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ASIEN/756: Das vergessene Opfer der Raymond-Davis-Affäre (SB)


Das vergessene Opfer der Raymond-Davis-Affäre

Im Antiterrorkrieg können auch Zivilisten ungestraft getötet werden


Am 27. Januar jährte sich zum ersten Mal jener Vorfall, der in Pakistan und darüber hinaus als Ausgangspunkt der Affäre um Raymond Davis gilt. Aus bis heute ungeklärten Gründen war Davis, ein ehemaliges Mitglied der US-Spezialstreitkräfte und mutmaßlicher privater Auftragsarbeiter der CIA, am fraglichen Tag an einer Straßenkreuzung im Zentrum der Millionenstadt Lahore aus seinem Auto gestiegen und hatte zwei junge Männer, Faizan Haidar und Muhammed Fahim, die auf einem Motorrad vor einer Verkehrsampel warteten, erschossen. Die ungewöhnliche Aktion hat die Beziehungen zwischen Pakistan und den USA in eine schwere Krise gestürzt, die immer noch nicht überwunden ist. In Pakistan sind viele Menschen über die Art und Weise empört, wie sich Islamabad und Washington der Affäre entledigt haben - allen voran die Familie eines dritten Opfers des Vorfalls, Obaidur Rehman.

Unmittelbar nachdem er Haidar und Fahim umgebracht hatte, rief Davis beim US-Konsulat von Lahore an und bat um Unterstützung. Offenbar sollten ihm die Kollegen in der schwierigen Situation helfen und ihn eventuell vor der Verhaftung bewahren. Der Versuch mißlang, denn die Polizei war früher am Tatort. Auf dem Weg dahin bzw. wieder zurück fuhr das Fahrzeug des Konsulats derart rücksichtslos, daß der unbeteiligten Fahrradfahrer Rehman bei einer Kollision tödlich verletzt wurde. Der Wagen hielt jedoch nicht an. Vielmehr entfernten sich Fahrer und Beifahrer, beide Augenzeuge des Ereignisses, mit ihrem Fahrzeug rasch vom Unfallort. Sie haben sich auch später nicht der Polizei zur Verfügung gestellt, sondern sollen sich Presseberichten zufolge in das nächste Flugzeug gesetzt und so schnell wie möglich aus dem Wirkungsbereich der pakistanischen Justizbehörden entfernt haben.

In Pakistan, wo seit Jahren Millionen von Menschen die CIA-Drohnenangriffe im Grenzgebiet zu Afghanistan als illegale Kriegshandlung gegen die eigenen Mitbürger empfinden, löste der Vorgang eine riesige Welle der Empörung aus. Die pakistanischen Behörden standen aber gleichzeitig unter enormen Druck, Davis laufen zu lassen, nachdem US-Präsident Barack Obama und dessen Außenministerin Hillary Clinton öffentlich behauptet hatten, der private Sicherheitsdienstleister genösse diplomatische Immunität. Wohl ahnend, daß Davis für seine Tat niemals ernsthaft zur Rechenschaft gezogen würde, hat sich am 6. Februar Shumaila Kanwal, die achtzehnjährige Witwe Fahims, durch Vergiftung demonstrativ das Leben genommen. Nichtsdestotrotz wurde Davis am 16. März nach einer kursorischen Behandlung seines Falls durch das Strafgericht in Lahore freigelassen und von den US-Behörden sofort aus Pakistan ausgeflogen. Zuvor hatten die Familien der beiden Davis-Opfer Fahim und Haidar die Entschuldigung Washingtons und ein "Blutgeld" in Höhe von jeweils 700.000 Dollar akzeptiert. Damit war die Sache juristisch bereinigt.

Wie die pakistanische Zeitung Daily Express am 26. Januar berichtete, hat die Familie des getöteten Fahrradfahrers Rehman keinerlei Gerechtigkeit erfahren. Die Identität des Fahrers des US-Konsulatswagens, der sich nicht nur wegen Totschlags, sondern auch Fahrerflucht verantworten müßte, wird bis heute geheimgehalten. Dessen Taten werden von den US-Behörden gedeckt. Das Konsulat in Lahore hat sich seiner Verantwortung nicht gestellt. Darum hat die Familie Rehman auch keine Entschädigung erhalten. Jemand hat das Leben ihres Sohnes bzw. Bruders einfach ausgelöscht, und niemand fühlt sich zuständig.

Gegenüber dem Daily Express zeigte sich Sajjadur Rehman, der wegen des Todes seines Bruders noch eine Klage am High Court von Lahore gegen die beiden Insassen des Konsulatswagens laufen hat, über die Aufarbeitung des Falls tief enttäuscht. Auf seine Briefe hätte weder die Regierung der Provinz Punjab noch die Bundesregierung in Islamabad reagiert. Dies verwundert wenig, denn laut Sajjadur Rehman hat mindestens ein ranghohes Mitglied der pakistanischen Regierung den beiden Amerikanern zur Flucht verholfen. Rehman warf der Führung der Pakistan Muslim League-Nawaz (PML-N) und der Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) vor, die sich auf Bundesebene in Opposition zur regierenden Pakistan People's Party (PPP) befinden, den Tod seines Bruders für die eigenen politischen Zwecke benutzt, jedoch nach nur wenigen Monaten jegliches Interesse an der Geschichte verloren zu haben. Er bezeichnete den PTI-Vorsitzenden und ehemaligen Cricket-Star Imran Khan, der sich in letzter Zeit wegen seiner begründeten Kritik am US-Antiterrorkrieg und der Korruption in Pakistan bei den Wählern wachsenden Zuspruchs erfreut, als "Blender". Dieser Tage finden in Lahore mehrere Veranstaltungen zum Gedenken an die Opfer und als Protest gegen den Ausgang der Raymond-Davis-Affäre statt. Leider sind die einzigen, die heute immer noch eine Klärung des Sachverhalts fordern, die Vertreter der "radikalen" Jamaat-e-Islami.

Interessanterweise machte der Daily Express in seinem Bericht bekannt, daß die Schwiegermutter Fahims ebenfalls eine Klage gegen Raymond Davis eingereicht hat. Die Mutter Shumaila Kanwals erklärt, sie habe der Freilassung von Davis nicht zugestimmt, weshalb die entsprechende Anordnung des Gerichts nicht rechtens gewesen sei. Man kann davon ausgehen, daß die Rehman-Familie und jene bemitleidenswerte Frau, die innerhalb weniger Tage den Schwiegersohn und die Tochter verloren hat, niemals zu ihrem Recht kommen werden. Wo die USA George W. Bushs und Barack Obamas für sich in Anspruch nehmen, mutmaßliche "Terroristen" unter anderem durch Raketenangriffe, die per Drohne durchgeführt werden, umbringen zu dürfen, ist der Tod unschuldiger Zivilisten - insbesondere dann, wann es sich um arme Schlucker in der Dritten Welt handelt -, längst einkalkuliert.

28. Januar 2012