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ASIEN/758: Massaker bei Kandahar ein Racheakt des US-Militärs? (SB)


Massaker bei Kandahar ein Racheakt des US-Militärs?

Associated Press berichtet von Drohungen im Vorfeld der Bluttat


Über die genauen Umstände des Massakers, bei dem in den frühen Morgenstunden des 11. März in der südafghanischen Provinz Kandahar 16 Dorfbewohner - neun Kinder, drei Frauen und vier Männer [1] - ums Leben kamen, herrscht Unklarheit, denn es existieren zwei Versionen. Das US-Militär vertritt die Einzeltätertheorie. Demnach hat sich der 38jährige US-Stabsfeldwebel Robert Bales in der fraglichen Nacht aus seinem Stützpunkt im Bezirk Pandschwai herausgeschlichen, die Morde begangen und sich bei der Rückkehr zur Basis rund eine Stunde später gestellt. Eine Bestätigung für diese Theorie durch den Täter, der sich inzwischen in einem Militärgefängnis auf dem Gelände von Fort Leavenworth in Kansas befindet, fehlt. Nach Angaben von Bales' Anwalt John Henry Browne, der am 18. und 19. März in Fort Leavenworth die ersten Gespräche mit seinem Mandanten führte, kann sich der mutmaßliche Mehrfachmörder an die gräßliche Tat nicht mehr erinnern. Zwischen dem Verlassen des Stützpunktes und der Rückkehr gebe es in seinem Gedächtnis eine Lücke, so Browne.

Dem Strafverteidiger sind nach eigenem Bekunden bisher keine Beweise vorgelegt worden, welche die Richtigkeit der gegen seinen Mandanten erhobenen Vorwürfe bestätigten. Er hat sich deshalb auf den Weg nach Afghanistan gemacht. Dort glaubt niemand, daß Bales das Massaker allein verübt hat. Nach Gesprächen mit Überlebenden und Einwohnern des Bezirks Pandschwai gehen Präsident Hamid Karsai, die Mitglieder einer vom Parlament eingesetzten Untersuchungskommission und mit ihnen praktisch das gesamte Volk davon aus, daß insgesamt 15 bis 20 betrunkene US-Soldaten an dem Verbrechen beteiligt waren und eventuell zwei der Frauen vor ihrer Ermordung vergewaltigt haben. Sie sehen in Bales einen Sündenbock, um so die Angelegenheit zu vertuschen und die Ehre der US-Streitkräfte zu retten.

Für die Vermutung der Afghanen, daß mehr als eine Person an den Morden beteiligt war, spricht die Tatsache, daß diese in zwei getrennten Dörfern, Balandi und Alkozai, verübt wurden, die 500 Meter bzw. einen Kilometer vom US-Stützpunkt Camp Belamby entfernt liegen. Darüber hinaus wurden die Bewohner in dem Haus in Balandi in vier verschiedenen Zimmern erschossen, anschließend in einem Zimmer zusammengelegt, mit Brennflüssigkeit übergossen und in Brand gesetzt. Diese letzte Maßnahme könnte eventuell dazu gedient haben, Vergewaltigungsspuren zu vernichten. Man erinnert sich an die Ermordung der 14jährigen Abeer Kassim Al Janabi am 12. März 2006 in Mahmudiya, 20 Kilometer südlich von Bagdad. Al Janabi wurde in ihrem eigenen Zuhause von fünf US-Soldaten überfallen und vergewaltigt. Anschließend wurde sie erschossen und ihre Leiche angezündet. Um Augenzeugen zu beseitigen, wurden ihr Vater, ihre Mutter und ihre sechs Jahre alte Schwester ebenfalls erschossen.

Ein Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press vom 20. März lieferte brisante Informationen, welche die Vermutung, hier sei kein Einzeltäter, sondern eine Mordbande am Werk gewesen, erhärtet. Mehrere männliche Dorfbewohner aus dem Bezirk, wo das Massaker geschah, haben den Mitgliedern der Untersuchungskommission des afghanischen Parlaments und Reportern von Associated Press gegenüber erklärt, daß sie entweder am 7. oder 8. März von aufgebrachten US-Soldaten an eine Wand gestellt und massiv bedroht wurden. Anlaß war die Explosion einer Straßenmine am fraglichen Tag, die einen Panzer der US-Streitkräfte zerstört und seine Insassen lebensgefährlich verletzt hatte. Die Explosion soll sich in der Nähe des Dorfes Mokhoyan ereignet haben, das 500 Meter östlich von Camp Belamby liegt. Im AP-Bericht wird Ahmad Shah Khan aus Mokhoyan dahingehend zitiert, daß nach dem Anschlag auf den Panzer einige US-Soldaten, die von Angehörigen der afghanischen Armee begleitet wurden, im Dorf auftauchten und alle Männer zwangen, sich vor einer Wand aufzureihen. "Es sah aus, als würden sie uns erschießen, und ich hatte große Angst. Dann hat ein NATO-Soldat durch seinen Dolmetscher erklärt, daß sogar unsere Kinder dafür bezahlen würden. Nun haben sie es getan und sich gerächt."

Seit Bekanntwerden des sogenannten Massakers von Alkozai ist dieser von kritischen Kommentatoren in seiner Bedeutung für Afghanistan mit den Ereignissen des Dorfes My Lai im Vietnamkrieg verglichen worden. Ganz abwegig ist der Vergleich nicht. In My Lai haben 1968 26 US- Soldaten in einer stundenlangen Blutorgie 504 Zivilisten umgebracht. Sie hatten dazu den Befehl ihrer Vorgesetzten, die in den Dorfbewohnern Sympathisanten des Vietkongs vermuteten (Die Region um Camp Belamby gilt als Taliban-Hochburg). Als Journalist Seymour Hersh ein Jahr später den gruseligen Fall publik machte, war die US-Öffentlichkeit natürlich geschockt. Doch am Ende hat man das Ereignis zum Betriebsunfall erklärt und Leutnant William Calley zum Sündenbock für My Lai gemacht.

Fußnote:

1: Qais Azimy hat auf seinem Blog auf der Website bei Al Jazeera [http://blogs.aljazeera.com/asia/2012/03/19/no-one-asked-their-names] die Opfer des Massakers namentlich identifiziert:

Mohamed Dawood, Sohn des Abdullah
Khudaydad, Sohn des Mohamed Juma
Nazar Mohamed
Payendo
Robeena
Shatarina, Tochter von Sultan Mohamed
Zahra, Tochter von Abdul Hamid
Nazia, Tochter von Dost Mohamed
Masooma, Tochter von Mohamed Wazir
Farida, Tochter von Mohamed Wazir
Palwasha, Tochter von Mohamed Wazir
Nabia, Tochter von Mohamed Wazir
Esmatullah, Tochter von Mohamed Wazir
Faizullah, Sohn des Mohamed Wazir
Essa Mohamed, Sohn des Mohamed Hussain
Akhtar Mohamed, Sohn des Murrad Ali

21. März 2012