakistanischen Regierungsapparats berichtete, wurden zwei Frauen, eine davon die verletzte Ehefrau Bin Ladens, und sechs Kinder, darunter eine zwischen zwölf und dreizehn Jahre alte Tochter des Al-Kaida-Gründers, geborgen, als nach dem Abzug der Amerikaner sich die heimischen Sicherheitskräfte auf das Gelände begaben. Das, was Bin Ladens Tochter erlebte und bei ihrer Behandlung in einem Krankenaus in Rawalpindhi, dem Standort des Oberkommandos der pakistanischen Armee, von sich gab, deckt sich mit dem am 3. Mai in der Onlineversion der Zeitschrift National Journal erschienenen Bericht von Marc Ambinder, Yochi J. Dreazen und Aamer Madhani, wonach das Ziel der Operation von Anfang an nicht in der Gefangennahme, sondern in der Liquidierung des "Terrorchefs" bestanden habe (Ambinder war es, der bereits am 2. Mai im National Journal berichtet hatte, daß der Angriff auf das Anwesen nicht von Afghanistan, sondern vom geheimen JSOC-Stützpunkt im pakistanischen Tarbela Ghazi aus erfolgt war).

Im dem fraglichen Artikel von Al-Arabiya schreibt dessen Islamabad-Korrespondent Mushtaq Yusufzai unter Verweis auf Quellen beim pakistanischen Geheimdienst, gegenüber Ermittlern hätte Bin Ladens Tochter berichtet, "daß die US-Streitkräfte ihren Vater lebend gefangen genommen und vor Familienmitgliedern erschossen haben". Die wichtigsten Teile des Artikels Yusufkais unterscheiden sich in nicht geringem Ausmaß von der Version Leon Panettas und führender amerikanischer Zeitungen wie der Washington Post und der New York Times:

Laut Quellen wohnte Bin Laden im Erdgeschoß des Hauses und wurde dem Boden entlang zum Hubschrauber geschleift, nachdem er von den US-Kommandos erschossen worden war.

Es gibt unterschiedliche Aussagen bezüglich der zweiten Person, welche die US-Streitkräfte mit sich nahmen. Einige pakistanische Beamten behaupten, daß es einer von Bin Ladens Söhnen, der von den US-Kommandos verletzt worden war und in einen anderen Hubschrauber geworfen wurde, war; wiederum andere behaupten, er sei bei der Operation getötet worden und es sei lediglich seine Leiche gewesen, die sie mitnahmen.

(...)

Nach Informationen, die pakistanische Beamten von den in Gewahrsam genommenen Personen gewonnen haben, war zudem Osama weder bewaffnet noch haben Bewohner der Anlage das Feuer auf die Hubschrauber oder die US-Kommandos eröffnet.

"Keine einzige Kugel wurde aus der Anlage auf die US-Streitkräfte und ihre Hubschrauber abgegeben. Ihr Hubschrauber [einer von vieren - Anm. d. SB-Red.] hatte einen technischen Defekt, stürzte ab und die Trümmer wurden vor Ort zurückgelassen", erläuterte ein gutinformierter Regierungsbeamter.

In den USA dürften die widersprüchlichen Angaben über die Ereignisse in Abbottabad für die Obama-Regierung kein allzu großes Problem sein. Wie die New York Times am 4. Mai berichtete, hat die extralegale Hinrichtung Bin Ladens die Beliebtheit des amtierenden US-Präsidenten in den Umfragen deutlich steigen lassen, während die Verkündung des Endes von Amerikas Erzfeind bei einer Rede zur Nation in der Nacht vom 1. Mai Obama die höchste Einschaltquote - 56,5 Millionen Zuschauer - seit dem Einzug ins Weiße Haus vor mehr als zwei Jahren beschert.

4. Mai 2011